Zusammenfassung:
Die voranschreitende Klimakatastrophe, periodische Wirtschaftskrisen, eine zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, Kriege und massive Fluchtbewegungen: Die Vielfachkrise unserer Zeit verlangt nach radikalen, emanzipatorischen Antworten – oder um es mit dem Slogan der Klimabewegungen auszudrücken; einen tiefgreifenden System Change. Aber was
kann man sich darunter vorstellen? Zwar werden gegenwärtig wieder alte und (scheinbar) neue Ansätze diskutiert, die dem Dogma der Alternativlosigkeit – mehr oder minder konkrete
– Entwürfe einer alternativen Gesellschaftsordnung und alternativer Re/-Produktionsweisen entgegenzusetzen suchen, jedoch bleiben dabei oftmals zentrale Fragen betreffend Weg und Ziel der angestrebten Transformation ungeklärt. Um diesem Problem zu begegnen, formiert sich in jüngster Zeit eine kritische Transformationsforschung, welche den Anspruch hat, Fehler wie Probleme vergangener Transformationsbestrebungen und -bewegungen kritisch zu analysieren und darüber hinaus zentrale Aspekte hinsichtlich Utopie (Ziel) sowie transformatorischem Übergang respektive Strategie (Weg) theoretisch zu systematisieren. Mittels dieser utopie- und transformationstheoretischen Erkenntnisse soll in der Praxis zum nachhaltigen Erfolg einer emanzipatorischen, sozial-ökologischen Transformation beigetragen werden.
So sehr diese Bestrebungen und Tendenzen auch zu begrüßen sein mögen, wird in diesem Diskurs jedoch oftmals vernachlässigt beziehungsweise unterschlagen, dass es sich bei vielen dieser scheinbar neuen Erkenntnisse keineswegs um wirklich neue Weisheiten, sondern vielmehr um alten Wein in neuen Schläuchen handelt: Keimformpraxen, präfigurative Politik, intersektional organisierte Gegenmacht, dezentrale Bottom-Up-Strukturen, postkapitalistische Wirtschaftsdemokratie – all dies stellt schon seit circa 150 Jahren einen Kernbestandteil libertär-sozialistischer Ideengeschichte dar, welche im akademischen Diskurs jedoch nur selten, und wenn überhaupt, dann häufig verzerrt, rezipiert wird. Eine zeitgemäße Transformationstheorie, die ihre Aufgabe ernst nimmt, darf die mannigfaltigen Erkenntnisse dieser gewachsenen Traditionslinie – ihre Ansätze, Fehlschläge, Erfolge und daraus resultierende fruchtbare Lernerfahrungen – jedoch nicht ignorieren, sondern muss diese gründlich auf ihre vielfältigen Anregungen und Potenziale hin reflektieren.
Hinsichtlich der konkreten Vision einer postkapitalistischen Wirtschaftsordnung stellt das Konzept einer Partizipatorischen Ökonomie (Parecon) einen elaborierten Ansatz aus dem
breiten Bestand libertär-sozialistischer Theoriebildung dar. Gedanken zu einer herrschaftsfreien, egalitären, demokratisch-selbstverwalteten, föderativen und rational organisierten Wirt-
schaftsdemokratie werden hierin systematisch zu einem umfangreichen utopischen Konzept ausformuliert. Fernab von marktwirtschaftlichen Prozessen und den damit einhergehenden
Zwängen zur Kapitalakkumulation soll dieses Modell einer dezentral-demokratisch fundierten Planwirtschaft die Menschen in die Lage versetzen, ihre wirtschaftlichen Angelegenheiten bewusst, kooperativ, ökologisch, solidarisch und partizipativ zu gestalten, indem sie sich bei gesellschaftlichem Besitz der Produktionsmittel in Konsum- und Produktionsräten zusammenschließen und damit – sowohl auf Mikroebene (einzelne Betriebe und Nachbarschaften) als auch auf Makroebene (Industrieföderationen und Konsumföderationen) – die demokratische Planung der wirtschaftlichen Organisation effizient arrangieren. Es stellt sich allerdings die Frage, wie eine solche Zielbestimmung – so sie denn als wünschenswert und gangbar erachtet würde – heute realisiert werden könnte.
Im Hinblick auf komplementäre libertär-sozialistische Transformationsstrategien sind dabei Murray Bookchins Konzept eines Libertären Munizipalismus sowie die traditionsreiche Bewegung des Anarcho-Syndikalismus von Interesse: Zum einen, da im Parecon-Konzept Fragmente beider Modelle implizit ihren Niederschlag finden. Zum anderen, da sie überdies den Anspruch erheben – analog zu heutigen Transformationstheorien – schon im Bestehenden Wurzeln zu schlagen, also es zu vermögen, bereits im Hier und Jetzt Alternativstrukturen aufzubauen, die eine zukünftige emanzipatorische Gesellschaftsordnung präfigurieren und genügend transformatorische Hebelwirkung beziehungsweise Handlungsmacht erzeugen, um den Wechsel herbeizuführen. Zudem haben sich beide Modelle in praktischen Projekten und Experimenten – den mitunter bislang größten in der libertär-sozialistischen Tradition – manifestiert, was den Abgleich von Theorie und Empirie ermöglicht. Bei all dem bieten sie jedoch zugleich auch genügend Differenzen für eine ergiebige komparative Analyse.
Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht somit die Frage, welche Anregungen libertär-sozialistische Theorie und Praxis für eine zeitgemäße kritische Transformationstheorie bieten,
wie aus libertär-sozialistischer Perspektive eine gangbare Alternativvision einer künftigen emanzipatorischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aussehen könnte und welche Transformationsstrategien der Erreichung einer solchen dienlich sein könnten.