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Titel:Ennahda und ihr Verhältnis zur Zivilgesellschaft : Selbstverständnis und Praxis
Autor:Lübben, Ivesa
Veröffentlicht:2015
URI:https://archiv.ub.uni-marburg.de/es/2015/0009
URN: urn:nbn:de:hebis:04-es2015-00092
DOI: https://doi.org/10.17192/es2015.0009
DDC: Politik
Publikationsdatum:2015-06-17
Lizenz:https://rightsstatements.org/vocab/InC-NC/1.0/

Dokument

Schlagwörter:
Zivilgesellschaft, Gewerkschaft, Ḥarakat an-Nahḍa, Islamismus, Tunesien

Zusammenfassung:
Zivilgesellschaft in Tunesien wird meist mit laizistischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) assoziiert. Dabei wird jedoch übersehen, dass sich nach dem Sturz Ben Alis auch Ennahda-Anhänger in zivilgesellschaftlichen Bewegungen engagieren und im Umfeld von Ennahda ein zivilgesellschaftliches Netzwerk entstanden ist. Ennahda räumt der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle bei der Gestaltung demokratischer Strukturen sowie als zivile Kontrollmacht der Verfassungsorgane ein. Während des Verfassungsprozesses initiierten Abgeordnete von Ennahda einen intensiven Dialog zwischen der Verfassungsgebenden Versammlung (Assemblée National Constitutionelle/ANC) und der tunesischen Zivilgesellschaft, dessen Ergebnisse in die Endfassung der Verfassung einflossen. Damit sollte die Akzeptanz und Wertschätzung der Verfassung als Gründungsdokument des neuen Tunesiens gestärkt werden. In der Präambel der Verfassung wird Tunesien als „partizipative Demokratie“ definiert. Dadurch soll auch in Zukunft der Zivilgesellschaft eine Beteiligung an staatlicher Beschlussfassung garantiert werden. Der Gründer und Vorsitzende von Ennahda, Rachid al-Ghannouchi, hatte schon zu Beginn der 1990er Jahre eine Kompatibilität des modernen Konzeptes der Zivilgesellschaft und islamischen Gesellschaftsmodellen postuliert. Ennahda war jedoch nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes trotz der politischen Wahlgewinne in der Zivilgesellschaft nur schwach vertreten. Hier dominierten zunächst säkulare Kräfte, da Mitglieder von Ennahda unter Ben Ali aus Funktionen in Massenorganisationen entfernt wurden. Moscheen und religiöse Organisationen waren strikter Regierungskontrolle unterstellt. Nach der Revolution begannen jedoch auch Ennahda-Mitglieder NGOs zu gründen, die zu Menschen- und Frauenrechten und Fragen der Transitional Justice arbeiten oder sich in der Kultur- und Entwicklungspolitik engagieren. Diese NGOs haben sich inzwischen zu einem Netzwerk, dem Pôle Civile pour le Développement et pour les Droits d L’Homme, zusammengeschlossen, das formal und politisch unabhängig von der Partei agiert. Auch in den Massenorganisationen hat Ennahda versucht Positionen wiederzugewinnen, die sie zum Teil in den 1980er Jahren innehatte. So stellen Ennahda-Mitglieder die Mehrheit des Vorstandes des Landwirtverbandes Union de l’Agriculture et de la Pêche (UTAP). Studenten von Ennahda haben sich für die Wiederbelebung der in den 1990er Jahren verbotenen Union Générale Tunisienne des Étudiants (UGTE) beteiligt, die inzwischen der größte Studentenverband Tunesiens ist. Traditionelle Arbeitsfelder islamistischer Bewegungen, wie die Da’wa (islamische Mission und Erziehung) oder die Gründung karikativ tätiger Zakat-Komitees spielen nur eine untergeordnete Rolle in der zivilgesellschaftlichen Strategie von Ennahda. Die Parteiführung will dem Vorwurf vorbeugen, sie versuche die Religion zu instrumentalisieren. Der Rückzug von Ennahda aus der Dawa hat allerdings dazu beigetragen, dass dieses Vakuum zunehmend von salafistischen Gruppen gefüllt wird.


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