Siebert, Irmgard: Jacob Burckhardt - Ein Kunsthistoriker auf Reisen. In: alma mater philippina, WS 1997/98, S. 16-20. - Ohne Abbildungen und mit einem erweiterten Anmerkungsteil wieder: Marburg 1997: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1997/0009.html


Irmgard Siebert

Jacob Burckhardt - Ein Kunsthistoriker auf Reisen [1]


Karl Christ zum 75. Geburtstag


Melancholie


"Der Teufel hole die einsamen Kunstreisen; ich mache keine mehr. Ich ennuyire mich nicht, Gott bewahre! Aber melancholisch bin ich ... bis zum Exzeß." (I, 172 ) [2] Die frühe Einsicht des noch nicht 23jährigen Schweizer Kunst- und Kulturhistorikers Jacob Burckhardt (1818-1897), daß seinen Reisen etwas Wesentliches fehle, wird keineswegs zu den angekündigten Konsequenzen führen. Im Gegenteil! Sein Leben lang wird ihn das Reisen - von berufsbedingten Pausen abgesehen - anziehen, wird die Lust auf Neues, das Bedürfnis, seinem Basler Alltag zu entfliehen (IV, 60), stärker sein als die Furcht vor den sie stets auch begleitenden melancholischen Empfindungen. "Vorerst lockt mich Italien gewaltig an", schreibt er vor seiner dritten Italienreise im Jahre 1846, "aber ich werde einsam sein und vielleicht mürrisch vor mich hinstolpern" (II, 195). Auf seinen Reisen vermißt Burckhardt nicht nur den unmittelbaren Austausch über das Gesehene [3] , sondern auch den geselligen Freund, der die abendlichen Stunden in den Cafés und Kneipen verkürzen hilft. [4] Melancholische Stimmungen bereitet vor allem die italienische Landschaft: "Abends ging ich nach S. Pietro in Montorio", schreibt Burckhardt im Frühjahr 1875 aus Rom, "und dann in eine Kneipe vor Porta S. Pancrazio und trank einen 1/2 Liter und als ich wieder nach S. Pietro in Montorio hinging war es gegen Sonnenuntergang und die nähern Theile der Stadt schon im Dunkel, alles Übrige aber, vom Pincio bis zum Lateran, in feuriger Sonnenglut und in Frascati funkelten alle Fenster! Da habe ich doch heulen müssen. Es ist aber etwas Eigenes mit dieser römischen Landschaft; man sollte einmal mit dieser uralten Person ein ernsthaftes Wort darüber reden, was sie eigentlich für ein Privilegium hat, den Menschen zeitweise auf das Höchste aufzuregen und dann in Wehmut und Einsamkeit stehen zu lassen." (VI, 31 ) [5] Mitunter drohen diese Gefühle so übermächtig zu werden, daß Burckhardt die sie auslösenden Erlebnisse flieht: "Und ich bin doch nicht nach Frascati und Albano gekommen!", schreibt er zum Schluß seiner Romreise 1875. "Lange Zeit war es zu regnerisch, und als es dann seit letztem Mittwoch schön und zuletzt ganz wundersam schön wurde, getraute ich mich nicht mehr hinaus, weil ich fürchtete, so ganz allein jene herrlichen Landschaften in wahrer Trauer zu durchstreifen." (VI, 34)

