Zusammenfassung:
Gegenstand der vorliegenden Untersuchung war es, bei Patienten mit nichtsyndromalen Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten der Klinik für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie an der Philipps-Universität Marburg aus den Jahren 1996 und 1997 eine Stammbaumerhebung durchzuführen. Bei 59 Patienten mit einer
nicht-syndromalen Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte wurde das Vorkommen von
Merkmalsträgern in der Familie von Mutter und Vater des betroffenen Kindes
über drei Generationen (Parentalgeneration, Filialgeneration 1, Filialgeneration
2) erfasst.
In 34 von 59 Familien (57,6%) konnte anamnestisch nur der Proband als
Merkmalsträger ermittelt werden. 25 Stammbäume (42,4%) hingegen wiesen
eine positive Familienanamnese auf, d.h. dass mehr als ein Familienmitglied
Merkmalsträger war. Da sich herausstellte, dass zwei getrennt erfasste Probanden
miteinander verwandt waren, wurden die beiden Stammbäume zusammengeführt,
so dass insgesamt nur 24 Stammbäume mit erkennbarer Heredität
zur Auswertung kamen. Dabei wurden insgesamt 531 Personen erfasst,
wovon 190 Personen auf die f2-Generation, 226 Personen auf die f1-
Generation und 115 Personen auf die Parentalgeneration entfielen. In der 24
Familienstammbäumen fanden sich 53 Personen mit LKG-Spalten, wovon 58%
männlich und 42% weiblich waren. Bei den Merkmalsträgern handelte es sich
um die 24 analysierten Probanden, 3 Geschwister der Probanden, 4 Elternteile,
3 Cousins/Cousinen, 5 Onkel/Tanten, 1 Großvater/Großmutter sowie 13 Personen
im erweiterten Verwandtschaftsgrad der Probanden. Merkmalsträger nur
in der f2-Generation waren in 5 Stammbäumen (20,8%) zu beobachten. Merkmalsträger
in der f2- sowie in der f1-Generation gab es in 8 Familien (33,3%),
während 2 Stammbäume (8,3%) in der f2- und in der p-Generation Merkmalsträger
aufwiesen. Im erweiterten Verwandtschaftsgrad der Probanden konnten
in 9 Fällen (37,5%) Merkmalsträger ermittelt werden. Die Einzelauswertung der Stammbäume ergab keinerlei Hinweise auf einen
autosomal-dominanten Erbgang. Die vier Elternpaare mit einem betroffenen
Elternteil hatten insgesamt 5 Kinder, wovon 4 Kinder an einer LKG-Spalte litten.
Dies entspricht einem Verhältnis krank : gesund von 4 : 1, was ebenfalls
gegen einen autosomal-dominanten Erbgang sprach.
In 15 der 24 Fälle (62,5%) war in der Einzelauswertung das Vorliegen eines
autosomal-rezessiven Erbgangs nicht auszuschließen. Die Methode der summierenden
Statistik konnte diese Hypothese jedoch nicht bestätigen. Die verbleibenden
phänotypisch gesunden Elternpaare (n = 20) hatten insgesamt 45
Kinder. 23 davon hatten eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte und 22 waren gesund.
Dies entspricht einem Verhältnis krank : gesund von 1 : 1 bei einem erwarteten
Verhältnis von 1 : 3.
Zusammenfassend ergaben die im Rahmen der vorliegenden Studie ausgewerteten
Familienstammbäume ein wechselhaftes Bild. In 58% der Stammbäume
war das Auftreten der Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte sporadisch. In
42% der Fälle konnte eine Heredität angenommen werden, monogene
Erbgänge waren jedoch nicht zweifelsfrei nachweisbar. In Übereinstimmung mit
der Literatur ließen die Ergebnisse auf eine multifaktorielle genetische Ätiologie
der Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten schließen.
Da es bislang nicht möglich ist, eine Risikospezifizierung durch Untersuchung
bestimmter Gene vorzunehmen, stehen bei der Risikoeinschätzung derzeit
empirisch gewonnene Wahrscheinlichkeitswerte im Vordergrund. Aufgabe der
Humangenetik ist es, die Suche nach den molekulargenetischen Ursachen der
LKG-Spalte fortzusetzen, um die Möglichkeiten der genetischen Beratung für
Betroffene und deren Familienmitglieder zukünftig zu verbessern.