Klafki, Wolfgang: Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik - Leistung, Grenzen, kritische Transformation. Marburg 1998: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0003/k03.html - 1993 sprachlich geringfügig korrigiertes und bei einzelnen Beiträgen um einige Anmerkungen ergänztes Typoskript der 1991 erstellten Textfassung, die in japanischer Übersetzung veröffentlicht wurde als: Klafki, Wolfgang: Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik - Leistung, Grenzen, kritische Transformation. In: Klafki, Wolfgang: Erziehung - Humanität - Demokratie. Erziehungswissenschaft und Schule an der Wende zum 21. Jahrhundert. Neun Vorträge. Eingel. und hrsg. von Michio Ogasawara. Tokyo 1992. S. 17-34.


Wolfgang Klafki

Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik - Leistung, Grenzen, kritische Transformation


I. Vorbemerkung

Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik (GP) ist die Richtung der deutschen Erziehungswissenschaft, aus der ich ursprünglich herkomme. Ich habe sie bereits in meinem Lehrerstudium an der Pädagogischen Hochschule Hannover 1946 - 1948 in einigen Aspekten kennengelernt. In meinem zweiten Studium ab 1952 habe ich dann vor allem bei zwei der bedeutenden Vertreter dieser erziehungswissenschaftlichen Strömung, nämlich Theodor Litt und Erich Weniger, studiert. Meine frühen pädagogischen Arbeiten gehören dementsprechend ganz diesem Gedankenkreis an. [1]

Seit etwa 1960 bin ich mit etlichen Kolleginnen und Kollegen an dem Prozeß beteiligt, der im letzten Teil des Titels angedeutet wird: Wir fragen seither kritisch nach den Leistungen, aber auch nach den Grenzen der GP, und wir arbeiten an ihrer Transformation, ihrer Umformung. Es geht uns darum, die Elemente dieser pädagogischen Richtung festzuhalten und weiter zu entwickeln, die sich auch bei kritischer Prüfung und im Lichte neuerer Entwicklungen in der internationalen Erziehungswissenschaft, aber auch anderer Geistes- und Sozialwissenschaften sowie in der Wissenschaftstheorie nach wie vor als wichtig, als fruchtbar erweisen. [2] Diese Elemente versuche ich seit etwa 20 Jahren in ein umfassenderes Gesamtkonzept der Erziehungswissenschaft auf unserem heutigen Erkenntnisstand einzubringen; ich nenne diese Konzeption "Kritisch-konstruktive Erziehungswissenschaft ". [3] Einige Ansatzpunkte für diese Weiterentwicklung über die GP hinaus werde ich im letzten Teil dieses Beitrages kurz ansprechen. Im Mittelpunkt steht aber der Versuch, einige Grundzüge der GP darzustellen. Selbstverständlich kann ich hier keine Gesamtdarstellung dieser pädagogischen Richtung geben. [4]


II. Ausgewählte Grundzüge der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik

Zunächst gebe ich ein paar allgemeine Informationen über die Geisteswissenschaftliche Pädagogik. Dieser Begriff meint eine Strömung der Erziehungswissenschaft, die vor allem im Zeitraum zwischen 1918, also nach dem Ende des I. Weltkrieges, und 1933, d. h. bis zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaftsperiode entwickelt worden ist. Sie ist nach 1945 wieder aufgenommen und fortgeführt worden. - In der zweiten Hälfte der Weimarer Republik, etwa seit 1925 bis 1933, und dann noch einmal nach 1945 bis etwa 1960 war die GP die einflußreichste Teilrichtung der theoretischen Pädagogik in Deutschland bzw. in der Bundesrepublik Deutschland.

Ihre Ursprünge reichen jedoch mindestens bis in das ausgehende 19. und das beginnende 20. Jahrhundert zurück. Der Initiator der GP ist nämlich der Philosoph Wilhelm Dilthey (geb. 1833), der zunächst an den Universitäten in Breslau und Kiel und ab 1882 bis zu seinem Tode im Jahre 1911 an der Universität Berlin lehrte. Auf der Grundlage seiner "Lebensphilosophie" und seiner Theorien der Geisteswissenschaften hat er die Entwicklung einer historisch-systematisch angelegten geisteswissenschaftlichen Pädagogik gefordert und dazu erste Entwürfe vorgelegt, die aber zu seinen Lebzeiten größtenteils noch nicht veröffentlicht wurden. Das geschah erst ab 1924, vor allem im 9. Band der Gesammelten Schriften Diltheys, der 1934 erschien. [5]

Was nun die Bezeichnung "GP" oder "Pädagogik als Geisteswissenschaft" im Sinne Diltheys und der späteren Vertreter dieser pädagogischen Richtung sagen soll, umreiße ich hier einleitend sehr kurz und grob dadurch, daß ich andeute, von welchen anderen Richtungen, Pädagogik als Wissenschaft zu betreiben, sich Dilthey mit seiner Auffassung abgrenzte. Es sind vor allem zwei Strömungen seiner Zeit: Zum einen hält er alle jene Ansätze für überholt oder verfehlt, die Pädagogik als "normatives System" entwickeln wollen. Er meint damit pädagogische Theorien, die von bestimmten Weltanschauungen, Religionen, philosophischen Ethiken und ihren Normen ausgehen, und zwar so, daß sie diese Normen als zeitlos gültig, als übergeschichtlich verbindlich ansehen. Demgegenüber setzt Dilthey die Grundthese, die nicht nur für seine pädagogischen Ansätze, sondern für sein ganzes philosophisches bzw. wissenschaftstheoretisches Werk gilt: Der Mensch ist durch und durch ein geschichtliches Wesen, und dementsprechend ist die Erziehung und sind Theorien der Erziehung ebenfalls geschichtliche Phänomene. Dieser Grunderkenntnis müsse Erziehungswissenschaft gerecht werden. - Diese Grundthese führt nun zugleich auf die zweite Abgrenzung: Dilthey vollzieht sie gegenüber den in seiner Zeit aufkommenden positivistischen Ansätzen im pädagogischen Denken. Solche Ansätze sind für ihn dadurch gekennzeichnet, daß sie Erziehungsphänomene und Erziehungsprobleme mit Methoden zu bearbeiten versuchen, die den Naturwissenschaften entlehnt sind. Diltheys Einwand lautet: Damit kann man nur die naturhafte Seite der menschlichen Existenz und folglich nur gewisse, naturbedingte Voraussetzungen der Erziehung erfassen, also z. B. natürliche Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Gedächtnisses oder bestimmte Entwicklungsstörungen, etwa bei behinderten Kindern. Die zentralen Prozesse der menschlichen Entwicklung und der Erziehung aber sind geistiger Art, und das heißt für Dilthey eben: geschichtlicher Art. Das gilt für die Ziele, die Inhalte, die Methoden, die Entwicklung von Einstellungen und Interessen junger Menschen unter pädagogischem Einfluß usw. Um solche Phänomene und Prozesse aufklären zu können, muß man historisch-hermeneutische Methoden entwickeln, m. a. W.: geisteswissenschaftliche Methoden.