Italia aeterna


Ausgedehnte Reisen zur Betrachtung von Kunst bildeten die unentbehrliche Basis für Burckhardts wissenschaftliche Publikationen, für seine Tätigkeit als Dozent der Kunstgeschichte und, zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn, auch zur materiellen Sicherung seiner Existenz. Schon als junger Student war er der Ansicht, daß eine "sogenannte Pläsierreise" für einen "wahrhaft Gebildeten ein reines Unding und eine Unmöglichkeit " [6] sei. Die von ihm selbst gelegentlich als "tugendhafte Bildungsreise" (IV, 251) abgetanen Galerie- und Architekturstudien bildeten, insbesondere wenn sie in den Süden führten, eine unversiegbare Quelle nicht nur des Kunstgenusses: "Ich muß lachen", schreibt der 60jährige Burckhardt aus Forli in der Romagna, "wenn ich daran denke daß es Leute giebt, welche sehr unglücklich wären, wenn sie meine tour durch diese einzelnen Nester unter der Firma einer Vergnügungstour mitmachen müßten, weil sie unter Vergnügen etwas Anderes verstehen als ich, und an dem unermeßlichen Reichthum Italiens keinen eigentlichen Antheil nehmen." (VI, 265) Die Sehnsucht Mignons, die auch Burckhardt umtreibt [7], läßt ihn nicht nur leiden, sondern auch glücklich sein. "Ich weiß, es jetzt", schreibt er 1846, "daß ich außerhalb Rom's nie mehr recht glücklich sein werde und daß mein ganzes Streben sich thörichter Weise in dem Gedanken concentriren wird, wieder hinzukommen und wäre es auch als Lakai eines Engländers." (III, 36f.) Diese jugendliche Überschwenglichkeit, die Überzeugung, menschliches Glück hinge an einem bestimmten Aufenthaltsort, wird zwar zunehmend von weiseren Einsichten [8] überlagert, doch vermögen diese seinen Traum vom wahren Leben unter italienischer Sonne nicht völlig auszulöschen. Besonders nach den arbeits- und entbehrungsreichen Jahren der beruflichen Konsolidierung in Zürich und Basel, die von einem 20jährigen Verzicht auf Italien begleitet wurden, gewinnen während der Italienreise der Jahre 1875/76 die alten Gefühle nahezu ungebrochen wieder Kontur. In den Briefen aus dieser Zeit häufen sich Beobachtungen über die unbeschwerte Lebensart Italiens und die Schönheit und Klugheit seiner Menschen. [9] Was den Modernitätsmüden darüber hinaus anzieht, ist das Sichgleichbleiben der Menschen und des Landes: "Italien aber ist ja Italia aeterna und heut wie vor 29 Jahren jagen sie auf ungesattelten Pferden dahin nicht nur weil sie Gleichgewicht und Schluß haben sondern auch weil sie mit Schmutz an das Thier festgebacken sind, und so ist es in allen Dingen; Verkehr und Gespräch mit den Leuten sind unendlich amusant, und Menschen sind und bleiben sie und werden es auch nächstes Jahr noch sein." (VI, 28)

Beständig sehen und notiren

Wie seine gebildeten Zeitgenossen, hatte Burckhardt unterwegs zwar einen Baedecker in der Tasche, doch nutzte er seine Reisen auch, um eigene Kunstführer zu verfassen. Seine 1842 erschienenen "Kunstwerke der belgischen Städte" basieren ganz wesentlich auf den während eines 14tägigen Aufenthaltes im September 1841 entstandenen Notizen. [10] Der 1855 publizierte "Cicerone", ein Führer zu den Kunstwerken Italiens, sowie die Überarbeitung von Franz Kuglers "Handbuch der Geschichte der Kunst" und "Handbuch der Geschichte der Malerei" entstanden während der langen Rom- und Italien-Aufenthalte der Jahre 1846, 1847/48 und 1853/54. [11] Selbst nach seiner Emeritierung im Jahr 1893 nimmt Burckhardt "alte liegen gelassene Arbeiten wieder vor ..., um eine Last von Notizen (Kunstgeschichte) wenigstens in irgend eine Art von facon zu bringen". (X, 103f.)

