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4. Eine zweite „Unterrichtsnovelle“

Die letzten fachdidaktischen Erwägungen haben wieder näher an den hier gewählten exemplarischen Unterrichtsgegenstand herangeführt. Wie oben bereits angekündigt, wird nun eine in Stil und Umfang weiter entwickelte Fassung (v.a. ein Akt über die Maße der Kirche ist hinzugekommen) des Lorenzkirchen-Unterrichts vorgestellt. Das soll folgenden Aufgaben dienen: Die vorgelegten allgemeindidaktischen Reflexionen vor allem zum Lehrkunst-Ansatz sollen zum Schluß dieser Studie noch einmal vor dem Hintergrund des Unterrichts auf den Prüfstand. Zweitens sind meines Erachtens, wie ebenso bereits angesprochen, manche der angeführten Ansprüche vom ersten Unterrichtskonzept noch zu wenig eingelöst. Die zweite „Unterrichtsnovelle“ soll belegen, in welche Richtung eine lehrkunstdidaktische Überarbeitung des Unterrichts meines Erachtens gehen muß. Damit ist ebenso gesagt, daß es aus meiner Sicht auch gute Gründe gibt, dieses Konzept zu erweitern, neu zu formulieren.
Ich vertrete die Ansicht, der Austausch von „Unterrichtsdichtungen“ unter Lehrern nach den oben vorgestellten Grundsätzen ist im entsprechenden Umfeld eine der vielversprechendsten Chancen der Didaktik. Als Dokument in diesem Prozeß, als symptomatische Zwischenstation erscheint mein zweiter Unterrichtsbericht hier also - wie der erste - abgesehen von den nicht mehr vorgenommenen Kürzungen unverändert gegenüber der Erstdruckfassung. In dem Lehrbuch waren die Passagen zur Beschreibung der Kirche und die Sequenz über das Papierfalten im Klassenzimmer, die Spekulationen um das „ideale“ Rechteck allerdings des Umfangs wegen weggelassen worden.
Es wird unten noch Gelegenheit sein, zu Form und Inhalt der „zweiten Unterrichtsnovelle“ Stellung zu nehmen.

Lorenzkirche total


Das Haus Gottes

Die Nürnberger Lorenzkirche in der Evangelischen Wilhelm-Löhe-Gesamtschule in Nürnberg (1992)
(z.T. aus: Berg/Schulze, Lehrkunst, Lehrbuch der Didaktik, Neuwied 1995)

