Zum unmittelbaren Einfluss aktiver Unterkieferbewegungen und manueller Untersuchungstechniken auf den einseitigen, chronischen Tinnitus

Der genaue Zusammenhang zwischen Kiefergelenk und Ohrsymptomen wie Tinnitus konnte bis heute trotz zahlreicher klinischer Studien und multiplen Be- obachtungen nicht vollständig geklärt werden. Aus diesem Grund beschäftigt sich die Tinnitusforschung, auch seitens der Zahnmedizin, seit vielen Jahren...

Ausführliche Beschreibung

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Bibliographische Detailangaben
1. Verfasser: Hoheisel, Marcel
Beteiligte: Lotzmann, Ulrich (Prof. Dr.) (BetreuerIn (Doktorarbeit))
Format: Dissertation
Sprache:Deutsch
Veröffentlicht: Philipps-Universität Marburg 2019
Schlagworte:
Online Zugang:PDF-Volltext
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Beschreibung
Zusammenfassung:Der genaue Zusammenhang zwischen Kiefergelenk und Ohrsymptomen wie Tinnitus konnte bis heute trotz zahlreicher klinischer Studien und multiplen Be- obachtungen nicht vollständig geklärt werden. Aus diesem Grund beschäftigt sich die Tinnitusforschung, auch seitens der Zahnmedizin, seit vielen Jahren mit diesem Problem. Material und Methode: Mit der vorliegenden Pilotstudie wurde an 24 Probanden die Möglichkeit ge- prüft, ob mittels aktiver Unterkieferbewegungen und passiver manueller Mani- pulation der Kiefergelenke ein direkter und unmittelbarer Einfluss auf den ein- seitigen, chronischen Tinnitus (Lautheitsveränderung o.Ä.) erreichbar ist. Die Kondylen der Tinnituspatienten wurden dafür sowohl aktiv als auch passiv in alle möglichen Grenzpositionen gebracht und der Manuelle Tinnitus-Test nach Schünemann (MTT) durchgeführt. Es sollte damit die Hypothese einer rich- tungsabhängigen Beeinflussung der Ohrtöne geprüft werden. In jeder provo- zierten Position der Mandibula wurden unter Zuhilfenahme der numerischen Analogskala (NAS) subjektive Unterschiede in der Tinnitusperzeption dokumen- tiert. Zudem wurde das craniomandibuläre System der Probanden auf Dysfunk- tionen untersucht und in Abgrenzung zu vorherigen Studien nicht nur die Beein- flussbarkeit von Ohrgeräuschen durch Kieferbewegungen oder das Vorkommen von craniomandibulären Dysfunktionen unter Tinnituspatienten untersucht, vielmehr beides und deren Korrelationen statistisch geprüft. Ergebnisse: Ein Großteil der untersuchten Probanden erreichte durch die verschiedenen Kiefer(-grenz-)positionen und Provokationstechniken eine kurzzeitige Verände- rung seines einseitigen, chronischen Tinnitus. Der MTT war unter allen Manipu- lationstechniken am effektvollsten und konnte einen Tinnitus unmittelbar und kurzzeitig um durchschnittlich ca. 39% verbessern. Auch die ispilaterale Trakti- on (21%) und der Dawson-Griff (14%) erreichten ein deutliches Nachlassen der Tinnitusintensität. Pressten die Probanden ihre Zähne maximal aufeinander, wurde der Tinnitus im Mittel knapp 7% lauter, bei der Laterotrusion unter Gegenkraft verzeichneten wir überdies einen kurzzeitigen Intensitätsanstieg von 16,5%. Bei zwei Probanden konnte der Tinnitus weder über aktive oder passive Unterkieferbewegungen, noch über den MTT beeinflusst werden. Zu den häu- figsten CMD-Symptomen in unserem Probandenkollektiv zählten Zungeninden- titionen (87,5%), dorsale Arthralgien des ipsilateralen Kiefergelenks (75%), My- algien der Mm. masseteres (71%) und temporales (50%) sowie laterale Arthral- gien (62,5%), Kopfschmerzen (46%) und anteriore Diskusdislokationen mit Reposition im gleichseitigen Kiefergelenk (42%). Diskussion: Dehnt man mittels rotierender Traktion (MTT Teil 1) die Mm. masseteres und temporales in dem Maße, dass über die Mandibula das Lig. sphenomandibulare und darüber das Lig. mallei ant. gespannt wird (MTT Teil 2), wäre eine Bewe- gung der Gehörknöchelchen über den Kiefer denkbar. Die beiden genannten Bänder bilden gemeinsam das tympanomandibuläre Band, ein Relikt des emb- ryologischen Unterkiefers. Ist man in der Lage, die Position der Gehörknöchel- chen entsprechend zu manipulieren, könnte über die Steigbügelplatte das ovale Fenster bewegt und Peri- und Endolymphverschiebungen induziert werden. Diese Verschiebungen könnten demnach einen dauerhaften Kontakt zwischen Tektorialmembran und inneren Haarzellen vorübergehend aufheben, welcher für die Wahrnehmung von Tönen ohne eine tatsächliche externe Schallquelle (Tinnitus) verantwortlich ist. Dieser Effekt könnte gemäß osteopathischem Kon- zept durch ein Aufrichten des Os temporale (MTT Teil 2) verstärkt werden, da auf diesem Weg das Tentorium cerebelli genutzt wird, um Endolymphe im Sac- cus endolymphaticus zu manipulieren. Der MTT bietet die effektivste und zuverlässigste Möglichkeit, die subjektive Lautstärke eines Tinnitus über den Kiefer kurzzeitig zu verbessern. Ohrtöne könnten daher über den beschriebenen Mechanismus vorrübergehend redu- ziert bzw. aufgehoben werden. In weiteren Studien soll überprüft werden, ob der MTT als diagnostisches Instrument nutzbar ist, die Therapieprognose von zahnärztlichen Funktionstherapien bei Tinnitus zu bewerten. Die vorliegenden Studienergebnisse lassen, wie bereits in vorherigen Studien gezeigt, einen funktionellen Zusammenhang zwischen Kiefergelenk und Tinnitus vermuten. Daher stützen diese Ergebnisse die verbreitete Hypothese, dass Tinnitus in vielen Fällen über eine funktionelle Rehabilitation des stomato- gnathen Systems kurzzeitig und unmittelbar verbessert werden kann. Damit könnte es Optionen zur Therapie geben. Das diskutierte biomechanische Mo- dell zur Genese eines Tinnitus soll als ergänzender Gedanke zur Ätiologie ei- nes somatischen Tinnitus verstanden werden. Weitere Untersuchungen sind notwendig, um die Zusammenhänge zu konkretisieren und gegebenenfalls auch längerfristig wirksame therapeutische Ansätze abzuleiten, auch in Hinblick auf andere Ohrsymptome wie Schwindel, Hörminderung und Hörstürze. Dabei sollen neuronale, neuromuskuläre und die o.g. ligamentären, muskulären und ossären Strukturen auf ihre Zusammenhänge überprüft werden.
Umfang:151 Seiten
DOI:10.17192/z2019.0294