„Alles dreht sich um. Dein ganzes Leben.“ Über das Gelingen von Aufklärungsgesprächen in der Onkologie – eine qualitative Untersuchung von Patientenperspektiven
Hintergrund Die Erforschung von Krebserkrankungen und ihrer Behandlungsmöglichkeiten ist ein Hauptfokus medizinischer Forschung. Dabei finden in den letzten Jahren die Lebensqualität der Betroffenen und Fragen der Kommunikation mit ihnen zunehmende Aufmerksamkeit. Patient*innen haben ethisch und ju...
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Contributors: | |
Format: | Doctoral Thesis |
Language: | German |
Published: |
Philipps-Universität Marburg
2021
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Subjects: | |
Online Access: | PDF Full Text |
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Summary: | Hintergrund
Die Erforschung von Krebserkrankungen und ihrer Behandlungsmöglichkeiten ist ein Hauptfokus medizinischer Forschung. Dabei finden in den letzten Jahren die Lebensqualität der Betroffenen und Fragen der Kommunikation mit ihnen zunehmende Aufmerksamkeit. Patient*innen haben ethisch und juristisch das Recht, ihre Diagnose, die mögliche Krankheitsentwicklung und die therapeutischen Optionen in verständlicher Weise mitgeteilt zu bekommen. Wie solche Gespräche genau ausgestaltet werden sollten, ist dabei nicht eindeutig festgelegt. Bisher entwickelte Leitfäden bzw. Protokolle, wie das SPIKES-Protokoll, wurden weitgehend ohne Einbeziehung von Patient*innen entwickelt. Quantitative Studien mit Krebspatient*innen in diesem Feld beschränken sich oftmals auf die Untersuchung von expertengenerierten Patientenpräferenzen und stellen dabei fest, dass diese in der Realität nur unzureichend beachtet werden.
Forschungsfrage und Methodik
Die vorliegende Arbeit widmet sich explizit der Perspektive von Krebspatient*innen auf Diagnose-Aufklärungsgespräche. Die Exploration kontextsensitiver Zielkriterien ist in diesem Zusammenhang komplex, da sich das Überbringen schlechter - mitunter existenziell bedrohlicher - Nachrichten, den meisten positiv konnotierten Endpunkten sowie der Frage nach der Zufriedenheit entzieht. Es wurden deshalb Einflussfaktoren und Ziele für das „Gelingen“ von Aufklärungsgesprächen mithilfe eines qualitativen Forschungsansatzes untersucht. Es wurden zwölf leitfadengestützte semistrukturierte Interviews mit Krebspatient*innen geführt, transkribiert und in einem dreistufigen Prozess in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet. Aus den so gewonnenen Daten wurde in einem weiteren interpretativen Schritt ein Modell entwickelt.
Ergebnisse
Das Modell der gelungenen Aufklärung umfasst in den drei Dimensionen Strukturelemente, Einflussfaktoren und Bedürfnisse die Komplexität, welcher Aufklärungsgespräche aus Sicht der Betroffenen unterliegen. Die Ergebnisse zeigen, dass eine gelungene Aufklärung sich am ehesten in der kontextsensitiven Erfüllung der individuellen Hauptbedürfnisse Fühlen und Verstehen konstituiert. Verstehen subsummiert dabei den Wunsch der Interviewten, die schwer fassbaren Informationen zur Erkrankung, der Prognose und der Therapie vor dem Hintergrund der eigenen Lebenssituation nicht nur zu kennen, sondern umfänglich begreifen und einordnen zu
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können. Fühlen umfasst mehrere emotionale Bedürfnisse, unter anderem das Bedürfnis, Sicherheit zurückzugewinnen, sich auf dem Weg der Erkrankung und Therapie begleitet zu fühlen und den Wunsch nach einer hoffnungsvollen aber ehrlichen Kommunikation.
Individualität, Prozesshaftigkeit, Fakten und Schock sind dabei die Strukturelemente einer Aufklärung, die durch die Aufklärenden schwierig(er) zu beeinflussen sind. Aufklärung sollte aus Sicht der Betroffenen als individueller Prozess verstanden werden und weniger als „einzelnes Aufklärungsgespräch“. Es zeigt sich, dass die Fakten, die im Aufklärungsprozess überbracht werden müssen, also die Krebsdiagnose, fast unvermeidbar starke negative Emotionen verursachen und einen individuell ausgeprägten Schock auslösen. Dieser hat unmittelbar negative Auswirkungen auf das weitere Gespräch und ist in einem gewissem Maße unabhängig von der Art und Weise, wie die schlechte Nachricht überbracht wird.
Die für das Gelingen bedeutsamen Einflussfaktoren können, im Gegensatz zu den Strukturelementen, viel stärker durch die Aufklärenden beeinflusst werden. Eine langfristige und empathische Beziehung zu den aufklärenden und behandelnden Ärzt*innen wurde als bedeutsam für eine gelungene Aufklärung empfunden. Die Atmosphäre, vor allem eine ausreichende Gesprächsdauer und ein angemessener ungestörter Raum, spielte für die Interviewten ebenfalls eine große Rolle. Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor ist die Wissensvermittlung, also die Art und Weise, wie die komplexen Informationen überbracht werden. Die interviewten Patient*innen betonten den Wert von Rückfragen, die Wichtigkeit laienverständlicher Sprache und die Vermittlung hochwertiger Informationsquellen.
Diskussion
Aufklärungsprozesse sind komplexe Interaktionen, die vielseitigen Einflüssen sowie ethisch-rechtlichen Regulationen unterliegen. Bisherige Leitfäden adressieren Ärztinnen und Ärzte als Überbringer schlechter Nachrichten und liefern diesen Bewältigungsstrategien für das „eine Aufklärungsgespräch“. Die hier gewonnene Perspektive der Betroffenen über das Gelingen ermöglicht ein Verständnis von Diagnose-Aufklärung als komplexen, individuellen Prozess, in der die Erfüllung der beiden Hauptbedürfnisse Fühlen und Verstehen eine zentrale Rolle spielt. Das Modell der gelungenen Aufklärung kann so helfen, die Kommunikation und Versorgung von Krebserkrankten patientenzentrierter zu gestalten. Zudem kann es die Aufklärenden unterstützen, indem es ihnen die unterschiedlichen Ebenen und Ziele im komplexen Aufklärungsprozess und deren Relevanz für dessen Gelingen aufzeigt. |
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Physical Description: | 172 Pages |
DOI: | 10.17192/z2022.0012 |