Noch einmal also: Dilthey fordert den Aufbau einer GP im Widerspruch zu normativ-deduktiven und zu positivistischen Positionen in der Pädagogik.

An solche Grundgedanken Diltheys knüpft nun später eine Gruppe von Wissenschaftlern an, die entweder direkte Schüler Diltheys gewesen sind oder die sich intensiv mit seinen Grundgedanken auseinandergesetzt haben, in Ansätzen in den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg und in den letzten Kriegsjahren, schwerpunktmäßig dann nach 1918. Ihnen ist die bereits erwähnte Entwicklung und der Erfolg der GP in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts zu verdanken.

Als die bedeutendsten Repräsentanten werden immer wieder folgende fünf Wissenschaftler genannt: Eduard Spranger (1882 - 1963), Herman Nohl (1879 - 1960) und Theodor Litt (1880 - 1962), darüber hinaus Wilhelm Flitner (1881 - 1989) und Erich Weniger (1893 - 1961), beide rund 10 Jahre jünger als die drei vorher Genannten. Spranger, Nohl und Litt hatten schon in den 20er Jahren eine Reihe von akademischen Schülern und namhaften Anhängern, die an deutschen Universitäten und an Pädagogischen Hochschulen Professuren für Pädagogik übernahmen, darunter Fritz Blättner (1891 - 1981) und Georg Geißler (1902 - 1980), Elisabeth Blochmann (1892 - 1972) und Albert Reble (geb. 1910), Otto Friedrich Bollnow (1903 - 1991) und zahlreiche weitere. - Nach 1945 kamen weitere Schüler Nohls, Litts und Sprangers hinzu, darüber hinaus aber akademische Schüler von Wilhelm Flitner und Erich Weniger, z. B. Hermann Röhrs und Hans Scheuerl, Klaus Mollenhauer, Herwig Blankertz und etliche andere, die auf pädagogische Professuren berufen wurden. Aus dieser Gruppe stammen nun aber auch diejenigen, die seit etwa 1960 an jener kritischen Weiterentwicklung und Transformation arbeiten, die ich vorher erwähnte. Ich muß im folgenden zum einen darauf verzichten, die Grundlegung der GP in der Philosophie Wilhelm Diltheys genauer nachzugehen, zum anderen aber auch darauf, die z. T. durchaus unterschiedlichen Ausprägungen zu charakterisieren, die die GP bei ihren einzelnen Vertretern aufweist. Hier können nur einige der gemeinsamen Prinzipien dieser Richtung zur Sprache kommen. Ich hebe im folgenden vier Charakteristika heraus.

1. Das erste Kennzeichen betrifft das Verhältnis zwischen der Pädagogik als Wissenschaft oder allgemeiner: der pädagogischen Theorie und der pädagogischen Praxis, wie sie sich in Elternhäusern und Schulen, in den sozialpädagogischen Einrichtungen oder in der außerschulischen Jugendarbeit, in der Berufsausbildung oder in der Erwachsenenbildung vollzieht. [6] Wissenschaftliche Pädagogik ist nach dieser Auffassung keine Instanz, die mit rein theoretischem Erkenntnisinteresse nur beobachtend und analysierend an die pädagogische Praxis herantritt. Aber mehr noch: Theorie und Praxis sind in der Erziehung ursprünglich nicht zwei klar voneinander unterschiedene Betätigungen. Vielmehr stecken in der pädagogischen Praxis immer schon Ansätze von "Theorie", z. B. Überzeugungen, Auffassungen darüber, wozu und wie erzogen oder unterrichtet werden soll, was man Kindern erlauben darf und was man ihnen verbieten muß usw. Diese Ansätze von "Theorie" in der pädagogischen Praxis selbst sind meistens weitgehend unreflektiert. Man hat sie z. B. von den eigenen Eltern oder anderen Kontaktpersonen im Prozeß der Sozialisierung, des "Sich-Hineinlernens" in die gegebene Gesellschaft und Kultur übernommen oder etwa, so lange es noch keine theoretisch reflektierte Lehrerbildung gibt, durch Übernahme von Schulmeisterregeln, die man als Lehrerin oder Lehrer älteren Kollegen abguckt oder die sie aussprechen. Da heißt es etwa: "Kleine Kinder müssen früh zur Reinlichkeit erzogen werden" oder: "Bei Zehn- bis Zwölfjährigen ist das Gedächtnis besonders aufnahmefähig, daher muß man diese Zeit zum Lernen von Vokabeln, Gedichten, Regeln, Fakten nutzen" usw. In solchen Sätzen steckt implizit schon immer so etwas wie "Theorie". Die Frage ist aber: Stimmen diese Annahmen? Sind sie überprüft? Wie kommt es, daß diejenigen, die solche Auffassungen vertreten, meinen, daß ihre Auffassungen "richtig" sind?

Nun sind im Prozeß der geschichtlichen Entwicklung, noch bevor methodisch strengere Forschung einsetzte, auch anspruchsvollere Ansätze von "Theorie" entstanden und mehr oder minder weitgehend in der Erziehungspraxis wirksam geworden. Als Beispiel nenne ich pädagogische Ideen, wie sie Rousseau in seinem Erziehungsroman "Emile" um die Mitte des 18. Jahrhunderts propagierte, oder Grundgedanken der deutschen Jugendbewegung der ersten drei Jahrzehnte unseres Jahrhunderts, denen die Überzeugung vom Recht und der Fähigkeit der Jugend, sich selbst zu bestimmen, zugrunde liegt; das ist ein Gedanke, der in verschiedene Richtungen der deutschen Reformpädagogik seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eingegangen ist.

Pädagogik als Wissenschaft im Sinne der GP ging von diesen Theorieansätzen aus, die in der Praxis bzw. in vorwissenschaftlichen Erziehungslehren immer schon enthalten sind. Erziehungswissenschaft verstand sich in diesem Sinne als methodisch konsequentes Weiterdenken dieser Ansätze und zugleich als Instanz der Überprüfung und Kritik.

