Die Hebammenausbildung an der Marburger Entbindungsanstalt um 1880 und der praktische Arbeitsalltag dort ausgebildeter Hebammen

In der vorliegenden Studie wurde versucht, die Hebammenausbildung in Marburg um 1880, ausgehend vom Schreibheft der Agnes Dörr, darzustellen. Die Quelle versprach einen Erkenntnisgewinn über die Unterrichtsgestaltung an der Marburger Hebammen-lehranstalt, worüber bislang noch keine ortsspezifische r...

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Main Author: Rohrbach, Katharina Angelika
Contributors: Sahmland, Irmtraut (Prof. Dr.) (Thesis advisor)
Format: Doctoral Thesis
Language:German
Published: Philipps-Universität Marburg 2022
Subjects:
Online Access:PDF Full Text
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Description
Summary:In der vorliegenden Studie wurde versucht, die Hebammenausbildung in Marburg um 1880, ausgehend vom Schreibheft der Agnes Dörr, darzustellen. Die Quelle versprach einen Erkenntnisgewinn über die Unterrichtsgestaltung an der Marburger Hebammen-lehranstalt, worüber bislang noch keine ortsspezifische regional-geschichtliche Studie erfolgte. Ferner erlaubten die Recherchen zur Person der Agnes Dörr sowie zu den in der Quelle aufgeführten Mitschülerinnen einen Einblick in das Sozialkollektiv der hier ausgebildeten Hebammen. Der praktische Arbeitsalltag der Hebammen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, deren finanzielle Lage sowie berufliche Perspektiven wurden erörtert, auch unter dem Aspekt der zunehmenden Akademisierung und Professionalisierung des Berufsfeldes. Schwierigkeiten ergaben sich aufgrund der Quellen- und Datenlage, die sich als dürftiger als im Vorfeld erwartet herausstellten. Deshalb entfernen sich in der Arbeit angeführte Beispiele teils räumlich oder zeitlich vom zunächst festgesetzten Rahmen. Ausgangspunkt bildete das Schreibheft der Agnes Dörr, welche im Jahr 1880 einen Kurs an der Marburger Hebammenlehranstalt absolvierte. Sie verwendete es als Notizheft im Unterricht, welcher auf Grundlage von Litzmanns „Lehrbuch der Geburtshülfe für die preußischen Hebammen“ gehalten wurde. Frau Dörr war zum Zeitpunkt der Ausbildung 28 Jahre alt, verwitwet und hatte eine dreijährige Tochter. Sie stammte aus dem katholischen Rüdigheim, Kreis Kirchhain, und empfand, wenn man das Gebet zu Beginn des Notizbuchs so interpretieren möchte, das evangelische Marburg als entfernte Fremde. Die Rechtschreibfehler und die mangelnde Zeichensetzung im Notizheft lassen darauf schließen, dass Agnes Dörr am ehesten eine grundlegende allgemeine Schul-bildung, jedoch keine höhere Ausbildung genossen hat. Sie war als Witwe eines Steinhauers und Tochter eines Schmieds im dörflichen Umfeld wahrscheinlich akzeptiert und integriert, ohne eine herausragende soziale Stellung eingenommen zu haben. Sie arbeitete nach erfolgreicher Absolvierung des Lehrkurses als Bezirkshebamme in Rüdigheim, bezog jedoch nur ein sehr geringes Fixgehalt von der Gemeinde und auch die Einnahmen durch die betreuten Geburten waren, bei geringer Anzahl derselben, nur niedrig. Ob sie zusätzlich durch eine andere Nebenbeschäftigung für ihren Lebens-unterhalt sorgte, bleibt unklar. Prägend für den Unterricht an der Marburger Lehranstalt war zum Zeitpunkt der Ausbildung Agnes Dörrs naturgemäß der Direktor der Anstalt, Prof. Dohrn. Dieser hatte den Ruf, ein großer Freund und Unterstützer der Hebammen zu sein und die Geburtshilfe als sein hauptsächliches Forschungs- und Interessensgebiet angesehen zu haben. Es wurde jedoch auch aufgezeigt, dass er, wie die Mehrzahl der ärztlichen Kollegen der Zeit, nicht mit Kritik vor allem an der Vorbildung und Bildungsfähigkeit der Hebammen sparte. Die Zusammenarbeit von Ärzten und Hebammen zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde skizziert. Ärzte waren auf die Zusammenarbeit mit Hebammen angewiesen, betreuten diese doch den überwiegenden Anteil der Geburten alleine und waren für das Hinzuziehen des Arztes verantwortlich. Gleichzeitig wurde die Fach-kompetenz der Hebammen über Jahrzehnte heftig angezweifelt. Eine vollumfassende Darstellung dieses Themas, auch im Hinblick auf das Frauenstudium, konnte im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden. Prof. Dohrn war auch maßgeblich in den Neubau der Marburger Entbindungs- und Hebammenlehranstalt von 1863 bis 1868 einge-bunden. Das alte Gebäude galt als vollkommen ungeeignet für die moderne Geburtshilfe, es kam dort häufig zu Ausbrüchen von Kindbettfieber. Der Neubau mit kleineren Krankenzimmern statt großen Sälen wurde, auch nach Durchsetzung der Überzeugung, die Übertragung von Bakterien bei Kontakt sei Ursache von