4.1. Rückblick und Neuanfang

Nun sind es schon einige Jahre, seit Begegnungen zwischen gymnasialen Schulklassen - meistens elften - und der Nürnberger Lorenzkirche von mir herbeigeführt werden. Ich habe darüber auch schon einmal geschrieben. Damals sollte der Text vor allem ansteckend wirken und einen Wagenscheinschen Angriff gegen die seminarbetonierte 45-Minuten-Stunden-Pseudogeschäftigkeit, ein vehementes „Es-geht-doch-auch-anders“, vortragen. Und in dem ersten Schwung des gelösten Knotens ist offensichtlich genau das auch entstanden. Heute hat die Lorenzkirche in mir vielleicht nicht mehr nur einen didaktisch motivierten Angreifer, da sind, wie es kommen mußte, auch schon die ersten Wunden, zugefügt von Gegenstand und Schüler. Vielleicht kennen wir unseren Unterrichtsgegenstand erst, wenn wir mit seinen möglichen Wirkungen auf den Schüler leben gelernt haben. Der wirkende Gegenstand ist erst eigentlich der Stoff des Lehrers. Wir sollten deshalb sowohl auf der Seite des Weiterzugebenden als auch auf der Seite der Schüler stehen, nicht auf der Seite eines Vermittlungskonzepts, einer Didaktik. Martin Wagenschein hätte vermutlich den Gegensatz zwischen Schülerorientierung und Gegenstandsorientierung nicht verstanden. Das recht verstandene Eine ist für ihn auch das recht verstandene Andere. Ob ich heute dieser gelassenen Intensität näher bin? Neben etlichen Erfahrungen mit Klassen in dieser Kirche hat dazu möglicherweise auch manche persönliche stille Minute in dieser Kirche das ihre getan. Sie ist nun ein steter Gesprächspartner geworden, zum Beispiel auf dem Weg zur Bank. Und ich glaube, wir wechseln nicht nur angenehme Worte miteinander. Und so will ich nun diesen steinernen Ort, der sich so zuverlässig immer wieder aufsuchen läßt, dem Leser zunächst etwas beschreiben.
Dem Fremden, der die Nürnberger Altstadt besucht, ist St.Lorenz selbstverständlicher Orientierungspunkt. Auch die Einheimischen verabreden sich heute am Wetterhäuschen am Lorenzerplatz. Hier wo die Karolinenstraße in die Königstraße mündet, an zwei tagsüber dicht belebten Einkaufsstraßen, hebt die Westfassade der Kirche das Lebensgefühl. In der Zeit Karls des Vierten, also um die Mitte des 14. Jahrhunderts fertiggestellt, will diese Prunkfassade königliche Kathedralengesinnung demonstrieren. Zwischen den relativ schmucklosen schlanken Türmen wirken der klar abgemessene, reich durchbrochene Ziergiebel und die leicht in ihren Speichen geneigte Rosette edel und monumental. Beide Formen bekrönen das reichhaltige Figurenportal mit weit hochgezogenem spitzbogigem Tympanonfeld.
Aber die Kirche ist keine Königskirche, sie ist nur ein unvergleichlicher Widerhall der französischen Kathedralen mit eigenem Charme. Durchgängig ist sie eher eine exemplarische Bürgerkirche. Mit Privilegierung und Reichsfreiheit durch die deutschen Könige ist zu erklären, daß die Bürger dieser Stadt einer ihrer Pfarrkirchen dieses weltoffene, repräsentative Gepräge gaben. An der Stelle einer erheblich kleineren Kapelle muß um etwa 1270 mit der Errichtung der hochgotischen Basilika begonnen worden sein. Wer die Kirche, wie heute üblich, neben dem Südturm betritt, wird schnell von der strengen Nüchternheit des alten Langhauses, von der klaren Rhythmik des Mittelschiffs gefangen genommen. Man spürt Anklänge an die im städtischen Zeitgeist des späten dreizehnten Jahrhunderts verankerten, asketischen Bettelordenskirchen. Von außen berücken in dieser Gebäudezone die fast im Halbkreis gespannten Strebebögen über den halbhohen Seitenschiffen. Innen geleiten unseren Blick die mächtigen Bündelpfeiler nach vorne in den farbverglasten Chorraum. Die von unbekannter Hand angefertigte Steinplastik an den Säulen ordnet sich dieser Dominante ganz unter. Kurz vor der Chorschwelle überspannt ein hölzerner Regenbogen das Mittelschiff, auf dem ein aus Pardiesesbaum und Kreuz zusammengesehenes triumphales Kruzifìx emporwächst. Seit dem fünfzehnten Jahrhundert mehren sich in der Kirche diese Stiftungen von Patriziern, jener für Nürnberg eigentümlichen städtischen Adelsschicht, die sich gerne mit dem Landadel verschwägerte, dennoch besonnen bei ihren städtischen Leisten blieb, andererseits die Stadt auch vor bürgerlicher Beschränktheit bewahrte und internationale Fäden knüpfte. In den ausgebauten Seitennischen des alten Langhauses haben sich diese Geschlechter, besonders identifizierbar durch die Wappen auf den Totenschildern, ein Denkmal gesetzt.

Hallenchor mit Engelsgruß

Übertritt man die Chorschwelle, erlebt man nun eine gewaltige räumliche Veränderung. Im Eingangsbereich hätte man nicht vermutet, daß dieser lichte Chor die gleiche Länge wie das Langhaus der Basilika hat. Im Jahr 1438 begann man den alten Chor abzureißen und an seiner Stelle eine Halle zu errichten mit schlanken, einfach profilierten Pfeilern, die oben in pflanzlich ineinander verkreuzte Gewölberippenbündel auswachsen, um ein unvergleichliches Netzgerippe, einen feingesponnenen Baldachin über die drei gleich hohen Schiffe zu spannen. Die Integration dieses von zwei Etagen aus großflächigen, farbigen Fenstern beleuchteten „Raumwunders“ in die hochgotische, zuerst asketische, dann im Westen kathedralenhafte Basilika ist die große Leistung der spätmittelalterlichen Bauherrn.