Etwas präziser muß man die Sachlage folgendermaßen formulieren: Die GP ging von jeweils aktuellen Problemen der Erziehungspraxis aus: Etwa von der Erfahrung, daß tradierte Formen der Sozialpädagogik sich als unwirksam erwiesen; oder sie setzte beim Streit zwischen der Kindergartenpädagogik Fröbels, die das kindliche Spiel in den Mittelpunkt stellt, und dem ganz anders gearteten Programm der Kleinkindererziehung der Italienerin Maria Montessori mit ihren Übungs- und Lernmaterialien an. Wissenschaftliche Pädagogik wurde als Klärungsinstanz angesichts solcher praktischen Probleme verstanden. Sie sollte die Ursachen von Schwierigkeiten, die in der pädagogischen Praxis auftauchen, zu klären versuchen, die Motive, die hinter verschiedenen pädagogischen Programmen stehen, durchleuchten, die jeweiligen historischen Voraussetzungen alter oder neuer Erziehungskonzepte aufhellen. Sie sollte den Praktikern auf diese Weise ein klareres Bewußtsein von ihrer Situation vermitteln, von bis dahin nicht durchschauten Voraussetzungen, vom Recht und den Grenzen der eigenen und anderer Positionen. Darüber hinaus sollte pädagogische Theorie dann auf der Basis solcher Klärungen an der Formulierung neuer Lösungsmöglichkeiten teilhaben und sie in größere Zusammenhänge einordnen.

Die Theorien, die die GP für begrenzte Problemfelder, z. B. das Problem der Unterrichtsmethode oder der Lehrplangestaltung oder der Strafe in der Pädagogik formuliert hat, aber auch ihre umfassenderen Entwürfe, so etwa Herman Nohls Theorie der Bildung oder Wilhelm Flitners "Allgemeine Pädagogik". [7] Wissenschaftliche Pädagogik sollte der Praxis aber keine Rezepte bieten, sondern Aufklärung über Voraussetzungen leisten und mögliche Lösungen herausarbeiten. Angesichts solcher Klärung sollte den Praktikern, den Lehrern oder Sozialpädagogen, den Schulorganisatoren oder Schulpolitikern dann die Freiheit zu eigener Entscheidung bleiben, nun aber zu einsichtiger, reflektierter Entscheidung.

Eine solche Hilfe der Theorie für die Praxis schien der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik aber nur unter folgender Voraussetzung möglich: Die Theorie müsse sich in die Situation des Praktikers, der verantwortliche Entscheidungen treffen muß, hineinversetzen, besser: hineindenken. Wilhelm Flitner hat pädagogische Theorie im Sinne der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik daher reflexion engagée, engagierte Reflexion genannt. [8]

2. Ein zweites Merkmal der GP wird durch die Formel von der "relativen Autonomie" oder der "relativen Eigenständigkeit der Pädagogik" bezeichnet. [9] Was ist damit gemeint?

Diese synonymen Formeln besagen, daß die Pädagogik - einerseits als Praxis, andererseits als pädagogische Theorie - im Laufe der neuzeitlichen geschichtlichen Entwicklung eine gewisse Selbständigkeit gewonnen habe. Die Pädagogik habe sich in Theorie und Praxis insbesondere seit dem 18. Jahrhundert schrittweise zu einem Kulturbereich mit einer eigenen Gesetzlichkeit entwickelt, vergleichbar dem Rechtswesen, der Wirtschaft, der Kunst. Diese neuzeitliche Entwicklung, die noch keineswegs als abgeschlossen angesehen wurde, wollte die Geisteswissenschaftliche Pädagogik fördern.

Diese Entwicklung zu einer relativen Eigenständigkeit war erst möglich, seit die Pädagogik sich nicht mehr als bloß ausführendes Organ von Kirchen, von politischen Mächten, von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, von philosophischen Schulen oder Weltanschauungen betrachtete und benutzen lassen wollte, sondern seit sie ein eigenes Prinzip und eine spezifische Aufgabe entdeckte. Immer wieder haben geisteswissenschaftliche Pädagogen Jean-Jacques Rousseau als den Denker bezeichnet, der dieses Prinzip zum erstenmal in radikaler Schärfe ausgesprochen und damit sozusagen eine "Revolution der pädagogischen Denkungsart" eingeleitet habe. Rousseaus Grundgedanke war es nach dieser Deutung, daß er Kindheit und Jugend nicht mehr als nur vorübergehende Stadien der Unreife, des Noch-nicht-erwachsen-Seins" betrachtete, sondern als vollwertige Stufen menschlicher Entwicklung mit eigenen Rechten und Möglichkeiten, also als vollgültige Formen menschlicher Existenz. Daraus folgte, daß Erziehung als Hilfe verstanden wurde, den Anspruch des Kindes und des jungen Menschen auf seine Entfaltungsmöglichkeiten und sein Glück zu erfüllen. Nur, wenn die frühen Stufen der menschlichen Entwicklung in ihren spezifischen Werten und ihren Möglichkeiten pädagogisch ernstgenommen und vom jungen Menschen ausgeschöpft würden, könnte auch der erwachsene Mensch geistige Selbständigkeit, Mündigkeit, Fähigkeit zu kritischer Selbstbestimmung und zur Gestaltung einer menschlicheren Gesellschaft gewinnen.

Dieser Kerngedanke Rousseaus vom Eigenrecht der Kindheit und der Jugend als Momenten der Anerkennung des Menschen als eines zur Selbstbestimmung fähigen Wesens habe dann als Grundimpuls in den großen pädagogischen Denkern und Bewegungen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts weitergewirkt. Diese Entwicklung hat vor allem Herman Nohl in drei Phasen gegliedert. [10] Eine erste Phase umfaßt die bedeutenden philosophisch-pädagogischen Denker der Zeit von etwa 1780 bis etwa 1830/40: Pestalozzi und Kant, Herder und Humboldt, Herbart und Schleiermacher, Fröbel und Diesterweg, um nur die wichtigsten zu nennen. Damit wird zugleich deutlich, daß die theoriegeschichtlichen Wurzeln der GP weit über Dilthey zurück in die Geschichte der europäischen, vor allem natürlich der deutschen Pädagogik zurückreiche, z. T. übrigens über die eben genannten Pädagogen zurück bis in die Antike, nämlich zu Platon und Sokrates, oder in die frühe Neuzeit, etwa zu Comenius. Als zweite Phase deutete Nohl die Kulturkritik der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, wie sie unter anderem Friedrich Nietzsche geübt hat. - Eine dritte Phase der Entwicklung des Eigenständigkeitsgedankens wird nach Nohl durch die pädagogischen Impulse der deutschen Jugendbewegung, der Frauenbewegung, der Arbeiterbewegung eingeleitet und dann in den zahlreichen pädagogischen Reformbewegungen etwa seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wirksam: In der Landerziehungsheimbewegung und der Kunsterziehungsbewegung, in der Pädagogik vom Kinde aus und in der Erlebnis- und Spontaneitätspädagogik, im Arbeitsschulprinzip und der Gemeinschaftsschulbewegung, in der Volkshochschulbewegung und der modernen sozialpädagogischen Bewegung; sie sah z. B. auch eine grundlegende Reform des Jugendstrafvollzug vor, nämlich seine pädagogische Gestaltung als Hilfen dazu, daß der kriminell gewordene Jugendliche seine Fähigkeit zu einem selbstverantwortlichen Leben mit seinen Mitmenschen wiedergewinnt. Nohl und andere geisteswissenschaftliche Pädagogen bezogen hier aber nicht nur die deutsche Reformpädagogik ein, sondern werteten sie als Teil der internationalen pädagogischen Reformströmungen in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts. In Japan ist Dr. Kuniyoshi Obara, der Gründer des Schulkomplexes Tamagawa und der Universität Tamagawa in Tokyo einer der bedeutenden Vertreter dieser Reformbemühungen gewesen.