Die Kunstreisen zwischen 1875 und 1883 unternimmt Burckhardt nicht in erster Linie, um zu publizieren, sondern um seine Kenntnisse für die Lehre zu ergänzen und aufzufrischen. [12] "Wer heutigen Tages Kunstgeschichte dociren will", so Burckhardt an Friedrich von Preen, "ist nun einmal zu periodischem Geldverschlagen auf Reisen und mit Anschaffungen verdammt." (VII, 34 ) [13] Auch auf seinen späten Kunstreisen verläßt Burckhardt sich nicht auf die Reaktivierung seiner Erinnerung durch bloßes Sehen, sondern hält vor Ort gewonnene Eindrücke und Erkenntnisse in Notizen fest. Die naheliegende Vermutung, daß es sich hierbei um sporadische Fixierungen handele, ist unzutreffend. Burckhardt pflegte ein systematisches "Durchnotiren" ganzer Galerien, das er sechs bis acht Stunden am Tag betrieb und mitunter abends im Hotel durch ein drei- bis vierstündiges Umschreiben dieser Notizen ergänzte. Zeugen dieser außergewöhnlichen Pflichtauffassung sind die zahlreichen und umfangreichen im Burckhardt-Archiv zu Basel aufbewahrten Notizbücher und -sammlungen sowie die ausführlichen brieflichen Berichte. Vor allem die Briefe von den späteren Galeriereisen, unter anderem nach Rom, Berlin, Wien, London, Paris, Prag, Dresden, München und Kassel [14] , sind voll von Äußerungen über unablässiges Notieren: "Einstweilen", heißt es zum Beispiel 1879 aus London, "halte ich noch 6 Stunden Galerie mit Notizenmachen aus, d.h. 7 Stunden mit einem Frühstück dazwischen" (VII, 80) und drei Jahre später aus Berlin: "Inzwischen habe ich hier die Gemäldegalerie d'un bout à l'autre durchnotirt in täglich 4-5 Stunden, und dito bei den Antiken mir wenigstens die Übersicht verschafft." (VIII, 64) Obgleich ganz "dumm und matt vom vielen Schauen" (VIII, 56), muß Burckhardt "beständig sehen und notiren" und bemitleidet sich selbst als ein "ziemlich geschundenes Wesen" (VIII, 56, 60): "Immer Notizen machen und hie und da krumm und krüpplich skizzieren, das ist mein Leben." (VI, 266 ) [15] Sein rastloses Sammeln, das dem Kulturhistoriker nur Basis, nicht bereits Ergebnis wissenschaftlichen Arbeitens ist, wird ihm mitunter selbst unheimlich: "Mir wird nur allgemach Angst vor meiner Masse von Notizen und wie ich daheim das Alles in Ordnung bringen und an seiner Stelle eintragen soll, denn umgeschrieben muß Alles werden, und in Notizbüchern kennt man sich bald selber nicht mehr aus. In Dresden und München hatte ich es durchgesetzt, das Umschreiben schon Abends und Morgens im Gasthof zu besorgen; hier aber ging das nicht an, weil der Notizen zu viele und zu vielerlei sind." (VII, 99) Die Unermüdlichkeit, mit der Burckhardt dieses Sammeln betreibt, birgt freilich auch Gefahren: "Auch empfinde ich, daß das wirklich fruchtbringende Sehen von Kunstwerken seine Grenzen hat. Ich werde zwar auf keine Weise müde und kann noch zu meinem eigenen Staunen Vieles aushalten, aber es ist ein anderer Haken dabei; man riskirt trotz aller Notizen das nur Einmal Gesehene zu vergessen wenn man immerfort Neues sieht. So repetire ich jetzt emsig die Notizen von Mittwoch bis Freitag, da wir die 6 großen Privatgalerien durchjagten, und sage mir bei jeder Notiz auf, was ich überhaupt noch von dem betreffenden Bild weiß. Würde ich diese Pause nicht machen, sondern immer nur weiter notiren, so ginge Alles mit einander flöten." (VII, 107) "Das hat man vom Reisen", resümiert Burckhardt scheinbar resigniert all diese Mühen, nicht ohne auf die damit verbundenen privat zu bestreitenden Ausgaben zu verweisen: "und dazu noch die villen Chösten" (VII, 109).

