Neue Versorgungsstrukturen erproben: Ein ambulanter, interdisziplinärer Behandlungspfad für Patienten mit koronarer Herzkrankheit - Entwicklung und Evaluation im Mixed-Methods-Design

i. Hintergrund: Leitlinien haben zum Ziel, die Versorgung von Patientinnen und Patienten zu verbessern. In Deutschland sind sie jedoch unzureichend in die Praxis implementiert. Eine weiter Herausforderung stellt die schwache Steuerungsfunktion von Hausärztinnen und Hausärzten (HÄ) dar. Am Beispiel...

Ausführliche Beschreibung

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Bibliographische Detailangaben
1. Verfasser: Schlößler, Kathrin
Beteiligte: Donner-Banzhoff, Norbert (Prof. Dr.) (BetreuerIn (Doktorarbeit))
Format: Dissertation
Sprache:Deutsch
Veröffentlicht: Philipps-Universität Marburg 2022
Schlagworte:
Online Zugang:PDF-Volltext
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Beschreibung
Zusammenfassung:i. Hintergrund: Leitlinien haben zum Ziel, die Versorgung von Patientinnen und Patienten zu verbessern. In Deutschland sind sie jedoch unzureichend in die Praxis implementiert. Eine weiter Herausforderung stellt die schwache Steuerungsfunktion von Hausärztinnen und Hausärzten (HÄ) dar. Am Beispiel einer häufigen und relevanten Erkrankung, der koronaren Herzkrankheit (KHK), er-probten wir die Entwicklung eines Behandlungspfades als Implementierungswerkzeug für Leitlinien. Behandlungspfade standardisieren die Versorgung einer Zielerkrankung und definieren Aufgaben und Zuständigkeiten. Solche komplexen Interventionen sollen in Pilot-Studien untersucht werden. Unsere Forschungsfragen waren: Ist eine gemeinsame Entwicklung von Behandlungspfaden mach-bar (feasable)? Wird der Behandlungspfad implementiert und warum (nicht)? ii. Methodik: Kardiologinnen und Kardiologen (Ka) und HÄ der Region Marburg entwickelten in moderierten Gruppendiskussionen gemeinsam einen Behandlungspfad zur medikamentösen Therapie, Konsulta-tionen und Dokumentation von Patienten mit KHK. In der sich anschließenden Pilotstudie unterschieden wir zwischen einer Kontrollgruppe mit her-kömmlicher Therapie und zwei Interventionsgruppen: „Pfad-Entwickler“ und „Pfad-Anwender“ (er-hielten eine Pfad-Schulung). Je Studienarm sollten sechs Hausärzte 150 Patienten rekrutieren. Wir befragten diese zum Studienbeginn (T0) sowie nach sechs (T1) und zwölf (T2; Interventions-) bzw. neun Monaten (T1, Kontrollgruppe; Annahme: keine Änderung). Wir untersuchten die Machbarkeit einer randomisiert-kontrollierten (Haupt-)Studie (RCT) durch Fallzahlplanung, Analyse der Instrumente und explorative Gruppenvergleiche (MANOVA) der pati-entenrelevanten Zielkriterien Lebensqualität (EQ-5D-Index, VAS) und Behandlungszufriedenheit (modifizierter PACIC). Zusätzlich erfassten wir Qualitätsindikatoren der ärztlichen Pfad-Umsetzung anhand von Case-Report-Forms und Patientenbefragung. Durch Identifikation mit dem Pfad und den Entwicklern gingen wir von einer positive Einstellung, subjektive Norm und erwartete Verhaltenskontrolle in den Interventionsgruppen aus („Theorie des geplanten Verhaltens“ TpB). In teilstrukturierten Interviews mit Entwicklern und Anwendern un-tersuchten wir, was zum (Nicht-)Gelingen des Pfades beigetragen hat und triangulierten diese qua-litativen Daten mit den Qualitätsindikatoren der Umsetzung. In vergleichenden Fallanalysen identi-fizierten wir