Auf der Ebene der Pädagogik als Wissenschaft bezog sich die Geisteswissenschaftliche Pädagogik selbst in diese dreiphasige Entwicklung des Gedankens der relativen Autonomie ein. Sie nahm für sich in Anspruch, dieser Bewegung zu ihrem wissenschaftlich aufgeklärten Bewußtsein verhelfen zu können und die Notwendigkeit betont, daß das Prinzip der relativen Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis im geschichtlichen Prozeß immer wieder neu auf die sich verändernden gesellschaftlichen, politischen, kulturellen Verhältnisse und in diesem Rahmen auf die sich verändernden Bedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche jeweils aufwachsen, ausgelegt und konkretisiert werden und ggf. gegen Bestrebungen politisch- gesellschaftlich-kultureller "Mächte" - des Staates, der Parteien, der Wirtschaft, gesellschaftlicher Gruppen, der Wissenschaft, der Kirchen usf. -, die Erziehung direkt in ihren Dienst zu stellen, verteidigt werden muß. Allerdings muß man fragen, ob die GP die Bedingungen und die Konsequenzen dieser Forderung konsequent genug durchdacht hat.

Weil ich der Auffassung bin, daß dieser Gedanke von der Möglichkeit und der Notwendigkeit einer relativen Eigenständigkeit der Pädagogik in Theorie und Praxis nach wie vor Gültigkeit besitzt, muß mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß es eine grobe Fehldeutung dieses Gedankens ist, wenn man ihn so versteht, als hätten seine Verfechter eine Isolierung der pädagogischen Praxis und ihrer Institutionen, z. B. der Schule, von gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Prozessen und Institutionen im Auge gehabt; als hätten sie die illusionäre Meinung vertreten, der pädagogischen Praxis müßte ein sozusagen gesellschaftsfreier Raum gesichert werden, und die pädagogische Theorie solle ohne Beziehungen zur Philosophie und den sogenannten Fachwissenschaften entwickelt werden. Gemeint war demgegenüber eine rationale Autonomie bzw. Eigenständigkeit, also eine Eigenständigkeit in der Beziehung. Erziehungspraxis und Erziehungstheorie sollten in der Beziehung zu all den Gruppen und Instanzen, die die Erziehung beeinflussen oder zu beeinflussen versuchen, also den Inhabern der politischen Macht, der Wirtschaft, den Kirchen und Weltanschauungsgruppen, den Vertretern bestimmter wissenschaftlicher Institutionen oder kultureller Traditionen usf. ihren besonderen Auftrag, die Verantwortung für die Entfaltungsmöglichkeiten des jungen Menschen, seine Entwicklung zur Mündigkeit vertreten. Und für die Erziehungswissenschaft besagte das Prinzip eine Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen, in der die Pädagogik als selbständiger Partner auftreten konnte. Man wird allerdings fragen müssen, ob die geforderte Zusammenarbeit von der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik tatsächlich in ausreichendem Maße praktiziert worden ist und ob sie über die gesellschaftlich-politischen Voraussetzungen der geforderten Eigenständigkeit der pädagogischen Theorie und der pädagogischen Praxis hinreichend gründlich reflektiert hat.

3. Ein drittes Charakteristikum der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik ist es, daß sie die Erziehungswirklichkeit und alle pädagogischen Theorien, damit auch sich selbst, als historische Erscheinungen betrachtete. Das heißt: Pädagogische Ideen und pädagogische Institutionen, Erziehungsmethoden und Lehrpläne, Erziehungsstile und Erziehungsschwierigkeiten, schließlich auch alle Aussagen oder Texte über pädagogische Probleme wurden als "Objektivationen", als Ausdruck jeweils bestimmter historischer Prozesse und Verhältnisse und der in ihnen handelnden Menschen und Menschengruppen mit ihren jeweils geschichtlich bedingten Vorstellungen, Interessen, Motiven verstanden. [11]

Nach dieser Auffassung kann es kein zeitlos gültiges System von Erziehungszielen oder Erziehungsinstitutionen oder Erziehungsmethoden geben, die man aus vermeintlich allgemeingültigen Philosophien oder Glaubenslehren oder Weltanschauungen ableiten könnte. Ich darf hier an die einleitenden Bemerkungen über Diltheys Kritik an unhistorisch verfahrenden, normativ-deduktiven Positionen in der Pädagogik erinnern.

Auch das Eigenständigkeitsprinzip galt der GP ja, wie wir sahen, als historische Entdeckung, die nur so lange Geltung erlangen kann, wie Menschen sich für die darin steckende Wertung, die Anerkennung des jungen Menschen als werdender Person, entscheiden. Zugleich aber galt es als ein Prinzip, das im geschichtlichen Prozeß weiterentwickelt und unter sich wandelnden historischen Bedingungen immer wieder neu ausgelegt und konkretisiert werden muß.

Aus dieser prinzipiellen Geschichtlichkeit pädagogischen Denkens und Handelns ergab sich für die Geisteswissenschafltiche Pädagogik die Notwendigkeit, nicht nur Geschichte der Pädagogik in einem rein historischen Sinne zu betreiben, sondern jeweils aktuelle pädagogische Probleme auf ihre historischen Hintergründe hin zu untersuchen und die in der jeweiligen Gegenwart noch nachwirkende Geschichte aufzuspüren. Auch hier ist freilich die Frage zu stellen, ob die Geisteswissenschaftliche Pädagogik dieses Prinzip der Geschichtlichkeit konsequent genug durchgehalten hat. Damit ist bereits ein weiterer Anknüpfungspunkt für "Transformationen" benannt; ich komme später darauf zurück.