Netzrippengewölbe


Das Netzrippengewölbe im Hallenchor

Diese lichte Halle hätte nun ebenso wie der entsprechende Chor der anderen Pfarrkirche in St.Sebald nach einem die Frommen anziehenden heiligen Mittelpunkt verlangt, so wie sich der Chor in St.Sebald über das Schmiedekunstwerk des Sebaldusgrabes spannt. St.Lorenz ist, obwohl größte städtische Kirche, in dieser Richtung verlegen. Vom Vorgängerbau übernahm man das im Hochmittelalter in Süddeutschland aus politischen Gründen populäre Lorenzpatrozinium. Vom Mittelpfeiler des Hauptportals über die Dreikönigsgruppe im Langhaus bis hin zu der Schlußsteinsymbolik und den Themen der Glasfenster widmen die Gestalter aber stets ihre vorzügliche Aufmerksamkeit der Gottesmutter.
Diese Neigung dürfte in gewissem Widerspruch zu dem letztlich gescheiterten Bestreben gestanden haben, für St.Lorenz und für Nürnberg ein politisch-theologisch klar konturiertes Patrozinium herauszuarbeiten, eine entsprechend zugkräftige Reliquie zu erwerben.
Unter diesen Umständen ist es erklärlich, daß sich der Hallenchor durch den Eifer der Mäzene zu einem Schatzkästchen zahlreicher patrizischer Stiftungen entwickelt und nach und nach eine Reihe ungewöhnlicher Kunstwerke aufnimmt, von denen in der Kürze hier nur drei erwähnt werden sollen, das bis zur Gewölbedecke emporstrebende, gewissermaßen anbrandende, in filigraner Spätgotik kaum zu übertreffende, steinerne Sakramentshäuschen aus der Werkstatt des Adam Kraft und das Hochaltarkruzifix von Veit Stoß, das erst 1824 aus der Sebalduskirche seinen Weg hierher fand, und das berühmteste Kunstwerk der Lorenzkirche, der „Englische Gruß“ von Veit Stoß.

Engelsgruß


Erst 1517 wurde diese aus einem Lindenholzstamm gefertigte, überlebensgroße, ovalrund von einem Rosenkranz mit Bildmedaillons eingefaßte Figurengruppe zwischen Himmel und Erde gehängt. Bekrönt durch eine Gottvatergestalt und die Taube des heiligen Geistes, empfängt Maria durch den Engel Gabriel, der eine Schriftbandrolle an das Ohr der nachdenklich Beseligten führt, die göttliche Botschaft. Dieses unvergleichliche, farbig gefaßte Bildwerk, von einem Marienleuchter von unten beleuchtet, korrespondiert nun zentralräumlich mit dem Rund der beinahe zweihundert Jahre älteren Rosette über dem fernen Portal. Im Jahr der Reformation gibt dieses Bild dem Raum des Hallenchors seinen Sammelpunkt, seine Tiefe und geistige Weihe. Die epiphanische, wundersame Anfaßbarkeit und Buchstäblichkeit der Figurengruppen auf den zahlreichen Wandelaltären wird überstiegen zu spiritueller, entrückter Dauerpräsenz im Raum.
Die Nürnberger folgten ihrem hergebrachten Zug zur politischen Emanzipation, als sie sich vergleichsweise rasch der Reformation öffneten. Bezeichnend für diese Freiheit mit Augenmaß ist, daß die Patrizier dennoch am Erbe der Väter hingen und St.Lorenz einen Bildersturm ersparten.

