Regret (Bereuen) von diagnostischen Entscheidungen in der Primärversorgung - Fallvignettensurvey unter Allgemeinärzten

Der Allgemeinarzt ist täglich im Praxisalltag mit Patienten dazu angehalten, Diagnosen zu stellen und diagnostische Entscheidungen zu treffen. In dem diagnostischen Pro- zess und der Entscheidungsfindung kommen Fehler natürlicherweise vor, ihre Rele- vanz und Konsequenz unterscheiden sich für den Ar...

Ausführliche Beschreibung

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Bibliographische Detailangaben
1. Verfasser: Baumann, Svenja Kathrin
Beteiligte: Donner-Banzhoff, N. (Prof. Dr. ) (BetreuerIn (Doktorarbeit))
Format: Dissertation
Sprache:Deutsch
Veröffentlicht: Philipps-Universität Marburg 2020
Schlagworte:
Online Zugang:PDF-Volltext
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Beschreibung
Zusammenfassung:Der Allgemeinarzt ist täglich im Praxisalltag mit Patienten dazu angehalten, Diagnosen zu stellen und diagnostische Entscheidungen zu treffen. In dem diagnostischen Pro- zess und der Entscheidungsfindung kommen Fehler natürlicherweise vor, ihre Rele- vanz und Konsequenz unterscheiden sich für den Arzt und Patienten. Um die Schwere von Diagnosefehlern zwischen unterschiedlichen Krankheitsbildern eines gemeinsa- men Leitsymptoms zu gewichten, kann die Höhe des Regrets als Beurteilungshilfe be- trachtet werden. Regret (dt. bedauern, bereuen) ist dabei definiert als eine intuitive, belastende Reaktion, die sowohl emotionale als auch kognitive Aspekte beinhaltet, und unter anderem entsteht, wenn auf eine initial als richtig empfundene Aktion oder Ent- scheidung später vermutet wird, dass es einen besseren Weg gegeben hätte als derje- nige, der gewählt wurde. In unserer Studie gehen wir von der Annahme aus, dass das Gefühl des subjektiven Regrets einen stärkeren Einfluss auf die diagnostischen Ent- scheidungen eines Arztes hat, als andere medizinischen Qualifikationen des Allge- meinarztes. Einleitung Regret wird in unserer Studie im Hinblick auf das Leitsymptom Brustschmerz und den damit in der Primärversorgung häufig verbundenen Krankheitsbildern untersucht. Da- bei wurden Diagnosefehler dahingehend definiert, dass die tatsächliche, abschließen- de Diagnose sich von der initial vermuteten unterscheidet. In unserer Studie steht so- mit keine spezifische Krankheit im Fokus, sondern verschiedene Krankheitsentitäten des Symptoms Brustschmerz. Ziel unsere Studie ist es, die Diskrepanz zwischen initialer und abschließender Diag- nose - in dieser Studie als diagnostische Fehlentscheidung definiert - hinsichtlich der Höhe des Regrets unter Allgemeinärzten zu untersuchen. Das Geschlecht und das Alter des Arztes, seine Berufserfahrung sowie die Einwohnerzahl des Praxisortes sol- len auf einen möglichen Zusammenhang zur Regret-Höhe untersucht werden. Methode Um Regret von deutschsprachigen Allgemeinärzten im Zusammenhang mit einem diagnostischen Ergebnis beim Leitsymptom Brustschmerz quantitativ zu erheben, führten wir einen faktoriellen Online-Survey durch. Darin wurden jedem Teilnehmenden neun von 72 möglichen Fallvignetten zum Leitsymptom Brustschmerz vorgelegt, zu denen das Ausmaß an Regret auf einer visuellen Analogskala von 0 bis 100 angegeben werden sollte. In jeder der 72 unterschiedlichen Fallvignetten wurde eine initiale Verdachtsdiagnose einer abschließenden Diagnose gegenübergestellt, wobei sich diese Diagnosen stets unterschieden, sodass von einer Fehldiagnose ausgegangen wird. Die neun unterschiedlichen Diagnosen ordneten wir insgesamt drei Diagnosekategorien zu, die sich aufgrund unterschiedlicher Schweregrade in ihrer Prognose und Therapie voneinander abgrenzten. Am Ende jeder Umfrage schlossen sich demografische Fragen zum teilnehmenden Arzt und seinem Arbeitsplatz an. Die Einladung zum Online-Survey wurde in zwei Rekrutierungsphasen im Dezember 2016 und im Juni 2017 über universitäre Mailverteiler allgemeinmedizinischer Fachbereiche und den Listserver Allgemeinmedizin versandt. Der Fragebogen wurde mithilfe des Online-Tools LimeSurveyTM erhoben. Die Auswertung der Daten erfolgte überwiegend mit dem Pro- gramm SPSS von IBM (Version 22). Zur Studie liegt ein Votum der Ethikkommission des Fachbereichs Medizin der Philipps-Universität Marburg vor (AZ 35/14). Ergebnis Insgesamt nahmen 313 Allgemeinärzte an unserer Regret-Umfrage teil, wobei nur 254 Fragebogen vollständig ausgefüllt wurden. 53.8 % der Teilnehmenden waren Männer, im Median waren die Ärzte 51 Jahre alt und im Mittelwert seit 17 Jahren als Facharzt tätig. 47.6 % der Teilnehmenden praktizierten in einer Gemeinschaftspraxis, davon befanden sich 35 % der Praxen in einer Großstadt mit mehr als 100.000 Einwohnern. Je lebensbedrohlicher die abschließende Diagnose, die initial als solche nicht erkannt wurde, desto höher war das Regret. Dies traf vor allem auf die beiden Diagnosen Myokardinfarkt und Lungenembolie zu. Erwies sich die Krankheit im Laufe der Diagnostik als nicht lebensbedrohlich, war das Regret niedrig ausgeprägt. Es konnte kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Regret-Höhe und dem Alter des Arztes, der beruflichen Erfahrung oder der Einwohnerzahl des Praxisorts gezeigt werden. Frauen beschrieben insgesamt ein schwaches, nicht signifikant höheres Regret (p>0.05) als ihre männlichen Kollegen. Schlussfolgerung Unsere Studie unter Allgemeinärzten zeigt, dass Regret bei diagnostischen Fehlentscheidungen an Brustschmerzpatienten mit der Schwere der Diagnose korreliert. Das Ausmaß an Regret sollte bei der Entwicklung von (digitalen) Entscheidungs- Unterstützungs-Systemen und Entscheidungsregeln für Ärzte als relevanter Faktor mitberücksichtigt werden. Weitere Forschung zur Erhebung des Einflusses von Regret im allgemeinmedizinischen Kontext ist unabdingbar.
Umfang:133 Seiten
DOI:10.17192/z2020.0366