Morast von Photographien

Die "villen Chösten" verursachen aber weniger Papier und Bleistift als die auf den späteren Reisen parallel zum Notizenmachen gepflegte Praxis, in großem Umfang Photographien von Kunstwerken zu kaufen, um sich durch eine solche private Sammlung jederzeit nicht mehr Präsentes vergegenwärtigen zu können. [16] "Ich lebe bereits in einem Morast von Photographien", schreibt er 1875 aus Rom, "und bin doch erst am Anfang". (VI, 23) Das mit dem Vorzeigen im Unterricht motivierte Tun [17] scheint sich gelegentlich zu verselbständigen: "Den kühnsten Unsinn habe ich aber heut Nachmittag in der Bude des Antiquars Völker begangen; ich kaufte nämlich für 50 Mark eine ganze Kiste mit vielen tausend Blättern Schund, auf bloßes Vorweisen höchstens des sechsten Theiles hin. ... Völker aber, der einen sehr honetten Eindruck macht, versicherte mich, der Papierwerth der Kiste wäre wohl 25 Mark als Maculatur und darauf hin übernahm ich die Kiste in Gottes Namen blindlings." (VI, 214) Freimütig gibt Burckhardt zu, daß seine Freunde ihn wegen dieser Leidenschaft "schon lange unter Curatel" stellen wollten, was ihn jedoch nicht davon abhält, unmittelbar nach dem detaillierten Bericht über einen umfangreichen Kauf in der Londoner Nationalgalerie zuzugeben: "Hätten sie mehr, ich kaufte mehr." (VII, 68) Seine Besessenheit wird durch das Bedürfnis, möglichst wohlfeil einzukaufen, weiter gesteigert: "Wer hat heute in der National Galery 5 Sovereigns auf ein Brett gelegt für Photographien?", schreibt er 1879 aus London. "Das war ich. Und es wird mein letztes Geld hiefür nicht sein. Jedes Blatt der sog. mittlern, eher kleinen Ausgabe kostet einzeln 1 1/2 Shillings - da sagte ich einfach: ich nehme Minimum 100 Blatt zu 1 Shilling - und ohne weiteres Markten sagte der Mann ja ..." (VII, 67) Das in die Reisekasse vorsorglich eingestellte Budget für Photographien scheint nicht immer auszureichen, weshalb Burckhardt bei anderen Posten zu sparen sucht. [18]

An der noch zu seinen Lebzeiten geführten Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der Photographie für die Kunstwissenschaft hat Burckhardt sich nicht mehr beteiligt. [19] Daß die Kopien die Originale nicht immer adäquat abbilden und folglich die Erkenntnis beeinträchtigen oder gar verfälschen können, war ihm wohl bewußt. [20] Für Burckhardt hatte die Photographie jedoch nur eine gedächtnisstützende, niemals eine die Anschauung der Originale ersetzende Funktion. [21] Darüber hinaus begrüßte er sie als willkommene Arbeitserleichterung - mehr nicht. Auf die Photographie als ausschließlichen Ersatz für das Original hat Burckhardt erst dann zurückgegriffen, als ihm aus Altersgründen ausgedehnte Kunstreisen nicht mehr möglich waren. [22]

Für den Kunstliebhaber Burckhardt ist die Vollständigkeit der Photosammlung ein erstrebenswertes Ziel [23] , für den Kunstwissenschaftler bildet sie wie die Notizen nur die unentbehrliche Basis der zunehmend vergleichend ausgerichteten Forschung. Die Ordnung der Photos erfolgte nach Gattungen und Zeiten [24] in eigens für diesen Zweck angefertigten großformatigen Mappen. Sie entsprach damit Burckhardts Anliegen einer systematischen Kunstwissenschaft nach Sachen und Gattungen bzw. Aufgaben. [25] Seine positivismusverdächtige Notizen- und Photographiensammlung bedeutet also keine Abkehr von diesem Ziel. Dies beweist auch seine Reaktion auf die Sammelprinzipien des South Kensington Museums: "Da wuchs denn mein Staunen noch um ein Beträchtliches! Wo soll das hinaus mit unserer Kunstgeschichte, wenn auf diese Manier gesammelt wird? und Niemand die eigentliche Gesammtübersicht mehr macht. Hätte ich ein Jahr hier zu verthun, ich würde in die Hände spucken und mich mit anderer guter Leute Hülfe bemühen, die lebendigen Gesetze der Formen in möglichst klare Formeln zu bringen; soweit mit Worten etwas erreicht werden kann, würde ich es probiren." (VII, 42f.)