4. Das vierte Charakteristikum der GP, das hier angesprochen werden soll, besteht in der Antwort dieser Richtung auf die Frage nach den Quellen und den Methoden wissenschaftlicher Erkenntnis. Als Material, durch dessen Bearbeitung die GP ihre Erkenntnisse gewann, sind vor allem folgende zu nennen: pädagogische Theorien der Vergangenheit und der Gegenwart sowie pädagogische Programme, insbesondere Programme aus der reformpädagogischen Bewegung in Deutschland und in internationalem Zusammenhang, weiterhin z. B. Schulgesetze und Schulordnungen, pädagogische Erfahrungsberichte und Biographien. Solche Texte wurden interpretiert, ausgelegt, und zwar unter Fragestellungen, wie ich sie z. T. schon bei der Erläuterung der vorher genannten Kennzeichen dieser Richtung der Pädagogik genannt habe. Ich nehme jene Bemerkung hier noch einmal auf und ergänze sie. Typische Fragen der GP lauten: Aus welchen allgemeingeschichtlichen, geistesgeschichtlichen, erziehungsgeschichtlichen Zusammenhängen heraus entsteht eine bestimmte pädagogische Theorie, dieses pädagogische Programm, diese pädagogische Strömung? Wer sind die Gegner, gegen die sich der betreffende Ansatz richtet? Welche pädagogischen Ziele werden genannt? Werden die Ziele deutlich formuliert oder sind sie nur indirekt zu erschließen? Welche pädagogischen Methoden werden vorgeschlagen? Sind Ziele und Methoden stimmig aufeinander bezogen, oder stößt man vielleicht auf Unklarheiten oder Widersprüche? Ist der betreffende Ansatz mit einem bestimmten Bild vom Kinde, vom jungen Menschen, vom lernenden Erwachsenen verbunden, und wird eine solche "pädagogische Anthropologie" ausdrücklich entwickelt oder ist sie nur implizit in den Dokumenten aufweisbar? Welche tatsächlichen Wirkungen hat das betreffende Konzept gehabt, von wem und wie ist es aufgenommen, mehr oder minder konsequent verwirklicht oder aber bekämpft worden? Schließlich und nicht zuletzt: Welche Bedeutung kommt dem betreffenden Ansatz für gegenwärtige pädagogische Probleme zu? Wo liegen ggf. seine Grenzen, sofern man andere Ansätze zur Sache in die Betrachtung mit einbezieht?

Die Methoden wissenschaftlicher Bearbeitung solcher Fragen anhand von Texten werden bekanntlich mit dem Sammelbegriff "hermeneutische Verfahren" bezeichnet. Deren Ziel ist immer ein wissenschaftlich geklärtes "Verstehen", und die Theorie der entsprechenden Verfahren wird "Hermeneutik" genannt. - Aber die Bezeichnung "hermeneutisch" bzw. "Verstehen" sind im Hinblick auf die GP noch nicht spezifisch genug. Wilhelm Flitner hat daher den Begriff "hermeneutisch-pragmatisches Verfahren" oder genereller: Erziehungswissenschaft als "hermeneutisch-pragmatische Wissenschaft" vorgeschlagen. [12] "Pragmatisch" meint in diesem Zusammenhang aber nicht im ökonomischen Sinne "zweckgerichtet", sondern hat - im Rückgriff auf das griechische Wort "prattein" - hier die Bedeutung: auf pädagogische Handlungszusammenhänge in der jeweiligen Gegenwart gerichtet. Meines Erachtens trifft der Begriff "hermeneutisch-pragmatisch" in diesem Sinne sehr genau die Besonderheit des für die GP zentralen methodischen Verfahrens.

Hier ist aber noch eine Ergänzung notwendig: Die "Gegenstände" der hermeneutisch-pragmatischen Analyse sollten nach der Auffassung der GP nicht nur schriftlich fixierte Dokumente oder andere Vergegenständlichungen pädagogischer Ziele oder Vorstellungen sein, also z. B. auch die bauliche Gestaltung von Schulen oder Kindergärten, die ebenfalls von pädagogischen Vorstellungen geprägt sein können. Mindestens einige Vertreter der GP haben darüber hinaus gefordert, den Umkreis hermeneutisch-pragmatisch zu untersuchender Gegenstände zu erweitern auf alle Phänomene, in denen pädagogische Absichten und Vorstellungen zum Ausdruck kommen: z. B. den Umgangsstil von Eltern mit ihren Kindern oder von Lehrerinnen und Lehrern mit ihren Schülerinnen und Schülern, die Atmosphäre einer Schule oder eines Kinderheims, die mündlichen, aber auch durch Mimik und Gestik geprägten Kommunikationsformen im schulischen Unterricht oder die Ausdrucks- und Handlungsformen von Jugendgruppen, etwa Tanz, Musik, Bewegungsstil, Kleidung, gemeinsame Aktionen usw. Flitner und Bollnow haben in diesem Sinne davon gesprochen, daß eine "Hermeneutik der Erziehungswirklichkeit" entwickelt werden müßte. [13] Allerdings ist die Einlösung dieser Forderung innerhalb der GP über erste Ansätze nicht hinausgekommen. Aber im Prinzip war damit schon der Weg zu einer sehr bedeutsamen Erweiterung des methodischen Instrumentariums über das Verfahren der hermeneutisch-pragmatischen Analyse von Texten vorgezeichnet, nämlich die Auseinandersetzung mit empirischen Methoden zur Erfassung der pädagogischen Realität.

Damit ist ein letztes Stichwort für die Darstellung des Forschungskonzepts der GP gefallen. Die Frage lautet: Wie erfaßt man wissenschaftlich gegenwärtige Erziehungsrealität?

Hier stößt man auf einen erstaunlichen Sachverhalt: Einesteils hat die GP immer wieder eine schlüssig belegte Kritik an der beliebten Berufung der pädagogischen Praktiker auf ihre "Erfahrungen" geleistet; sie hat hier mehrfach mit Recht darauf verwiesen, daß schon Johann Friedrich Herbart in seiner Allgemeinen Pädagogik aus dem Jahre 1806 herausgearbeitet hatte, daß "Erfahrungen" von Voreinstellungen, ggf. Vorurteilen abhängig sind, von spezifischen Situationsbedingungen, in denen jemand Erfahrungen macht, von der besonderen geschichtlichen Lage, der expliziten oder impliziten Fragestellung dessen, der da "Erfahrungen macht". "Erfahrungen" sind also keineswegs "voraussetzungsfrei", sie sind keine letzten, unbestreitbaren Fakten. - Wo die gleichen Autoren aber ihre eigenen Beobachtungen und Erfahrungen über pädagogisch relevante Sachverhalte und Zusammenhänge in die Argumentation einbrachten, da geschah das meistens mit größter Selbstverständlichkeit. Das gilt genauso etwa für Eduard Sprangers Aussagen über die Jugendlichen in der Pubertätsphase in seinem berühmten Buch "Psychologie des Jugendalters" [14] wie etwa für Herman Nohls Beobachtungen über den Wetteifer in einer Göttinger Versuchsklasse eines seiner akademischen Schüler[15] oder für Erich Wenigers Beobachtungen über die Berufssituation junger Menschen in der Anfangsphase der Bundesrepublik.[16] Die Aufgabe, die eigenen Beobachtungen und Erfahrungen methodisch zu überprüfen, die Notwendigkeit, jeweils gegenwärtige pädagogische Wirklichkeit mit besonderen Methoden zu erfassen, diese Aufgaben sind der GP nie gründlich zum Problem geworden. Dieser Tatbestand ist später berechtigterweise zu einem weiteren Angriffspunkt der Kritik geworden.


