Die Impfgegnerschaft in Hessen – Motivationen und Netzwerk (1874-1914)
Die Ausgangsfrage der vorliegenden Arbeit beschäftigte sich mit der Erforschung von Legitimation, Motivation und Organisation der Impfgegnerschaft im Raum des heutigen Hessens, ausgehend von der Erfassung und Darstellung der Protagonisten auf individueller Ebene und eines sich daran anschließende...
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Format: | Doctoral Thesis |
Language: | German |
Published: |
Philipps-Universität Marburg
2018
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Summary: | Die Ausgangsfrage der vorliegenden Arbeit beschäftigte sich mit der Erforschung von
Legitimation, Motivation und Organisation der Impfgegnerschaft im Raum des heutigen
Hessens, ausgehend von der Erfassung und Darstellung der Protagonisten auf individueller
Ebene und eines sich daran anschließenden Versuchs der Rekonstruktion von
Netzwerkstrukturen.
Im Rahmen der Forschungslage zur Geschichte der Impfgegnerschaft leistet diese Studie einen
Beitrag zur regionalgeschichtlichen Aufarbeitung impfkritischer Strömungen im Raum Hessen
und erlaubt eine Verwendung des Netzwerk-Theorems, welches bereits für mehrere
historische Studien erkenntnisfördernd angewandt wurde.
Die Fragestellung zielte insbesondere auf die Analyse von Motivation und Legitimation
einzelner Protagonisten ab und verfolgte diese hin zu einer Einordnung in ein dem Widerstand
in der Impffrage verschriebenen Netzwerk. Ausgehend von einer individuellen Aufarbeitung
sollte geklärt werden, wie sich einzelne Impfgegner mit teilweise unterschiedlicher Motivation
zusammenfanden, um für ein gemeinsames Ziel einzutreten.
Ferner galt es herauszuarbeiten, ob sich Parallelen zwischen der Impfgegnerschaft nach Erlass
des Reichsimpfgesetzes 1874 und der impfkritischen Bewegung des 21. Jahrhunderts finden
lassen. Auch für diesen Ansatz sollte ausgehend von der Netzwerkidee ein Vergleich von
„damaligen“ und „heutigen“ Netzwerkstrukturen dienen, welcher unter Einbeziehung
technischer Neuerungen wie dem Internet und anderer „neuer“ Publikationsmedien erfolgte.
Da eine Analyse auf personenbezogener Ebene für die Impfgegnerschaft in Hessen bisher noch
nicht erfolgt war, versprach dieser Zugang insbesondere einen Erkenntnisgewinn über die
individuelle Motivation und Legitimation einzelner Protagonisten, welche sich dann mit Hilfe
des Periodikums „Der Impfgegner“ zu einem Netzwerk zusammenfanden. Gegenüber einer
Betrachtung der Impfgegnerschaft als gesamtheitliche Bewegung, in der individuelle
Motivationen tendenziell unterschlagen werden würden, konnte durch den in dieser Arbeit
gewählten Zugang ausgehend von einer persönlichen Betrachtungsebene eine detaillierte
Analyse ihrer Zusammensetzung erreicht werden.
So ließ sich erarbeiten, dass der Widerstand gegen die Impfung zwar bereits vor Erlass des
Reichsimpfgesetzes 1874 bestand, jedoch erst durch dieses einen organisierten Charakter
erfuhr. Vor allem das 1881 gegründete monatliche Periodikum „Der Impfgegner“ diente fortan
als öffentliches Forum und Organisationsplattform der Impfgegner. Sie erfuhr maßgeblich
durch die Gießener Familie Spohr, bestehend aus dem Naturheilkundler und Militäroberst
Peter Spohr, sowie seine beiden Söhne, Curt Spohr (Jurist in Gießen) und Roderich Spohr (Arzt
in Frankfurt), ihre ideologische Prägung.
Peter Spohr war im Untersuchungszeitraum des „Impfgegners“ zwischen 1908 und 1914
bereits über 80 Jahre alt, und hatte sich durch seine naturheilkundlichen Lehren in
entsprechenden Kreisen bereits einen Namen gemacht. Seine Werke propagierten ein Leben
im Einklang mit der Natur, dessen Grundlage die Anwendung von Luft- und später auch
Wassertherapien bildete. Eine gute Durchlüftung der Räume schien ihm ebenso wichtig wie die
Applikation von Wasser unterschiedlicher Temperatur zur Heilung diverser Leiden, dessen
Grundlage nach eigenen Angaben das Werk „Wasser tuts freilich“ von J.H. Rausse bildete.
Spohr hielt sich im „Impfgegner“ im Hintergrund, was grundsätzlich seiner Persönlichkeit zu
entsprechen schien. Die Zeitschrift verwendete ihn indes als Art Gallionsfigur und prominenten
Vorreiter der Impfgegnerschaft, wenngleich Spohr diese Position nie aktiv eingefordert hatte.