... sudele Ansichten und Landschaften

Auf seinen frühen Reisen, zu einer Zeit also, als die Photographie noch in den Anfängen steckte und Photos als Massenware noch nicht erhältlich waren, hat Burckhardt Zeichnungen angefertigt, um Gesehenes und Empfundenes für sich festzuhalten. Die hierin zum Ausdruck kommende Einheit von theoretischer Kunstwissenschaft und praktischer Kunstausübung bildete über mehrere Jahrhunderte von Alberti und Dürer bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein eine selbstverständliche Einheit, um dann allmählich von der Dominanz der kunstschriftstellerischen Arbeit aufgelöst bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer neuen Verbindung, die Kunstwissenschaft und ausübende Photographie miteinander eingingen, ersetzt zu werden. [26]

Burckhardt selbst hat seine kunstpraktischen Fähigkeiten in der für ihn typischen selbstkritischen Manier eher gering geschätzt. Er nennt sich selbst einen "gar höllischen Pfuscher" (I, 74). Auch als er nach jahrelanger Abstinenz das Zeichnen offensichtlich aus Gründen der Sparsamkeit oder einem momentanen Überdruß an Photographien (VI, 248) sporadisch wieder aufnimmt, teilt er Freunden brieflich mit, er zeichne "gräßliche Säulen wie Bratwürste" (VI, 248).

Die im Burckhardt-Archiv in Basel aufbewahrten neun erhaltenen Skizzenbücher umfassen rund 345 Zeichnungen, die Burckhardt selbst "sorgfältig geordnet und überliefert hat ". [27] Daß er damit anders als bei seiner Notizen- und Photosammlung weniger Probleme hatte, hängt nicht nur mit dem wesentlich geringeren Umfang zusammen, sondern auch damit, daß die Sujets sich freien unmittelbaren Neigungen verdanken und nicht nur einem beruflich-kunstwissenschaftlichen Pflichtkanon. [28] Insbesondere die Stadtansichten und Landschaften geben Stimmungen und Eindrücke wieder und scheinen keinem bestimmten Zweck zu dienen. Burckhardt war sich bewußt, daß die Wahl dieser Objekte und sein kulturhistorisches Interesse am Ganzen geschichtlicher Epochen [29] ein und demselben Motiv entsprangen: "Meine Figuren sind wesentlich Staffage, und wenn sie auch nicht wie solche aussehen, so sind sie doch als solche empfunden. Mit meiner geschichtlichen Forschung steht es gerade ebenso, der Hintergrund ist mir die Hauptsache, und ihn bildet die Culturgeschichte, der ich auch hauptsächlich meine Kräfte widmen will. Selbst in meiner stümperhaften Zeichnerei geht mir's ganz ähnlich; ich sudle Ansichten und Landschaften, selten Figuren." (I, 196)