Implementierungsfaktoren und ordneten sie zu einem ökosystemischen Modell an. iii. Ergebnisse: An der Pfad-Entwicklung nahmen neun HÄ und vier Ka teil; ein HA schied vor der Pilotstudie aus. Wir führten Interviews mit den verbliebenen Entwicklern und Ka, sowie vier der sechs Anwender. In der Pilotstudie rekrutierten 17 Praxen 334 Patienten. Zu T1 waren 290 Datensätze vollständig. Der entwickelte Behandlungspfad beinhaltete eine klare Aufgabenverteilung zwischen den Arztgrup-pen und umfasste empfohlene Medikamente und Untersuchungen. Für die Dokumentation wurde ein Patientenpass entwickelt. Sowohl Ärzte als auch Patienten waren zufrieden mit dem Pfad. Jedoch waren etwa 25% der Patienten weniger gut/schlecht über den Pfad informiert. Die Ärzte kritisierten den Aufwand der Entwicklung, schätzten aber den konstruktiven gemeinsamen Austausch. In der Pilotstudie wiesen die Patienten der Entwickler-Gruppe zu allen Erhebungszeitpunkten die beste Lebensqualität auf. Die Fallzahlplanung basierte auf dem EQ-5D-Index und ergab für eine RCT 268 Patienten und einen Inflationsfaktor von vier für eine Cluster-RCT. Bei den eingesetzten Instrumenten zur Zufriedenheit lagen Deckeneffekte vor und einige Items er-wiesen sich als problematisch. In den Qualitätsindikatoren der Implementierung beobachteten wir im Einklang mit den Pfad-Emp-fehlungen eine Zunahme von hausärztlichen- und eine Abnahme von kardiologischen Terminen in den Interventionsgruppen. Hingegen erhielten nur weniger als 20% der Patienten den entwickelten Pass, anhand dessen die Kardiologen die Studienpatienten identifizieren sollten. Das stellte eine Schlüsselbarriere der Studie dar. Gemäß der Theorie des geplanten Verhaltens ging eine positive Einstellung mit einer guten- sowie eine negative Einstellung mit einer schlechten Wahrnehmung der eigenen Umsetzung einher. Ab-weichungen konnten durch die erwartete Verhaltenskontrolle und Barrieren erklärt werden. Entge-gen unserer Annahme, die „Identifikation“ würde die Pfad-Umsetzung begünstigen, berichteten die Pfad-Entwickler „nichts ändern zu müssen“, da ihr Verhalten automatisch in den Pfad eingeflossen sei und diesem daher entspreche („Identifikationsfalle“). Wir ordneten weitere Barrieren und fördernde Faktoren in Bezug auf die Nähe zum Individuum und der Intervention an (ökosystemisch) und ergänzten eine Zeitebene der Verhaltensänderung zu einem Mehr-Ebenen Modell der Implementierung. iv. Diskussion: Die Entwicklung eines ambulanten Behandlungspfades von Hausärzten und Kardiologen ist mög-lich. Alle Zielgruppen waren zufrieden mit dem Ergebnis. Jedoch führte die gemeinsame Entwick-lung nicht automatisch zu einer besseren Umsetzung der Pfad- bzw. Leitlinienempfehlungen. Be-handlungspfade adressieren die regionale und interaktionale Ebene. Implementierungsfaktoren be-standen jedoch auf vielfältigen Ebenen. Unser Mehr-Ebenen-Modell kann helfen, veränderbare Fak-toren systematisch zu analysieren und somit die Machbarkeit von Behandlungspfaden retrospektiv zu untersuchen oder deren Umsetzung prospektiv zu planen. Diese Pilotstudie hat konkrete Implikationen für Folgestudien. Solche Effektivitäts-Studien sind in-sofern wünschenswert, als dass der Stellenwert von Behandlungspfaden in dem wachsende For-schungsfeld der Implementierungswerkzeuge für Leitlinien weiterhin unklar ist.
Umfang:316 Seiten
DOI:10.17192/z2022.0280