Seine Söhne Curt und Roderich Spohr übernahmen die naturheilkundliche Einstellung ihres
Vaters und widersetzten sich dem Impfzwang im Rahmen ihres jeweiligen Berufes – Roderich
Spohr praktizierte in Frankfurt als Allgemeinarzt und verhinderte beispielsweise die Impfung
seiner Söhne mittels ärztlichem Attest. Im Jahr 1912 sollte seine Impfskepsis zu einem
Gerichtsprozess führen, als er bei einer Patientin eine Pockenerkrankung übersah und sich in
der Folge eine Pockenendemie entwickelte, die mehrere Todesopfer forderte.
Mit seiner Verurteilung zu einer hohen Geldstrafe trat nun auch dessen Bruder Curt Spohr
vermehrt in Erscheinung. Hatte dieser bisher nur wenige Artikel im „Impfgegner“,
hauptsächlich zu rechtlichen Fragen verfasst, folgten nun mehrseitige Abhandlungen über die
Impffrage und eine Aufnahme in den Vorstand des „Reichsverbandes der Impfgegner“.
Neben der Familie Spohr sind diverse weitere Autoren zu nennen, deren Artikel im
„Impfgegner“ insbesondere im Zeitraum zwischen 1908 und 1914 zu dessen Charakter
beitrugen.
Der Frankfurter Diplomingenieur Hugo Wegener prägte sowohl den „Impfgegner“, als auch die
impfgegnerische Strömung mit beispiellosem Aktionismus und Schärfe. Zwischen 1910 und
1914 publizierte er mehrere impfkritische Bücher, eines davon laut eigenen Angaben mit mehr
als 36.000 Fällen angeblichen Impfversagens, welche zum Teil auch mit Abbildungen versehen
waren. Wegeners Agenda ließ sich gerade auf Grund der Fülle des publizierten Materials nur
schwer bewerten. Da die Werke im Verlag seiner Frau erschienen und er im „Impfgegner“
Werbung für diesen abdrucken ließ, könnte man ihm monetäre Interessen unterstellen. Es
konnte jedoch auch eine querulatorische Komponente herausgearbeitet werden, die
möglicherweise den wahrscheinlicheren Beweggrund bildete. Wegener kann auch über Hessen
hinaus als einer der aktivsten aber auch schillerndsten Persönlichkeiten der Impfgegnerschaft
gelten.
Ein weiterer bedeutender Impfgegner war der zeitweise in Kassel lebende Dr. Bilfinger, der
1908 den „Verein impfgegnerischer Ärzte“ ebendort gründete. Dies wurde in einschlägigen
Kreisen mit Begeisterung aufgenommen und stellte einen weiteren Schritt im organisierten
Widerstand gegen die Impfung dar. Wenngleich Bilfinger dadurch als wichtige Persönlichkeit im
Impfgegnernetzwerk gelten konnte, hielt er sich aus publizistischer Sicht eher im Hintergrund.
Seine Funktion als kurzzeitiger Leiter des Sanatoriums Gossmann zu Kassel eröffnete den
Zugang zur Untersuchung des Kurortes Kassel-Wilhelmshöhe. Die dortige naturheilkundliche
Ausrichtung ließ auch impfkritische Strömungen vermuten, welche nach eingehender
Betrachtung jedoch nicht verifiziert werden konnten.
Bilfinger schien auf Grund persönlicher Überzeugung gegen die Impfung einzustehen und
bemühte sich durch Vereinsgründung und Organisation impfgegnerischer Ärzte um eine
Bündelung einzelner Kräfte. Sein Bestreben war offenbar nur von mäßigem Erfolg gekrönt, da
der „Verein impfgegnerischer Ärzte“ zumindest bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes
(1914) augenscheinlich keine allzu große Rolle spielte.
Weitere im Netzwerk aktive Impfgegner waren der Wiesbadener Arzt von Niessen, sowie die
Frankfurter Impfärzte von Hohenhausen und Voigt. Sie trugen zwar ebenfalls durch kritische
Bei- und Vorträge zum Impfthema bei, hatten aber keine richtungsweisende Bedeutung. Ihre
Motivation lag mehrheitlich in ihren persönlichen Motiven in der Impffrage begründet.
Die Untersuchung der Verbindungen der Protagonisten untereinander ermöglichte in der Folge
eine Eingliederung der Impfgegnerschaft in Hessen in ein Netzwerk aus regionalen und
überregionalen Beziehungen. Im Fokus stand dabei zunächst die Aufarbeitung entsprechend
eines qualitativen Zugangs, welcher dann mittels einer geographischen Betrachtung weitere
Rückschlüsse zuließ.
Eine Analyse nach Zahl der Beiträge in der Zeitschrift „der Impfgegner“ erlaubte einen
zusätzlichen Erkenntnisgewinn durch eine Gewichtung und graphische Hervorhebung einzelner
Autoren entsprechend ihrer Aktivität. So imponierte in der „Geographiekarte“ beispielsweise
die Region Frankfurt als Epizentrum des impfgegnerischen Widerstandes, während nach
Einbeziehung der schriftstellerischen Tätigkeit auch die Stadt Gießen an Bedeutung gewann.