Jacob Burckhardt und Marburg

Seine Kunstreisen haben Burckhardt zweimal nach Marburg geführt. Er besuchte die Universitätsstadt im Herbst des Jahres 1841 und dann wieder im Sommer 1875. [30] Während des ersten Aufenthaltes entstanden zwei Skizzen, eine in der Elisabethkirche, vom Nordchor mit dem Grab der heiligen Elisabeth, eine andere vom Ufer der Lahn mit Blick auf den Schloßberg und die Altstadt. [31] Für die Stadtansicht wählte Burckhardt die im 19. Jahrhundert übliche Nord-Ost-Perspektive, die erst später durch die südöstliche Postkartenansicht verdrängt wurde. Was seine Zeichnung von anderen zeitgenössischen Ansichten Marburgs [32] angenehm unterscheidet, ist der ausgesprochen ruhige und undramatische Bildaufbau, der auf dominierende idyllische oder naturlandschaftliche Elemente ebenso verzichtet wie auf die überzogene Akzentuierung einzelner Bauwerke. Das Ensemble der zum Schloß aufsteigenden und an der Lahn sich hinziehenden Wohnhäuser mit dem kräftigen Konstrast der aufstrebenden, das Schloß überragenden Elisabethkirche und der massiv wirkenden, die Zeichnung begrenzenden Horizontalen der Lahnbrücke war Burckhardt offensichtlich Bild genug. Eine über die steinerne Brüstung der Brücke gebeugte, den Kopf aufstützende Figur hat Burckhardt nicht selbst skizziert, sondern ausgeschnitten und nachträglich aufgeklebt [33] - ein Verfahren, das er häufiger anwandte, um seine angebliche Unfähigkeit, Menschen zu zeichnen, zu kaschieren.

Bei seinem zweiten Besuch im Sommer 1875 streifte Burckhardt nur Stunden durch die Stadt und frischte Erinnerungen auf: "Nachmittags nach Marburg", schreibt er an Max Alioth, "3 Stunden gebummelt und St. Elisabeth gesehen und mich in meinem alten Respect bestärkt vor Leuten des XIII. Jahrhunderts, deren Bauten wie lebendige Pflanzen aus dem Boden hervorgewachsen scheinen." (VI, 43)

Das "göttliche Nest" wie Burckhardt Marburg auch genannt hat (I, 206), hat sich der Reverenz, die ihm der große Basler zuteil werden ließ, als würdig erwiesen: Schon 16 Jahre nach Burckhardts Tod wurde in Marburg durch Richard Hamann die "Photographische Gesellschaft" gegründet, deren Ziel es war, Lehrende und Studierende des kunstgeschichtlichen Seminars mit Photographien für Forschung, Lehre und Veröffentlichung zu versorgen. Heute ist das daraus hervorgegangene "Bildarchiv Foto Marburg" das weltweit größte Archiv zur europäischen Kunst. Es erfüllt auch eine Aufgabe, die bereits Burckhardt der Photographie zugewiesen hat, nämlich die von materieller Zerstörung bedrohten Kunstwerke wenigstens in einer Kopie zu retten: "Seit der Photographie", schreibt Burckhardt ein knappes Jahr vor seinem Tod an Heinrich Wölfflin, "glaube ich nicht mehr an ein mögliches Verschwinden und Machtloswerden des Großen." (X, 293f.)


Anmerkungen:

