Universitätsbibliothek Marburg: Veränderungen im Aufgabenspektrum des wissenschaftlichen Dienstes an Hochschulbibliotheken. Marburger Überlegungen und Erfahrungen: Marburg 1997: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0001.html


Universitätsbibliothek Marburg

Veränderungen im Aufgabenspektrum des wissenschaftlichen Dienstes an Hochschulbibliotheken

Marburger Überlegungen und Erfahrungen (Stand: 24. Juli 1997)




Die wissenschaftlichen Bibliotheken erleben an der Schwelle zum 21. Jahrhundert einen grundlegenden Umbruch:

Unter immer schwieriger werdenden Rahmenbedingungen, die insbesondere durch eine wachsende Medienvielfalt und steigende Anforderungen der Nutzer bei weiter abnehmender Finanzausstattung gekennzeichnet sind, kommt den wissenschaftlichen Bibliotheken die Aufgabe zu, sich neu zu orientieren, um ihre Leistungsfähigkeit im Servicebereich zu erhalten und womöglich sogar auszubauen.

Die Bibliotheken haben sich in der letzten Zeit bereits auf die sich verändernden Rahmenbedingungen einzustellen versucht etwa durch


Die Arbeitsfelder des in den Bibliotheken beschäftigten Personals der verschiedenen Laufbahngruppen hat sich in diesem Gesamtzusammenhang erweitert und verändert. Ausgehend von den praktischen Erfahrungen, die die UB Marburg im zweischichtigen Bibliothekssystem ihrer "alten" Hochschule gemacht hat, wird diese Entwicklung nachfolgend für den wissenschaftlichen Dienst beschrieben.


Aufgaben des wissenschaftlichen Dienstes

Die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der UB Marburg sind in drei Aufgabenfeldern tätig:

  1. Fachreferat

  2. Verwaltung in

  3. Bibliotheksdatenverarbeitung (Betrieb und Weiterentwicklung).

Die zentrale Aufgabe des höheren Dienstes an wissenschaftlichen Bibliotheken war in der Vergangenheit die Erwerbung und Erschließung der (gedruckten) wissenschaftlichen Literatur. Primär in Fachreferaten tätig, bewirtschaftete er jeweils einen bestimmten Etatanteil der Buchkaufmittel der Zentralbibliothek und stand für fachliche, insbesondere fachbibliographische Auskünfte zur Verfügung. Daneben waren jeweils nur einzelne Mitarbeiter des höheren Dienstes mit Verwaltungsaufgaben befaßt.

Dieser vor allem auf den Bestandsaufbau der Zentralbibliothek bezogene, primär fachwissenschaftlich orientierte Arbeitsschwerpunkt des wissenschaftlichen Dienstes hat sich in Marburg in der letzten Zeit zu Gunsten von verwaltenden (koordinierenden) und systembetreuenden Tätigkeiten verlagert. Die Gründe dafür sind in Strukturveränderungen im Bibliothekssystem der Philipps-Universität sowie in der fortschreitenden Bibliotheksautomatisierung (insbesondere durch die PICA-Einführung seit 1994) zu sehen. Der Umfang der insgesamt in der Universitätsbibliothek zu leistenden Fachreferatsarbeit ist zwar insbesondere aufgrund der reduzierten Bucherwerbungen zurückgegangen, in Verbindung mit der Übernahme von Leitungsfunktionen in dezentralen Bibliotheken (Teilbibliotheken) hat sie sich gleichzeitig jedoch punktuell ausgeweitet und vertieft.

Die Universitätsbibliothek Marburg hat sich seit Mitte der achtziger Jahre konsequent auf diese Entwicklungen einzustellen versucht. Sie hat dabei die nachfolgend dargestellten Erfahrungen gemacht.


1. Tätigkeiten im Fachreferat

Die Fachreferenten sind und bleiben, bezogen auf ihre jeweiligen Fächer, verantwortlich für die Medienerwerbung und die Erschließung der lokalen Bibliotheksbestände. Hinzu kommt die Aufgabe der Erschließung und der Vermittlung der neuen elektronischen Medien unabhängig von der Frage des lokalen (physischen) Besitzes oder Nichtbesitzes. Diese Aufgabenstellung fügt sich nahtlos in das traditionelle Aufgabenspektrum des Fachreferenten ein; denn die Aufgaben der Selektion und der Erschließung bleiben gleich, neu sind lediglich die medialen Vermittlungstechniken.