III. Ansätze zur kritischen Transformation der GP

Im letzten Teil dieses Beitrages werde ich einige der Gesichtspunkte ansprechen, an denen vor allem seit den ausgehenden 50er Jahren die Kritik an der GP ansetzte. Mehrere Schwachstellen der GP, die zur Kritik herausforderten, habe ich im vorangehenden Teil meiner Ausführungen ja bereits benannt. - Allerdings kann ich diesen Prozeß der Kritik und der Auseinandersetzung mit der Kritik nicht ausführlich behandeln. Genauere Informationen enthält die einleitende Abhandlung meines Sammelbandes "Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft", den Herr Kollege Ogasawara zusammen mit Herrn Morikawa vor einigen Jahren freundlicherweise ins Japanische übersetzt hat.[17]

Ich muß hier darauf verzichten, der Frage nachzugehen, inwiefern es für den Prozeß der zunehmenden Kritik an der GP und für die weitgehenden Veränderungen in der westdeutschen Erziehungswissenschaft seit dem Ende der fünfziger Jahre auch Anlässe gab, die einerseits aus allgemeinen politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Entwicklungen der damaligen Bundesrepublik stammten und andererseits aus realen Veränderungen im Bildungs- und Erziehungswesen. Vielmehr hebe ich hier nur die beiden wichtigsten innerwissenschaftlichen Impulse hervor; sie sind in erheblichem Maße durch Entwicklungen in der internationalen Forschung über pädagogische Probleme beeinflußt worden, vor allem durch Ansätze aus dem anglo-amerikanischen Bereich, für die die Erziehungswissenschaft in der Bundesrepublik damals reges Interesse zu entwickeln begann.

Zunächst ist die Kritik an der GP aus der Perspektive der empirischen Forschung in den anthropologischen Wissenschaften einschließlich der Psychologie und in den Sozialwissenschaften hervorzuheben. Nun hat es auch innerhalb der deutschen Pädagogik schon im 19. Jahrhundert und vor allem seit Beginn unseres Jahrhunderts Ansätze empirischer Forschung gegeben, so z. B. die sogen. "experimentelle Pädagogik" Ernst Meumanns oder Wilhelm August Lays oder die "Pädagogische Tatsachenforschung" Peter Petersens und seiner Frau Else Müller-Petersens. Aber solche und vergleichbare weitere Bestrebungen gewannen lange Zeit keine größere Bedeutung. Das änderte sich - auf neuem Niveau und mit der Öffnung für internationale Entwicklungen - nachhaltig erst von den ausgehenden 50er Jahren ab.

Die Grundfrage lautet immer: Was geschieht denn tatsächlich in der Erziehung? Die GP konnte mit ihren bis dahin entwickelten hermeneutischen Methoden pädagogische Absichten und pädagogische Vorstellungen, Auffassungen über Erziehung, Motive pädagogischer Reformversuche, in begrenztem Umfang auch Einschätzungen der Betroffenen, der Erzieher und der Kinder oder Jugendlichen oder lernender Erwachsener über Erziehung erfassen, soweit sie schriftlich fixiert waren. Aber sie blieb letztlich bei Vermutungen, wenn es um Fragen wie die folgenden ging: Was geschieht wirklich im Prozeß der Erziehung? Werden die Absichten der Erziehenden verwirklicht? Entspricht das konkrete Handeln der Erziehenden ihren eigenen, programmatisch geäußerten Zielvorstellungen? Welche Faktoren beeinflussen z. B. Lernprozesse in der Schule? usw. usw.

Kein Zweifel: Mit solchen Fragen werden Grenzen der GP gekennzeichnet, die sie mit ihren Methoden nicht überwinden konnte. Diese Einsicht hat sich dann auch innerhalb der GP schon in der zweiten Hälfte der 50er Jahre schrittweise durchgesetzt, nicht nur bei der damals jüngeren Generation von Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftlern, die aus der geisteswissenschaftlichen Tradition hervorgingen, sondern auch bei ihren akademischen Lehrern. Das läßt sich z. B. bei Wilhelm Flitner, Otto Friedrich Bollnow und Erich Weniger leicht nachweisen.

Besonders wichtig und weiterführend ist der empirische Ansatz und seine berechtigte Kritik an der GP nach 1960 dort geworden, wo er sich in der Form erziehungs- bzw. bildungssoziologischer Forschung auf gesellschaftliche Voraussetzungen und Auswirkungen der pädagogischen Praxis bezog. Das geschah z. B. durch den Nachweis des Zusammenhanges zwischen der sozialen Herkunft von Kindern und Jugendlichen und ihrem Zugang zu anspruchsvolleren Schulformen, m. a. W. auf den Nachweis der sozial bedingten Ungleichheit der Bildungschancen oder auf Ursachen für den geringen Anteil von Arbeitern an den Besuchern von Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Ein anderes Beispiel sind Untersuchungen über die Auswirkungen unterschiedlicher Erziehungsstile von Eltern oder Lehrern auf die Entwicklung von Fähigkeiten und Einstellungen von Kindern, z. B. auf Selbständigkeit, Kritikfähigkeit, Bereitschaft zu offener, rationaler Auseinandersetzung mit Konflikten usw. Ein weiteres Beispiel dafür, wie notwendig solche sozialwissenschaftlichempirische Forschung ist und wie fruchtbar sie Schwachstellen der GP aufgedeckt und im Prinzip überwunden hat, sind die Untersuchungen, die danach fragen, wie pädagogische Institutionen und ihre Regelungen das Bewußtsein der Erziehenden und der Zu-Erziehenden prägen, wie sie die pädagogischen Prozesse beeinflussen, wie sie sehr oft die Verwirklichung pädagogischer Absichten behindern, wie sie eine gewisse Eigengesetzlichkeit entwickeln usf.

Zusammenfassend kann man sagen: Die GP ist in dieser Hinsicht weitgehend blind geblieben. Konstruktiv formuliert bedeutet das: In erheblichem Umfang kann das Programm der GP, die pädagogische Praxis über die Bedingungen und Voraussetzungen, unter denen sie arbeitet, aufzuklären, nur durch die Erweiterung der hermeneutischen Methoden um das große Potential empirischer Methoden eingelöst werden.