[1] Der vorliegende Beitrag ist mit Abbildungen und einem gekürzten Anmerkungsteil versehen abgedruckt in: alma mater philippina, WS 1997/98, S. 16-20.
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[2] Die folgende Literatur wird abgekürzt zitiert: Jacob Burckhardt: Briefe. Vollständig und kritisch bearbeitete Ausgabe. Mit Benützung des handschriftlichen Nachlasses hergestellt von Max Burckhardt, 11 Bde. Basel, 1949-1994 (im Text abgekürzt: I-XI, in den Anmerkungen: Briefe I-XI). Kaegi, Werner: Jacob Burckhardt. Eine Biographie. 7 Bde. Basel, 1947-1982 (abgekürzt: Kaegi I-VII).
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[3] "Was ich in diesen 8 Tagen gesehen habe, ist unsäglich aber was hilft's wenn man Niemand bei sich hat? Ich hätte weiß nicht was drum gegeben, wenn Sie mir mit Ihren Entzückungen und Sarkasmen zur Seite gewesen wären ..." (Briefe VIII, S. 144).
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[4] Vgl. dazu: Briefe VI, S. 95, 109 und 266.
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[5] Vgl. auch Briefe VI, S. 267; VIII, S. 150, 152f.
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[6] Burckhardt, Jacob: Bilder aus Italien, in: Ders.: Frühe Schriften, hrsg. von Hans Trog und Emil Dürr. Stuttgart u.a., 1930 (= Gesamtausgabe, Bd. 1), S. 41.
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[7] "Ich kann nichts dafür, Italien hat mir die Augen geöffnet, und seitdem ist mein ganzes Wesen lauter Sehnsucht nach dem goldenen Zeitalter, nach der Harmonie der Dinge ..." (Briefe III, S. 55). Siehe auch ebd., III, S. 44, 58.
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[8] "Und so geht's nun zu Ende mit dem schönen Italien, dießmal ohne alle elegischen Gefühle, indem mich heim verlangt. Ja, wenn jetzt ein Winter in Rom bevorstände, das wäre schon was Anderes. Indeß auch dann wäre ich doch schon weise genug um nicht, wie einst in thörichtern Zeiten, den bloßen Aufenthalt in Italien für baares Glück zu halten." (Briefe VI, S. 108).
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[9] Siehe Briefe VI, S. 22, 25, 102 und 266.
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[10] Vgl. Kaegi II, S. 147f., bes. Anm. 137.
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[11] Vgl. dazu: Burckhardt Max: Rom als Erlebnis und geschichtliches Thema bei Jacob Burckhardt, in: Jacob Burckhardt und Rom, hrsg. von Hans Markus von Kaenel. Rom, 1988, S. 8f. - Zu den in dieser Zeit entstandenen Notizbüchern und der Arbeitsweise Burckhardts: Kaegi III, S. 451ff.
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[12] Zusätzlich zu seiner allgemeingeschichtlichen Dozentur hatte Burckhardt 1874 einen kunstgeschichtlichen Lehrstuhl übernommen.
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[13] "Wer nicht einrosten will in unserem Fach, der muß Jahr um Jahr reisen". (Briefe IX, S. 220).
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[14] Vgl. dazu Kaegi IV, S. 339ff.
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[15] Briefe VI, S. 266. Vgl. auch Briefe VI, S. 20 und 179.
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[16] Diese Sammlung umfaßt zwischen 9.500 und 10.000 Photos und befindet sich zum größten Teil in der Universitätsbibliothek Basel. Zum Thema Burckhardt und die Photographie siehe auch: Wiegand, Wilfried: Kunstgeschichte im Wohnzimmer. Jacob Burckhardt und die Fotografie, in: Der Monat, 1, 1981, S. 113-121; Kaegi VI, S. 295-305; Wittwer, Hans-Peter: Über die Photographie als Begleiterin von Burckhardts Geschichtsschreibung, in: Das Italien Jacob Burckhardts. Ausstellungskatalog des Architekturmuseums Basel. Basel, 1997, S. 10-18; Billerbeck, Ewald: Mensch - Geschichtsdenker - Lehrer. Zwei Ausstellungen zu Jacob Burckhardt in Basel, in: Basler Zeitung vom 31. Mai 1997 (Wochenendbeilage).
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[17] Briefe V, 209f.; VI, S. 53, 246.