Infektions-krankheiten, als nützlich erachtet. Von offizieller Seite galten in Preußen strenge Richtlinien für die Zulassung von Schüler-innen für die Lehrkurse, welche sich vor allem auf Alter, körperliche und geistige Befähigung und sittliche Eignung erstreckten. Die Dauer der Kurse war an den verschiedenen Lehranstalten nicht einheitlich, 1880 betrug sie in Marburg sechs Monate. Am Ende der Ausbildung stand eine Prüfung über die theoretischen und praktischen Aspekte des Hebammenberufs und die Vereidigung. Bei der Nachverfolgung der Berufsbiografien der Mitschülerinnen von Agnes Dörr ergaben sich Schwierigkeiten auf dem Feld der Alltagsgeschichtsforschung. Es konnten kaum persönliche Dokumente wie Hebammentagebücher gefunden werden, da diese zumeist im persönlichen Besitz der Hebammen verblieben und so wahrscheinlich schlicht nicht archiviert wurden. Deshalb konnte über die Dauer der Tätigkeit nur vereinzelt eine Aussage getroffen werden. Diejenigen, bei denen dies möglich war, arbeiteten bis zu ihrem Tod oder bis kurz zuvor als Bezirkshebammen. Gerade die Arbeit der frei praktizierenden Hebammen konnte in der vorliegenden Studie leider nicht weitreichend analysiert werden, auch hier fehlte das Material. Anhand der offiziellen preußischen Statistik konnte jedoch belegt werden, dass die Ausbildung auf eigene Kosten und anschließende Tätigkeit als frei praktizierende Hebamme im ausgehenden 19. Jahrhundert keinesfalls eine Ausnahme darstellte. Hinsichtlich der Zusammensetzung bezüglich Alter, Familienstand und sozialem Hintergrund entsprach das Kollektiv der Marburger Hebammenschülerinnen dem anderer preußischer Orte aus vergleichbarer Zeit. Der Großteil der Schülerinnen lebte im ländlichen hessischen Raum, war unter 30 Jahre alt und entstammte dem handwerklich-landwirtschaftlich geprägten sozialen Milieu. Hinweise, dass in Marburg vermehrt Frauen aus höheren sozialen Schichten oder mit höherem Bildungsabschluss ausgebildet wurden, ergaben sich keine. Bei vielen Hebammen konnte belegt werden, dass sie entweder zum Zeitpunkt des Lehrkurses bereits Ehefrauen und teils auch Mütter waren oder dies im Verlauf des Berufslebens wurden. Genaue Nachweise über die praktische Umsetzbarkeit der Rolle als Familienmütter und der Tätigkeit als Hebammen wurden nicht gefunden und dies wurde bemerkenswerterweise auch in der „Allgemeinen Deutschen Hebammen-Zeitung“ nicht eingehend thematisiert. Die wirtschaftliche Lage der Hebammen, vor allem auf dem Land, war im untersuchten Zeitraum dürftig, lediglich in Ausnahmen betreuten die Hebammen so viele Geburten, dass für ein ausreichendes Einkommen gesorgt war. Die fixen Einkommen, die die Gemeinden an ihre angestellten Bezirkshebammen zahlten, waren häufig sehr niedrig. Faire, den offiziellen Empfehlungen entsprechende Anstellungsverträge blieben die Ausnahme. Durch die „Allgemeine Deutsche Hebammen-Zeitung“ konnte Einblick gewonnen werden in Herausforderungen des Arbeitsalltags sowie in berufspolitische Diskussionen der Zeit. Dies muss jedoch vor dem Hintergrund interpretiert werden, dass die Hebammenzeitung unter ärztlicher Leitung stand, sie also letztlich kein vollständig unabhängiges Medium für die Hebammen darstellte. Die Berufsorganisation der Hebammen in Vereinen fand zunächst vor allem im städtischen Umfeld statt. Hier haben sicher die einfachere Anreise zu den Vereinstreffen und geringere Entfernungen eine Rolle gespielt, sowie möglicherweise auch der Fakt, dass sozial höher gestellte, besser vorgebildete Hebammen tendenziell wegen der besseren Verdienstaussichten ihre Praxis vorrangig in Städten betrieben und hier gegebenenfalls führende Rollen bei Vereinsgründungen und Gestaltung des Vereinslebens übernahmen, wovor sich manche Landhebamme möglicherweise gescheut haben könnte. Die Arbeit der Hebammen war von offizieller Seite durch Instruktionen reglementiert, der zuständige Kreisphysikus war ihr direkter Vorgesetzter. Durch regelmäßige Nach-prüfungen wurde versucht, die Hebammen zur fachlichen Fort- und Weiterbildung anzuhalten. Diese wurden in Hessen zumindest in den betreffenden Kreisen, in denen die Datenlage eine Aussage erlaubt, regelmäßig durchgeführt. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ergaben sich durch die Vorschriften des antiseptischen Arbeitens weitreichende Veränderungen im praktischen Arbeitsalltag. Die Hebammen gelangten durch die zunehmende Bedeutung der Antiseptik in weitere Abhängigkeit von der Wissensweitergabe durch Ärzte, was die Hierarchisierung der Beteiligten verfestigte und eine Facette in der Professionalisierung des Hebammenberufs darstellte.
Physical Description:211 Pages
DOI:10.17192/z2023.0155