Hallenchor von Nordosten


Der Hallenchor von Nordosten

Hat die Lorenzkirche also in mir einen ihrer Lehrer gefunden? Mich stört das Wort Lehrer. Sagen wir es vorsichtig verfremdend: Sie hat einen keinesfalls mit perfekter Kompetenz ausgestatteten didaktischen Partner gefunden. Aber der Leser dieses Erfahrungsberichtes soll auch die Anfänge kennen. Blicken wir deshalb zurück, hören wir noch einmal hinein in den vor Jahren entstandenen Unterrichtsbericht, um die didaktischen Anfänge zu verstehen. Da sich in der Grundstruktur nicht so viel geändert hat, kann dies zugleich einen Überblick über einen Teil des ersten Tages in der Kirche geben:
Der monumentale Engelsgruß mußte dennoch verhängt werden, um erst im musealen 19. Jahrhundert in seine neue ästhetische Wirkungsepoche einzutreten. Die museal-empfindsame Romantik hat an dieser Kirche noch manchen Eingriff vorgenommen, ehe die Sprengbomben der Alliierten im letzten Krieg das in sieben Jahrhunderten gewachsene Werk so zerstörten, daß man von einem fünfzigjährigen Wiederaufbau ausging. Dem Geld eines amerikanischen Sproß des Nürnberger Patriziats und dem Fleiß, dem damals noch erschwinglichen Können einer Unzahl von noch in alter Handwerkstradition fußenden Steinmetzen ist es unter anderem zu verdanken, daß dieser Bau heute immer noch jene Besinnung und Staunen hervorrufende Oase in dem städtischen Getriebe bildet, als die er von Anfang an gedacht war.

