Zusammenfassung:
Hintergrund: Im klinischen Verlauf der MS unterscheidet man einen akuten Schub im frühen Stadium von einer chronischen Neurodegeneration in der späten pro-gressiven Phase. Einem Schub liegt eine akute Entzündungsreaktion zugrunde. Mit zunehmender Krankheitsdauer nimmt die Neurodegeneration und eine damit verbundene klinische Behinderung der Betroffenen zu. Im natürlichen Verlauf geht die schubförmige MS (RR-MS) bei 2/3 der Patienten nach ca. 10–19 Jahren in eine sekundär progrediente Verlaufsform (SP-MS) über. Eine immunmodulatorische Behandlung der RR-MS mit den Basistherapeutika der 1. Wahl, ß-Interferone (IFNß) und Copaxone (CPX), wird früh begonnen, um die Entzündung zu hemmen und die Schubrate zu reduzieren sowie die entzündungsbedingte Krankheitspro-gression und Entwicklung der SP-MS zu verzögern. In großen kontrollierten Stu-dien wurden die Therapieeffekte von IFNß und CPX im frühen Krankheitsverlauf verglichen (CHAMPS-, BEYOND-, REGARD-, BECOME-Studie). Ziel dieser retro-spektiven Verlaufsstudie war es, die langfristigen Wirkungen von IFNß und CPX auf die Entwicklung der SP-MS in der Überlebensanalyse nach Kaplan-Meier zu vergleichen.
Methoden: Insgesamt 777 MS-Patienten wurden nach folgenden Einschlußkriterien gefiltert: (1) klinisch gesicherte RR-MS nach McDonald, (2) IFN oder CPX als Erst- und Monotherapie für mindestens 9 Monate oder Therapiewechsel innerhalb von 9 Monaten wegen Nebenwirkungen, (3) Diagnosestellung bei Therapiebeginn 5 Jahre, (4) EDSS 5. Ausschlußkriterien waren: (1) Entwicklung einer SP-MS vor und innerhalb von 6 Monaten nach Therapiebeginn, (2) Therapiewechsel wegen Unwirksamkeit. Als primäre Effektivitätsparameter wurden verglichen: %-Anteil der MS-Patienten, die nach 6 Jahren Beobachtungszeit keine SP-MS zeigten oder ei-ne SP-MS entwickelten.
Eine SP-MS wurde als Krankheitsprogression im Sinne einer Verschlechterung des EDSS um > 0,5 Punkte innerhalb von 6 Monaten definiert. Als statistische Verfahren kamen die Überlebenszeitanalyse nach Kaplan-Meier, die Cox-Regressionsanalyse und der Box-Plot zur Anwendung. Die Auswertung erfolgte mit dem SPSS-Programm 15,0 (SPSS inc., Chicago, Illinois). Signifikanzbe-rechnungen wurden mittels des Log-Rank-Tests durchgeführt und Ergebnisse mit P 0,05 als statistisch signifikant betrachtet.
Ergebnisse: Insgesamt 388 Patienten mit RR-MS wurden in die Studie einge-schlossen. Davon erhielten 264 Patienten über einen 6-Jahreszeitraum IFNß und 124 Patienten alternativ CPX. Es gab zum Therapiebeginn keine deutlichen Unterschiede in den Basis-Patientendaten zwischen den Gruppen (Frauenanteil, Alter und EDSS bei Diagnosestellung und Erkrankungsdauer). In einem 6-Jahreszeitraum nach Therapiebeginn waren die prozentualen Anteile der Pati-enten ohne SP-MS für CPX und IFNß nicht signifikant unterschiedlich (CPX: 104/124 oder 83,9% vs. IFNß: 212/264 oder 80,3%; p=0,39). Gleichzeitig entwi-ckelten 20/124 oder 16,1% der CPX-Patienten und 52/264 oder 19,7 % der IFN-Patienten eine SP-MS. Mittels Hazard-Funktion wurde kein signifikanter Unter-schied zwischen beiden Medikamenten nachgewiesen (p=0,39). Mit diesen Da-ten und Werten für Power, Signifikanzniveau und klinisch relevantem Unter-schied (0,80; 0,05 und 4/5 bzw. 5/4) liess sich für eine prospektive Studie eine Fallzahl von 3000 – 4000 Patienten für beide Gruppen berechnen.
Schlußfolgerungen: Insgesamt waren die langfristigen Therapieeffekte von IFNß und CPX auf die Entwicklung der SP-MS vergleichbar. Es ergaben sich keine klinisch relevanten Unterschiede zwischen den Wirkstoffen (p=0,39). Mögliche klinische Unterschiede zwischen den Medikamenten können in einer prospekti-ven Studie mit Fallzahlkalkulation und einer Power von 80 % nachgewiesen werden.