Auswirkungen verschiedener Formen der Kindesmisshandlung auf die depressive Symptomatik im Erwachsenenalter: Die Rolle potenzieller Mechanismen

Zahlreiche Studien zeigen, dass Kindesmisshandlung ein bedeutender Risikofaktor für die Entstehung verschiedenster psychischer Störungen, wie auch der Depression ist (Green et al., 2010; Nelson, Klumparendt, Doebler, & Ehring, 2017). Depressive Patient*innen, die Kindesmisshandlung ausgesetzt wa...

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Bibliographische Detailangaben
1. Verfasser: Struck, Nele
Beteiligte: Brakemeier, Eva-Lotta (Prof. Dr.) (BetreuerIn (Doktorarbeit))
Format: Dissertation
Sprache:Deutsch
Veröffentlicht: Philipps-Universität Marburg 2021
Schlagworte:
Online Zugang:PDF-Volltext
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Beschreibung
Zusammenfassung:Zahlreiche Studien zeigen, dass Kindesmisshandlung ein bedeutender Risikofaktor für die Entstehung verschiedenster psychischer Störungen, wie auch der Depression ist (Green et al., 2010; Nelson, Klumparendt, Doebler, & Ehring, 2017). Depressive Patient*innen, die Kindesmisshandlung ausgesetzt waren, weisen zudem einen schwereren Krankheitsverlauf und eine höhere Therapieresistenz auf (Nelson et al., 2017). Daher ist es von hoher Relevanz, Zusammenhänge und Mechanismen zwischen Kindesmisshandlung und Depressionen genauer zu verstehen, um langfristig diese Patient*innen effektiver unterstützen zu können. Wenig ist bisher jedoch bekannt über differentielle Auswirkungen verschiedener Misshandlungsformen auf psychische Störungen im Erwachsenenalter. In der vorliegenden Dissertation werden daher Auswirkungen der fünf spezifischen Misshandlungsformen emotionaler Missbrauch, emotionale Vernachlässigung, sexueller Missbrauch, körperlicher Missbrauch und körperliche Vernachlässigung getrennt betrachtet (Ziel 1). Dies ist besonders relevant, da der Fokus früherer Forschung hauptsächlich auf sexuellem und körperlichem Missbrauch lag (Stoltenborgh, Bakermans-Kranenburg, Alink, & Van Ijzendoorn, 2015). Aktuelle Forschung weist jedoch darauf hin, dass gerade die emotionalen Misshandlungsformen besonders prävalent sind und langfristig mindestens vergleichbar gravierende Folgen haben (Nelson et al., 2017; Ross, Kaminski, & Herrington, 2019). Auch die zugrundeliegenden Mechanismen des Effektes von Kindesmisshandlung auf die Entstehung und Aufrechterhaltung depressiver Symptome sind bisher kaum verstanden. Basierend auf klinischen Theorien werden daher der Bindungsstil, die soziale Kognition, interpersonellen Probleme, Emotionsregulation und das Selbstmitgefühl als potenzielle Mechanismen in der vorliegenden Dissertation untersucht (Ziel 2). Kenntnisse über mögliche psychologische Mechanismen sind insbesondere relevant, da sie wichtige Ansatzpunkte für Präventionsprogramme und Psychotherapien darstellen. Die Theorie des Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP), einem Psychotherapieansatz der speziell auf Patient*innen mit einer persistierend depressiven Störung (PDD) zugeschnitten ist, geht davon aus, dass Patient*innen mit einer PDD besonders häufig Kindesmisshandlung ausgesetzt waren und daraus resultierend Veränderungen in der sozialen Kognition und ihrem interpersonellen Verhalten aufweisen (McCullough, 2003). Da diese Annahmen des CBASP-Ansatzes größtenteils auf klinischen Erfahrungen basieren, bedarf es weiterer empirischer Prüfungen dieser Hypothesen. Daher besteht das 3. Ziel dieser Arbeit darin, Unterschiede zwischen Patient*innen mit PDD und Patient*innen mit episodischer Depression (ED) hinsichtlich Kindesmisshandlung und verschiedenen Facetten der sozialen Kognition zu untersuchen. Diese drei Ziele werden durch vier Studien, welche die kumulative Dissertation bilden, adressiert. Die Daten der Studien I und II stammen aus dem Teilprojekt 1 der DFG-Forschergruppe 2107. Die Daten der Studie III wurden in einer psychiatrischen und einer psychosomatischen Klinik und in einer psycho-therapeutischen Ambulanz erhoben. Studie IV erfolgte im Rahmen des CBASPersonalized Projektes zur Evaluation eines sechswöchigen stationären Behandlungsprogramms in einer psychosomatischen Klinik. In Studie I wurden die Prävalenzen der Misshandlungsformen bei Patient*innen mit Depression (n = 604), Schizophrenie (n = 107), Bipolarer Störung (n = 103) und bei gesunden Proband*innen (n = 715) verglichen. Emotionaler