Diese Erweiterung der Aufgabenstellung im Hinblick auf die Sichtung auch des Marktes an elektronischen Informationen, deren Präsentation und ggf. Archivierung erfordert fortlaufend zu aktualisierende Kenntnisse der EDV, Fähigkeiten zu ihrer Anwendung, gründliche fachbibliographische Kenntnisse sowie einen genauen Überblick über den Medienmarkt. In diesem Zusammenhang gewinnt die aktive Beherrschung elektronischer Dienstleistungsangebote für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des wissenschaftlichen Dienstes mehr und mehr an Bedeutung, und zwar insbesondere im Hinblick auf


Die Tätigkeit im Fachreferat wandelt sich so unter den Bedingungen der technologischen Entwicklungen und der Medienvielfalt also kaum inhaltlich, wohl aber in methodischer Hinsicht grundlegend. Um sie erfolgreich wahrnehmen zu können, sind zwar die theoretischen Grundanforderungen (fachwissenschaftliches Universitätsstudium und bibliothekarische Laufbahnprüfung) weiterhin unverzichtbar; doch stellen die sich darauf aufbauenden praktischen Kenntnisse und Fähigkeiten in einem sich kontinuierlich verändernden Berufsalltag zusätzliche Anforderungen.

Verändert sich zusätzlich die Organisation des zweischichtigen universitären Bibliothekssystems wie in Marburg in Richtung auf eine (funktionale, kooperative) Einschichtigkeit, erstrecken sich diese grundlegend veränderten und erweiterten Aufgaben nicht mehr nur auf die Bestände und Informationsangebote der zentralen Universitätsbibliothek, sondern auch auf diejenigen der dezentralen Bibliotheken (Teilbibliotheken). Unter diesen Umständen ergibt sich eine mehrfache (quantitative) Ausweitung und (qualitative) Vertiefung des fachbibliothekarischen Verantwortungsbereichs (vgl. 2. b).

So wandelt sich das Zusammenspiel zwischen Fachwissenschaftler und Fachreferent in dem Maße, in dem der Referent in den Fachbereich eingebunden wird: Dabei kann er in allen Fragen der Literatur- und Informationsversorgung zum fachwissenschaftlichen Gesprächs- und bibliothekarischen Ansprechpartner für die Angehörigen des Fachbereichs werden und so eine zentrale, die Wissenschaftler entlastende Dienstleistung erbringen. Hinzu kommt, daß er nun unter Umständen auch in entsprechende Lehrveranstaltungen des Fachbereichs eingebunden wird. Bei knapper werdender Personalausstattung in den Universitäten wird eine solche kooperative, arbeitsteilige Bündelung der Aktivitäten von Wissenschaftlern einerseits und (Informations-) Dienstleistern andererseits zunehmend erforderlich.

Die hier aufgezeigten Entwicklungen in den Bereichen der modernen Medientechnologien und der Hochschulbibliothekssysteme bringen den Fachreferenten in eine größere Nähe zu Benutzern und zur Wissenschaft. Dadurch wird er auf der ganzen Breite seiner fachwissenschaftlichen, bibliothekarischen und berufspraktischen Qualifikationen stärker gefordert, als dies bisher in seinem weitgehend auf die Universitätsbibliothek beschränkten Tätigkeitsbereich der Fall war.


2. Verwaltung

a. Leitungs- und Planungsaufgaben in der Universitätsbibliothek

Effektive benutzerorientierte Dienstleistungen setzen eine rationelle Organisation des Bibliotheksbetriebs voraus. In diesem Zusammenhang obliegen dem wissenschaftlichen Dienst Führungs- und Managementfunktionen. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Ausbau elektronischer Dienstleistungsangebote erwachsen planerische und organisatorische Aufgaben, die er maßgeblich trägt. Im Rahmen eines kooperativen Führungskonzepts arbeitet er bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben im Team mit Kollegen des gehobenen und des mittleren Dienstes zusammen. Diese Teamstruktur bietet die für einen rationellen und effektiven Verwaltungsbetrieb notwendige Flexibilität, indem sie Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen und Ebenen in gemeinsamer Projektarbeit zusammenbringt.

Diese Leitungs- und Führungsaufgaben finden auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Formen statt:




b. Leitung von Teilbibliotheken

Knappe Mittel erzwingen eine möglichst intensive und verbindliche Koordination der Medienanschaffungen im gesamten Bibliothekssystem. Die Formen der Zusammenarbeit reichen von Kaufabsprachen im Einzelfall bis zu grundlegenden, fachwissenschaftlich und bibliothekarisch differenziert begründeten Erwerbungskonzeptionen. Je intensiver sich diese Zusammenarbeit gestaltet, desto nachdrücklicher unterstützt sie eine Entwicklung, die letztlich in Richtung auf eine (funktionale, kooperative) Einschichtigkeit verläuft.

Mit einer Verwirklichung der (funktionalen, kooperativen) Einschichtigkeit sind Veränderungen im Tätigkeitsspektrum der verantwortlichen Referenten verbunden:

In Marburg wurde in den frühen 1980er Jahren ein Kooperationsmodell entwickelt, das in einem traditionell zweischichtigen Bibliothekssystem eine (funktionale, kooperative) Einschichtigkeit durch Bildung von Teilbibliotheken, die gemeinsam von Fachbereich und Universitätsbibliothek unterhalten werden, herstellt. Bisher wurden neun solcher Teilbibliotheken der UB eingerichtet. Ihre Geschäftsgrundlage bilden jeweils bilaterale Vereinbarungen zwischen den betroffenen Fachbereichen und der UB. Die Leitung der Teilbibliotheken obliegt den wissenschaftlichen Bibliothekaren, die gleichzeitig als Fachreferenten der Zentralbibliothek tätig sind. Pro Teilbibliothek sind dadurch 0,2 bis 0,5 Stellenanteile des wissenschaftlichen Dienstes der UB gebunden.