„Die Schüler - gut, wenn es nicht mehr als zwanzig sind - bilden am unteren Ende des Mittelschiffs, zwischen dem ersten Pfeilerpaar, einen Halbkreis, blicken in Richtung Osten und verstummen. Der Lehrer hat dazu sehr wahrscheinlich nichts getan. als den Halbkreis zu erbitten. So können lange Sekunden, auch Minuten vergehen. Wieder gibt es Gelegenheit, das Thema individuell zünden zu lassen. Die Gegebenheiten, vor allem die Akustik erlauben allerdings anschließend keinen befriedigenden, offenen Austausch. Deshalb setzt der Lehrer ruhig leitende Impulse: „Die Kirche ist ein Weg.“ „Wohin führt er?“ „Zum Kreuz, zum Altar ...“ „Auf diesem Weg gibt es Stationen.“ „Wer befindet sich an den Stationen?“ „Die Heiligen an den Säulen.“ „Am Ende des Weges, den unser Blick mit den nach vorne zu immer würdiger werdenden Heiligen geht, von den Heiligen Drei Königen bis zu den schon nicht mehr deutlich sichtbaren Petrus und Paulus, am Ende des Weges ist das Kreuz, ist ein Altar.“ „Dort ist es anders, wir sehen es hier schon.“ „Dort ist Licht. Dort ist Farbe." „Eine Schatzkammer“, so stellt eine Schülerin fest.
Diese spirituelle Gedankenbahn scheinbar aufgebend, gehen wir, wie es der Ort verlangt, ein wenig vor ins Mittelschiff, blicken hinauf und umher. Welche Fragen sind nun virulent? Wie das gebaut wurde. Wo wurde offenbar begonnen, damals vor knapp mehr als siebenhundert Jahren? „Wir beginnen heute mit dem Keller, Zwischenwände, vor allem aber die Außenwände tragen Stockwerke und Dach!“ Hier ist es anders: Mit den Pfeilern des Mittelschiffs, mit einem Stab im inneren. nicht mit einer Mauer, mit den Gurtbögen von Pfeiler zu Pfeiler. Man mauert über diesen hoch, läßt dabei Fenster frei - die Blicke der Schüler verfolgen es mit ; zieht zwischen zwei gegenüberliegenden Pfeilern von dort oben einen Bogen über die Mitte des Schiffs. Wie eigentlich? Wie kommt man auch über diese Bögen? Auf den Pfeilern befestigt man Balkengerüste, die unter die Bögen gespannt sind. Holzgerüste formen den Bogen vor, die Steine werden „daraufgelegt“. Den Anfang muß der Schlußstein auf der Spitze machen. Und von den höchsten Punkten der ausgemauerten Obergadenfenster werden weitere Balkengerüste hochgerichtet und in luftiger Höhe hinübergespannt. Darauf ein nicht gerade kleiner Tretkran, von Menschenkraft bedient, der hilft, die auf die Holzbögen zu legenden Steine einzuschwenken. „Wie eigentlich bleiben die Steine oben, wenn das Traggerüst weg ist?“ Der Mittelstein drückt durch sein Gewicht die Bogensteine nach außen und damit auf die Pfeiler. Die Bogensteine könnten nur fallen, würden sie nach innen zu Platz haben, um sich abzulösen. Dort aber steckt der Schlußstein. „Der Schlußstein, warum nennt man ihn so?“ Er ist Schluß und Schloß. Er leistet den schlüssigen Zusammenschluß. Man vergegenwärtige sich das Drama des Kirchenbaus - jetzt faßt der Lehrer das Unterrichtsgespräch noch einmal dramatisch zusammen: Auf zwei Seiten hochgemauert, darin Bögen und trotz der Schlankheit lange Fenster, einsam über der Stadt. Noch wirkt alles wie eine bald einstürzende Ruine. Nun werden noch waghalsiger die beiden Seiten verbunden, auch noch durch zwei weitere Bögen über Kreuz, wo der Schlußstein eingesetzt ist. Wird man alles gut einpassen können? Wird der Schlußstein halten? Was passiert, wenn das Gerüst abgenommen wird?
Sicher, wir wissen, gleichzeitig wurden die äußeren Seitenschiffpfeiler hochgezogen, und die darauf gesetzten Strebepfeiler können mittlerweile schon helfen, das Mittelschiff zu stützen. Aber erstens sieht man sie nicht von innen, und zweitens ändert dieser Umstand nichts an der prinzipiellen Richtigkeit unserer Erklärung. Nächster Einwand: Könnte man das aber alles nicht bequemer, klarer, physikalisch anschaulicher mit Kreide an der Tafel erklären? Bis jetzt haben wir versucht, genetisch zu verfahren. Wir wollen den Gegenstand von seinen Grundlagen her erarbeiten, von den natürlichen Anfängen seiner Entstehung und der Entstehung unserer Fragen und unseres Wissens her. Wir wollen ihn ganz, allseitig und daher auch phänografisch unterrichten. Wir bleiben also hier im Gegenstand. Wer unter dem Schlußstein stehend von dessen Größe erfährt, von dessen zentnerschwerem Gewicht und eingeplanter Neigung herabzustürzen, zieht den Kopf ein, ihn berührt die Kühnheit der Erbauer, er späht auf die zahlreichen Bögen ringsum.
Ein Wechsel: Jetzt soll sich die Klasse auf die neuzeitlichen Stuhlreihen setzen. Damit setzt sich auch für einige weitere Momente der Stille das Wissen. Der Apostel schreibt an die Epheser:

So seid ihr nun Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen,
erbaut auf dem Grunde der Apostel und Propheten,
da Jesus Christus der Eckstein ist,
welcher die Wände von beiden Seiten eint,
in dem jedes Bauwerk wächst
zu einem heiligen Tempel des Herrn.

Die Schüler, die diese Anrede und Feststellung einem nun ausgegebenen, gut aufgemachten Textblatt entnommen haben, werden hoffentlich jetzt von selbst die Bezüge herstellen zu Pfeilern und Schlußsteinen, werden im besten Fall das Christussymbol - wir haben uns zwischen das erste und zweite Pfeilerpaar gesetzt - auf dem Schlußstein dieses Joches entschlüsseln. Der Lehrer ergänzt: Ekklesia bedeutet auch Gemeinde. Wenn gebaut wird, wie der Apostel die Gemeinde sieht, so ist die entstehende Kirche ganz sichtbar der Ort der Gemeinschaft mit den Heiligen im Haus Gottes, so taucht dahinter die Idee der Kirche als Abbild des Himmlischen Jerusalem auf. Man kann je nach erreichtem Bewußtsein und je nach vorhandener Konzentration noch dazufügen, wie beim Bau der Kathedralen bereits bei Absteckung des Grundrisses die Pfeiler und Teile des Chores mit entsprechenden Messen dem Schutz der jeweiligen Propheten und Apostel anvertraut und geweiht wurden.
Die Gruppe will sich jetzt auflösen zu dem von der gotischen Kirche herausgeforderten Herumgehen.(. . .)“