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[18] "Jetzt ists aber genug! Ich schwöre keinen Heller mehr an Einkäufe auszugeben. Dafür bin ich heut nachmittags, weil es etwas regnete, nicht nach Mainz gegangen - macht schon etwa 4 Mark Ersparniß; ferner würde ich dort Photographien nach den Erzbischofsgrabmälern gekauft haben - was nun unterbleibt - macht wieder etwa 10 Mark Ersparniß - ferner ..." (Briefe VI, S. 214f.).
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[19] Vgl. hierzu Dilly, Heinrich: Das Auge der Kamera und der kunsthistorische Blick, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 20. Marburg, 1981, S. 81-89 und Kemp, Wolfgang: Theorie der Fotografie I. 1839-1912. München, 1980.
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[20] "Ganz absurd sind die Photographien nach den Originalien, welche retouchiert verkauft werden, nämlich mit säuberlicher Übermalung und Unkenntlichmachung aller jener Risse, Retouchen etc welche gerade die Photographie mit einer sonst in allen anderen Beziehungen von der Erde verschwundenen Redlichkeit wiedergiebt. Ich steckte dem Kunsthändler bei diesem Anlaß ein Licht darüber auf, daß in Italien gerade diese Dinge in den Photographien gesucht werden." (Briefe VI, S. 47).
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[21] Vgl. dazu: Briefe IX, S. 330.
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[22] Vgl. dazu Briefe IX, S. 111; Briefe X, S. 20, 31.
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[23] "In Eile und nur um Ihnen die Ankunft des herrlichen Rouleau von 75 Photographien aus Neapel anzuzeigen. Dieselben sind bereits aufgezogen und Manches davon gehört erstens zum ganz Unentbehrlichen und füllt schreiende Lücken in meinen Mappen, Anderes, und zwar in allen 3 Künsten, war mir wenigstens höchst wünschenswerth, und angenehm ist mir Alles." (Briefe IX, S. 226).
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[24] Vgl. Briefe VI, S. 185.
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[25] Zu Burckhardts kunstwissenschaftlicher Methodik vgl. Siebert, Irmgard: Jacob Burckhardt. Studien zur Kunst- und Kulturgeschichtsschreibung. Basel, 1991, S. 51-58, 153-160 und dies.: Einleitung in: Jacob Burckhardt: Aesthetik der bildenden Kunst, hrsg. von Irmgard Siebert. Darmstadt, 1992, S. 19-34.
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[26] Vgl. dazu: Die Skizzenbücher Jacob Burckhardts. Katalog. Bearb. von Yvonne Boerlin-Brodbeck. Basel u.a., 1994, hier S. 11f.
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[27] Die Skizzenbücher Jacob Burckhardts. Katalog. Bearb. von Yvonne Boerlin-Brodbeck. Basel u.a., 1994, S. 9.
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[28] Die Skizzenbücher Jacob Burckhardts. Katalog. Bearb. von Yvonne Boerlin-Brodbeck. Basel u.a., 1994, S. 20.
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[29] Zu Burckhardts kulturgeschichtlicher Methode vgl. Siebert, Irmgard: Zum Problem der Kulturgeschichtsschreibung bei Jacob Burckhardt, in: L'Antichità nell'Ottocento in Italia e Germania, hrsg. von Karl Christ und Arnaldo Momigliano. Bologna u.a., 1988, S. 249-274.
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[30] Vgl. dazu: Kaegi II, S. 180; Kaegi IV, S. 389; Briefe VI, S. 43.
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[31] Abgebildet in: Die Skizzenbücher Jacob Burckhardts. Katalog. Bearb. von Yvonne Boerlin-Brodbeck. Basel u.a., 1994, S. 294 und 295. - Für die freundliche Genehmigung, diese beiden Skizzen wiederzugeben, danke ich dem Schwabe-Verlag, Basel.
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[32] Vgl. Dörr, Cornelia: Und zu tun hatte ich in wenigen Tagen das Wesentliche durchzunehmen...- Anmerkungen zu einer Studienreise Adolph Menzels nach Marburg im August 1847, in: Marburg-Bilder. Eine Ansichtssache. Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten. Bd. 2, hrsg. von Jörg Jochen Berns, Marburg, 1996, S. 101-134.
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[33] Vgl. Die Skizzenbücher Jacob Burckhardts. Katalog. Bearb. von Yvonne Boerlin-Brodbeck. Basel u.a., 1994, S. 295.
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