Der wissenschaftliche Dienst verbindet in diesem Bereich drei Funktionen miteinander:

Der Fachreferent, der zugleich Leiter einer Teilbibliothek ist, ist dabei verantwortlich für die Verausgabung der Erwerbungsmittel der Universitätsbibliothek und des jeweiligen Fachbereichs. Die Summe der von den Fachreferenten zu bewirtschaftenden Etats hat sich in Marburg trotz zum Teil dramatischer Kürzungen erheblich vergrößert, da die Mittel der Fachbereiche hinzukommen.



3. Elektronische Datenverarbeitung

Die elektronische Datenverarbeitung, zunächst vor allem für Zwecke der Bibliotheksverwaltung eingesetzt (Ausleihe, Katalogisierung), ist mehr und mehr zu einem Medium der Informationsvermittlung selbst geworden. Als solches ergänzt und ersetzt sie konventionelle, gedruckte Bibliotheksmedien (IVS, CD-ROM, WWW, Volltexte). In dem Maße, in dem sich diese mediale Veränderung durchsetzt, gewinnt die elektronische Datenverarbeitung für die Bibliotheksbenutzer direkt an Bedeutung. Entsprechend muß die Bibliothek ihre Dienstleistungsangebote erweitern bzw. verändern. Dieses erfordert ein "institutionalisiertes" technisches Know-how in einem besonders starken Maße auf der Ebene des wissenschaftlichen Dienstes.

Den Anforderungen der modernen Informationstechnologie Rechnung tragend, hat die UB Marburg eine eigene, qualifizierte DV-Stabsstelle aufgebaut mit dem Ziel, eine benutzerorientierte Bibliotheksautomatisierung zu realisieren. Diese Stabsstelle wurde personell mit Planstellen aus dem wissenschaftlichen Dienst der UB u.a. ausgestattet. Mittlerweile sind drei Mitarbeiter des wissenschaftlichen Dienstes ausschließlich als Informatiker tätig, die die zentralen Server und das PC-Netz der Bibliothek technisch betreiben und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie die Nutzer der Bibliothek einweisen und unterstützen.


4. Anforderungen und Qualifikationen

Die in diesem Papier dargestellten Veränderungen im Aufgabenfeld des wissenschaftlichen Bibliotheksdienstes haben Modifikationen im Bereich der Anforderungen und Qualifikationen zur Folge.

So ist für die Wahrnehmung der DV-Systembetreuung ein Informatikstudium unerläßlich. Auch könnte man sich zur Wahrnehmung von Spezialaufgaben (z.B. Betreuung von Fachabteilungen, allg. Managementaufgaben) den Einsatz einschlägig ausgebildeter Akademiker ohne bibliothekarische Zusatzausbildung vorstellen. Die Ausbildung zum Bibliothekar des höheren Bibliotheksdienstes jedenfalls vermag für diese Aufgaben eine fehlende fachwissenschaftliche Ausbildung (zunehmend) nicht zu ersetzen. Es ist daher sachgerecht und in diesen Fällen ggfs. notwendig, von der formalen Qualifikation (bibliothekarische Laufbahnprüfung) als Voraussetzung für die Einstellung in den wissenschaftlichen Dienst an Bibliotheken abzuweichen.

Für die Wahrnehmung der Aufgaben im Fachreferat, der Erwerbungskoordination im lokalen und regionalen Bibliothekssystem und der bibliotheksfachlichen Verwaltung im engeren Sinne (Organisation der internen Betriebsabläufe) ist eine geeignete bibliothekarische Ausbildung auf Basis eines fachwissenschaftlichen Studiums allerdings unverzichtbar und gewinnt mit der Zunahme verwaltender und koordinierender Tätigkeiten sogar zunehmend an Bedeutung. Diese muß laufend an die sich wandelnden beruflichen Anforderungen angepaßt werden. Insbesondere muß dabei eine angemessene Gewichtung der praktischen gegenüber der theoretischen Orientierung vorgenommen werden.

Insgesamt wird von allen im wissenschaftlichen Dienst einer Bibliothek Tätigen mehr denn je die Fähigkeit und Bereitschaft verlangt,

Das Bibliothekswesen wird die derzeitige Umbruchphase nur dann erfolgreich bestehen, wenn es den Bibliothekaren gelingt, ihre traditionellen bibliothekarischen Qualifikationen und Fähigkeiten nahtlos in das neue Umfeld einzubringen und sie ständig anzupassen.