Aber nun muß auch die Gegenrechnung aufgemacht werden: Wo immer Vertreter der Pädagogik das Eintreten für empirisch-pädagogische Forschung mit der Vorstellung verbinden, die GP und die von ihr vertretene Hermeneutik sei eine überwundene Phase der Entwicklung der Pädagogik zur Wissenschaft, sei eine noch vorwissenschaftliche Phase des pädagogischen Denkens gewesen, da ist sie selbst wissenschaftstheoretisch naiv, ist unreflektiert und betreibt "halbierten Rationalismus". Denn sie verkennt dann, daß empirische Forschung durch und durch - von ihren Fragestellungen bis zur Auswertung ihrer Daten - von hermeneutischen Problemen durchzogen ist, von geschichtlichen Voraussetzungen, von Bedeutungs- Setzungen, von Sinn-Fragen, die folglich nur mit Hilfe hermeneutischer Methoden aufgeklärt werden können. Wo diese Erkenntnis sich durchsetzt, wird heute in der deutschen Erziehungswissenschaft bisweilen sogar von einer Art Renaissance der GP gesprochen.

Abschließend muß noch der zweite bedeutende Ansatz zur Sprache kommen, von dem Kritik und Anstöße zur Transformation der GP ausgegangen sind. Gemeint ist die Rezeption von Grundgedanken gesellschaftskritischer Sozialphilosophie und der mit ihr verknüpften kritischen Soziologie. Auf verschiedene Spielarten kann ich hier nicht eingehen. Die Variante, die für die Erziehungswissenschaft am wichtigsten geworden ist, ist die sogenannte "Kritische Theorie" mit ihren Hauptvertretern Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowie ihrem bedeutendsten Schüler, Jürgen Habermas. Ihre Bedeutung für den Entwicklungsprozeß in der deutschen Erziehungswissenschaft über die Ansätze der ursprünglichen GP hinaus lassen sich in aller Kürze durch drei miteinander verbundene Charakteristika kennzeichnen:

Das erste Kennzeichen ist die Frage nach den Zusammenhängen zwischen der Erziehung und der Erziehungstheorie und den grundlegenden ökonomischen, sozialen, politischen Strukturen und Entwicklungsprozessen einer Gesellschaft, nach den in ihr vorherrschenden Interessen und Machtverhältnissen.

Das zweite Charakteristikum ist das emanzipatorische Erkenntnisinteresse der "Kritischen Theorie", d. h. die Orientierung aller Analysen und der Kritik gegenüber bestehenden Verhältnissen an der Idee der Freiheit, der Selbstbestimmung aller Menschen, die nur in einer freien, gerechten, konsequent demokratischen Gesellschaft verwirklicht werden kann.

Das dritte Charakteristikum ist die ideologiekritische Fragestellung, d. h. die Frage danach, inwiefern das Bewußtsein der Menschen - in unserem Falle das Bewußtsein der Erzieher, der Erziehungswissenschaftler, der Bildungspolitiker, der Kinder und Jugendlichen, schließlich aller Bürger, die die Erziehung direkt oder indirekt beeinflussen, durch die gegebenen Verhältnisse geprägt und fixiert ist, indem es gegebene Verhältnisse - z. B.: die ungleichen Entwicklungs- und Einflußmöglichkeiten von Männern und Frauen, die Unterschiede in der Erziehung von Jungen und Mädchen - als selbstverständlich, als naturbedingt betrachtet, sie also nicht als geschichtlich gewordene, von Menschen hervorgebrachte und von Menschen auch veränderbare Realitäten durchschaut. Ideologiekritik meint also Kritik eines nachweisbar falschen, gesellschaftlich folgenreichen Bewußtseins. [18]

Auch ohne eine ausführliche Erläuterung hoffe ich, daß folgendes deutlich geworden ist: Die GP stellte die Forderung, die Erziehung müsse an der Idee der Mündigkeit des aufwachsenden jungen Menschen orientiert sein, deshalb brauche sie eine relative Eigenständigkeit; Erziehung müsse sich als Hilfe zur Selbstbestimmungsfähigkeit, zur Urteils- und Handlungsfähigkeit verstehen. Diese Forderung kann aber nur eingelöst werden, wenn die erziehungswissenschaftliche Forschung sich auch an den drei Perspektiven orientiert, die ich eben als wichtigste Anstöße von seiten der "Kritischen Theorie" hervorgehoben habe.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie notwendig die gesellschaftskritische Horizonterweiterung des pädagogischen Denkens über die Sichtweisen der früheren GP hinaus ist und wie sehr man bedauern muß, daß diese Horizonterweiterung nicht schon viel früher erfolgte, ist die in der bisherigen Bundesrepublik Deutschland erst seit einigen Jahren intensiv und sehr kontrovers geführte Diskussion über das Verhältnis zwischen GP und Nationalsozialismus. [19]


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Anmerkungen


[1] ) Vgl. besonders: Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung (1959), 3./4. Aufl. Weinheim 1964. - Studien zur Bildungstheorie und Didaktik (1963) 10. Aufl. Weinheim 1975.

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[2] ) Als Dokumente aus der ersten Phase dieses Prozesses kritischer Revision und Weiterentwicklung weise ich auf zwei Veröffentlichungen hin: Eine Gruppe von akademischen Schülern Erich Wenigers erarbeitete zum Gedenken an ihren Lehrer einen Sammelband mit kritischen Interpretationen: Ilse Dahmer / Wolfgang Klafki (Hrsg.): Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche - Erich Weniger, Weinheim 1968. - 1970/71 erschien die Druckfassung des von mir geleiteten Funkkollegs Erziehungswissenschaft in drei Bänden: W. Klafki und Koautoren: Erziehungswissenschaft, Bd. 1 und 2 Frankfurt 1970, Bd. 3 Frankfurt 1971.

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[3] ) Vgl. dazu u. a.: W. Klafki: Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft. Weinheim 1976. (Die wichtigsten Beiträge dieses Buches sind in der Übersetzung durch die Kollegen M. Ogasawara und N. Morikawa in japanischer Sprache erschienen, Tokyo 1984.) - Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik (1985, 4. Aufl. Weinheim 1994). Ders.: Kritisch-konstruktive Erziehungswissenschaft. In: R. Winkel (Hrsg.): Deutsche Pädagogen der Gegenwart. Düsseldorf 1984, S. 137 - 162.

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[4] ) Einen Versuch einer solchen Gesamtdarstellung habe ich in zwei Fernstudien-Kursen der Universität Hagen vorgelegt; jeder Kurs umfaßte vier Kurseinheiten: W. Klafki: Geisteswissenschaftliche Pädagogik. Kurseinheiten 1 - 4, Hagen 1978. (Die Kurseinheit 1 "Zur historischen Ortsbestimmung der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik" erschien 1991 in stark erweiterter und überarbeiteter Auflage.) - Ders.: Der Erziehungs-/Bildungsprozeß und das Problem der pädagogischen Methoden in der Sicht der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Kurseinheiten 1 - 4, Hagen 1981 - 1984. (Die Texte sind nicht im Buchhandel erhältlich.)