Missbrauch, emotionale Vernachlässigung und körperliche Vernachlässigung wurden in allen Gruppen am häufigsten berichtet. Die drei Patient*innengruppen unterschieden sich untereinander nicht in den Misshandlungsformen, berichteten aber alle Formen häufiger als gesunde Proband*innen. Die Subgruppe der Patient*innen mit PDD (n = 65) war von allen Misshandlungsformen noch einmal häufiger betroffen als andere Patient*innen. Insgesamt waren in der gesunden Gruppe ca. 15%, bei Patient*innen mit Schizophrenie, Bipolarer Störung oder Depression jeweils ca. 57% und in der Subgruppe der Patient*innen mit PDD ca. 75% von Kindesmisshandlung betroffen. Angst- und Depressionssymptome in der zusammengefassten Patient*innenstichprobe wurden insbesondere durch emotionalen Missbrauch und emotionale Vernachlässigung vorhergesagt. Studie II untersuchte den Bindungsstil als möglichen Mediator des Effektes von Kindesmisshandlung auf die depressive Symptomschwere bei Patient*innen mit Depression (n = 580). Die Ergebnisse wiesen darauf hin, dass Bindung insbesondere den Effekt von emotionaler Misshandlung auf die Symptomschwere mediierte. Hierbei zeigte sich spezifisch ein indirekter Effekt von emotionalem Missbrauch über Bindungs-Angst auf die Depressionsschwere und von emotionaler Vernachlässigung über Bindungs-Vermeidung auf die Depressionsschwere. Auch das angenommene Modell einer sequenziellen Mediation von Kindesmisshandlung über unsichere Bindung und verringerte soziale Unterstützung auf die Depressionsschwere konnte gestützt werden. In Studie III wurden Patient*innen mit ED (n = 38) und PDD (n = 34) sowie gesunde Kontrollproband-*innen (n = 39) in verschiedenen Facetten der sozialen Kognition und im Auftreten interpersoneller Probleme verglichen. Zudem wurde untersucht, ob diese Unterschiede auf Erfahrungen von Kindesmisshandlung zurückzuführen sind. Patient*innen mit PDD berichteten häufiger Erfahrungen von Kindesmisshandlung und einen höheren empathischen Distress als die Vergleichsgruppen. Beide Patient*innengruppen berichteten zudem stärkere interpersonelle Probleme. Dagegen zeigten sich keine Unterschiede in der affektiven Theory of Mind. Der Effekt von Kindesmisshandlung auf die Depressionsschwere wurde über interpersonelle Probleme und empathischen Distress mediiert. In Studie IV wurden interpersonelle Probleme, empathischer Distress, Emotionsregulation, und Selbstmitgefühl als Mediatoren des Zusammenhanges zwischen Kindesmisshandlungsformen und Schwere der Depression bei Patient*innen mit einer PDD (N = 96) untersucht. Emotionaler Missbrauch sagte ein geringeres Selbstmitgefühl und stärkere interpersonelle Probleme vorher. Die Annahme eines sequenziellen indirekten Pfades von emotionalem Missbrauch über verringertes Selbstmitgefühl und stärkere Emotionsregulations-Schwierigkeiten auf die Depressionsschwere konnte gestützt werden. Zudem zeigte sich die Mediation über interpersonelle Probleme. Veränderungen der interpersonellen Probleme, der Emotionsregulation und des Selbstmitgefühls hingen mit Veränderungen im Schweregrad der Depression über den Therapieverlauf zusammen. Einige Limitationen sollten bei der Interpretation der berichteten Ergebnisse berücksichtigt werden. Insbesondere sind die querschnittlichen Designs der Studien I bis III zu nennen, wodurch Rückschlüsse auf die Kausalität nicht möglich sind. Zudem wird die retrospektive Erfassung der Kindesmisshandlung im Selbstbericht in allen vier Studien als Limitation diskutiert. Die hohe Prävalenz von Kindesmisshandlung in verschiedenen Patient*innengruppen – und insbesondere bei Patient*innen mit PDD – betont die enorme Bedeutung einer Prävention von Kindesmisshandlung, um Leid über die gesamte Lebensspanne zu reduzieren. Die Ergebnisse verdeutlichen darüber hinaus, dass vor allem emotionaler Missbrauch und emotionale Vernachlässigung – Misshandlungsformen, die in der Praxis häufig übersehen und in der Forschung wenig untersucht wurden – mit der Depressionssymptomatik zusammenhängen und Auswirkungen auf verschiedene psychische Fertigkeiten haben. Insbesondere eine Förderung interpersoneller Kompetenzen, des Selbstmitgefühls und der Emotionsregulation scheinen vielversprechende Ansatzpunkte zu sein, um bei Patient*innen mit PDD und Erfahrungen von Kindesmisshandlung Verbesserungen der depressiven Symptomatik zu erreichen.
Umfang:149 Seiten
DOI:10.17192/z2021.0081