Informationen, welche also in der topographischen Ansicht nicht darstellbar waren, konnten
durch eine unterschiedlich verortete Betrachtungsweise herausgearbeitet werden.
In einem weiteren Schritt wurden zudem auch überregionale Beziehungen besonders
relevanter Vertreter im Netzwerk untersucht. So gaben Briefwechsel zwischen Peter Spohr und
dem Schweizer Adolf Vogt ebenso Einblick in die Persönlichkeit des Oberst, wie auch dessen
Korrespondenz mit dem Rassentheoretiker Ludwig Schemann. Hier zeigte sich zudem der
Nutzen einer Aufarbeitung auf persönlicher Ebene, welche nicht nur einen Einblick in die
öffentliche, sondern auch in die persönliche Meinung einer Schlüsselfigur zuließ.
Selbiges galt für den Briefwechsel zwischen Wilhelm Schwaner und Hugo Wegener, in welchem
Letzterer unter anderem die verspätete Anfertigung eines impfkritischen Flugblattes mit
Geldmangel erklärte. Sein Handeln auf monetäre Beweggründe zurückzuführen schien daher
unwahrscheinlich. So konnten Rückschlüsse auf seine mutmaßliche Motivation gezogen
werden, die bis dahin nur schwer greifbar war.
Der Netzwerkzugang ermöglichte daher nicht nur einen Informationsgewinn bei der
Untersuchung der Protagonisten, sondern auch einen Erkenntnisgewinn durch graphische
Darstellung und qualitative Analyse der Beziehungen untereinander.
Gegenüber den bisher vorliegenden Studien zur Geschichte der Impfgegnerschaft stellt der
regionale Zugang ein Novum dar, da eine regionale Betrachtung die oben genannte detaillierte
Analyse wichtiger Persönlichkeiten im Netzwerk mit entsprechendem Erkenntnisgewinn
ermöglicht. So konnte über die Region des heutigen Hessens für den in dieser Arbeit
behandelten Zeitraum eine sehr detaillierte Aussage getroffen werden.
Diese Herangehensweise versprach einen Informationsgewinn über die damalige
impfgegnerische Strömung in Hessen, weitere Studien müssten zeigen, inwieweit die
Ergebnisse repräsentativ für andere Regionen Deutschlands oder auch darüber hinaus sind. Die
Ergebnisse sind daher für einen begrenzten (Zeit-)Raum repräsentativ, da methodisch ähnlich
angelegte Untersuchungen zu anderen Regionen bislang nicht vorliegen.
Allerdings zeigten sich durch einen Vergleich mit der Impfgegnerschaft des 21. Jahrhunderts
angesichts der völlig veränderten technischen Möglichkeiten der Kommunikation durch
Internet und social media interessante Gemeinsamkeiten. Einerseits unterlag Letztere durch
technische Neuerungen wie dem Internet einem klaren Wandel. Andererseits fanden sich
gerade an dieser Stelle Gemeinsamkeiten, wie beispielsweise der Meinungsaustausch über
soziale Plattformen wie Facebook, oder Internetforen. Durch die Verbreitung einer Meinung
oder Frage in Echtzeit an tausende Gruppenmitglieder gleichzeitig übertreffen diese die
Wirkkraft eines monatlichen Periodikums wie den „Impfgegner“ bei weitem. Trotzdem ist das
Grundprinzip der Organisation in einem öffentlich zugänglichen Medium gleich geblieben,
weswegen diesbezüglich eine gewisse Kontinuität festgestellt werden konnte.
Weitere Parallelen ließen sich zwischen dem eingangs erwähnten Hugo Wegener und dem
1958 geborenen Hans Tolzin erstellen. Ein inhaltlicher Vergleich diverser Internetseiten des
Letzteren ergab darüber hinaus starke Überschneidungen in Rhetorik, Öffentlichkeitsarbeit und
schlussendlich auch der laienmedizinischen Perspektive. Während Wegener für seine
impfkritischen Aktivitäten das Medium Buch und Periodikum nutzt, konnte für Tolzin eine hohe
publizistische Aktivität im Internet festgestellt werden. Eine der größten Parallelen fand sich in
Form des „Impf-reportes“, ein alle zwei Monate erscheinendes Periodikum, welches seit 2004
im Hans-Tolzin-Verlag unter seiner Leitung erscheint.
Dass das Impfthema auch über 140 Jahre nach Erlass des Reichsimpfgesetzes nicht an
Aktualität eingebüßt hat, konnte durch einen abschließenden Diskurs über die derzeitige
Diskussion zur Verschärfung des Impfrechtes gezeigt werden. Hierzu wurde die Gesetzeslage in
Deutschland mit der des europäischen Auslandes verglichen und vor dem Hintergrund
aktueller Infektionsraten durch Seuchenkrankheiten behandelt; hierbei standen allerdings die
Masern im Fokus - da die Pocken laut WHO seit 40 Jahren weltweit als ausgerottet gelten. |
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Physical Description: | 241 Pages |
DOI: | 10.17192/z2018.0314 |