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[5] ) Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften, IX. Band, hrsg. von O. F. Bollnow, Leipzig/Berlin 1934. - Vgl. W. Dilthey: Schriften zur Pädagogik. Besorgt von Hans-Hermann Groothoff und Ulrich Herrmann. Paderborn 1971. - Zur Interpretation der Pädagogik Diltheys: U. Herrmann: Die Pädagogik Wilhelm Diltheys. Göttingen 1971. - H.-H. Groothoff: Wilhelm Dilthey - Zur Erneuerung der Theorie der Bildung und des Bildungswesens. Hannover 1981.

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[6] ) Hier und in den folgenden Anmerkungen führe ich für jedes Charakteristikum der GP jeweils wenige Texte an. Zum Theorie-Praxisverhältnis vgl. außer den in Anmerkung 7 genannten Texten von Nohl (S. 121 ff) und Flitner (S. 19 f.): E. Weniger: Theorie und Praxis in der Erziehung (1929), jetzt in: E. Weniger: Ausgewählte Schriften, hrsg. von B. Schonig, Weinheim 1990, S. 29 - 44. - Th. Litt: Das Wesen des pädagogischen Denkens (1921), in: Th. Litt: Führen oder Wachsenlassen, 13. Aufl. Stuttgart 1967, S. 83 - 109. - Ders.: Die Bedeutung der pädagogischen Theorie für die Ausbildung des Lehrers (1947), jetzt in Th. Litt: Führen oder Wachsenlassen, a. a. O., S. 110 - 126.

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[7] ) H. Nohl: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie (1933), 7. Aufl. Frankfurt/M. 1970. - W. Flitner: Allgemeine Pädagogik (1950), 14. Aufl. Stuttgart 1974.

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[8] ) W. Flitner: Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart. Heidelberg 1958, S. 18.

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[9] ) Vgl. H. Nohl: Die pädagogische Bewegung und ihre Theorie (vgl. Anm. 7), S. 124 ff. - Th. Litt: Die Bedeutung der pädagogischen Theorie für die Ausbildung des Lehrers (vgl. ), S. 122 - 126. - E. Weniger: Die Autonomie der Pädagogik (1929), jetzt in E. Weniger: Ausgewählte Schriften (vgl. Anm. 6), S. 11 - 27. - Später bevorzugte Weniger statt "Autonomie" den Begriff "Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis". S. u. a. Weniger: Die Pädagogik in ihrem Selbstverständnis heute (1950), jetzt in E. Weniger: Ausgewählte Schriften, a. a. O., S. 125 - 155.

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[10] ) H. Nohl: Die Deutsche Bewegung, hrsg. von O. F. Bollnow und F. Rodi. Göttingen 1970.

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[11] ) Vgl. W. Flitner: Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart, Heidelberg 1958, bes. S. 18, S. 24 ff. - Von Weniger vgl. außer den in den Anmerkungen 6 und 9 genannten Aufsätzen die Abhandlung "Zur Geistesgeschichte und Soziologie der pädagogischen Fragestellung" (1936). jetzt in E. Weniger: Ausgewählte Schriften, a. a. O., S. 107 - 123. - Th. Litt: Die Bedeutung der pädagogischen Theorie für die Ausbildung des Lehrers (vgl. Anm. 6), bes. S. 116 - 122.

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[12] ) W. Flitner: Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart, a. a. O., s. 13 ff., bes. S. 22 - 29. - Ders.: Stellung und Methode der Erziehungswissenschaft. In: Zeitschrift für Pädagogik 1956, S. 65 ff. - O. F. Bollnow: Die Methode der Geisteswissenschaften. Mainz 1950. - Th. Litt: Das Wesen des pädagogischen Denkens (vgl. Anm. 6).

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[13] ) O. F. Bollnow: Pädagogische Forschung und philosophisches Denken. In: Erziehungswissenschaft und Erziehungswirklichkeit, hrsg. von H. Röhrs, Frankfurt/M. 1964, S. 229. - Ders.: Der Erfahrungsbegriff in der Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 1968, bes. S. 239 - 250. - Vgl. W. Flitner: Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart, a. a. O., S. 18, S. 24 ff.

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[14] ) E. Spranger: Psychologie des Jugendalters (1924), 27. Aufl. Heidelberg 1964.

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[15] ) H. Nohl: Der Wetteifer in der Schule. In: H. Nohl: Pädagogische Aufsätze. 2. Aufl. Berlin/Leipzig 1929, S. 190 - 198.

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[16] ) E. Weniger: Schule und Berufsnot (1945). In: E. Weniger: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis, Weinheim 1953, S. 345 - 359.

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[17] ) Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie: Hermeneutik - Empirie - Ideologiekritik. In: W. Klafki: Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft (Weinheim 1976). Japanische Übersetzung Tokyo 1984. (Vgl. Anm. 3). - Vgl. auch W. Klafki: Thesen und Argumentationsansätze zum Selbstverständnis kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft. In: E. König, P. Zedler (Hrsg.): Erziehungswissenschaftliche Forschung: Positionen, Perspektiven, Probleme. Paderborn 1982, S. 15 - 52. - W. Klafki: Kritisch-konstruktive Erziehungswissenschaft. In: Deutsche Pädagogen der Gegenwart, hrsg. von R. Winkel, Düsseldorf 1984, S. 137 - 162.

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[18] ) Vgl. W. Klafki: Ideologiekritik. In: L. Roth (Hrsg.): Methoden erziehungswissenschaftlicher Forschung. Stuttgart 1978, S. 146 - 167.

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[19] ) Vgl. dazu U. Herrmann, J. Oelkers (Hrsg.): Pädagogik und Nationalsozialismus. Weinheim/Basel 1989.- W. Keim (Hrsg.): Pädagogen und Pädagogik im Nationalsozialismus - Ein unerledigtes Problem der Erziehungswissenschaft. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1988. - W. Keim: Pädagogik und Nationalsozialismus. In: Neue Sammlung 1989, S. 186 - 208. - W. Keim u. a.: Erziehungswissenschaft und Nationalsozialismus - Eine kritische Positionsbestimmung. Reihe "Forum Wissenschaft" - Studienheft Nr. 9. Marburg 1990. - W. Klafki: Bericht über das Podium: Pädagogik und Nationalsozialismus. In: Zeitschrift für Pädagogik, 25. Beiheft, Weinheim/Basel 1990, S. 35 - 55. - Vgl. auch den Beitrag 8 "Die gegenwärtigen Kontroversen in der deutschen Erziehungswissenschaft über das Verhältnis der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik zum Nationalsozialismus" in diesem Band.

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