Der Gedanke des in der Sache, seinen räumlichen wie baulichen Gegebenheiten liegenden, genetischen Lehrpotentials regiert hier. Es soll die organische Logik des Gegenstands selbst sein, keine sachfremde Analytik, aber eine sachgebundene Organik, die den Betrachter mitnehmen, führen will. Der von der Kirche Lernende geht mit. Aber was in ihm ist mitgegangen, sein Körper, sein Kopf, sein Gefühl? Doch der ganze Mensch?


4.2. Gegenstandsorientierung versus Schülerorientierung?

Das sollte uns interessieren! Wir müssen besser wissen, welche Einflüsse solche Betrachtungen auf den Jugendlichen haben und welche Bedürfnisse angesprochen werden. Keinesfalls ist das eine Rückkehr zur fatalen puren Schülerzentrierung, wo alles sich durch den engen Horizont des unreifen Menschen quetschen muß und sonst nicht existieren darf. Wir fragen anders: Sollten wir nicht genauer hinsehen, wie dieses Gebäude, ohne vom Lehrerkonzept dauernd - und sei es noch so sachgenetisch - gestört zu werden, mit diesen Jugendlichen unserer Tage seine Auseinandersetzung sucht? Es genügt also wahrscheinlich nicht, „daß der Unterricht eine Sinnmitte hat, einen „roten Faden“ als Bezugspunkt aller Einzelheiten, einen geistigen Spannungsbogen, der die Unterrichtseinheit vom Anfang bis zum Ende zusammenhält“ - in unserem Fall die Lorenzkirche als Stein gewordene Theologie, als objektive Ästhetik der christlichen Heilslehre. Er benötigt ebenso „eine wohl überlegte, sachlich zwingende und motivierende Ausgangssituation, eine zielintensive Problemstellung (...), aus der sich die weiteren Schritte mit Folgerichtigkeit ergeben“.
Ohne weiteres können wir uns dabei auf Wagenschein beziehen: „Die Hauptaufgabe des Lehrers: er muß eindringlich helfen, daß alle das Problem, die Frage als solche, sehen. Mehr nicht, mehr kaum. Aber das ist viel. Ohne dies geht es nicht, aber es genügt auch schon, denn wir dürfen Vertrauen haben - eben dies meint ja Sokrates -, daß das Innewerden eines Problems den Suchenden von selbst zur Lösung schon hintreibt.“
Fragen wir in diesem Sinne gründlicher und neu nach dem Zünden des Problems im Subjekt und widmen wir uns dem intensiver, so sind wir übrigens keinesfalls zwingend in entwicklungspsychologischen und stufendidaktischen Vorüberlegungen verfangen. Dazu genügt ein Lehrer - natürlich auch seine gewisse, hoffentlich aber nicht zum Vorurteil gewordene Erfahrung - und seine konkrete Lerngruppe, die sich in diesem Sinne erst einmal finden und vor dem Problem konstituieren muß.
Wir benötigen also erstens die genetische Anlage des Lehrgangs - den roten Faden; zweitens die schülerorientierte Exposition der Leitfrage und die durch den Lehrer für den Schüler offene sokratisch-genetische Grundgestimmtheit in jeder Phase des Unterrichts.
Unsere Schüler gehen nicht mehr in die Kirche. Liegt es auch an der Befremdlichkeit der Gebäude? Gerade in der spätpubertären Umbruchsphase der elften Klasse, wo antikirchliche Ressentiments entweder mit in die Adoleszenz genommen werden oder in herangereifter Besonnenheit neu überprüft werden, empfiehlt sich deshalb vielleicht eine behutsame Arbeit mit einem kunstgeschichtlich-theologischen Kirchenthema.
In diesem Alter werden Weichen gestellt. Wir sollten den Schüler dabei nicht in falsch verstandener Anpassung an seine modische Oberfläche allein lassen und ihn nicht mit solchen Dingen wie religiösen Ritualen, Traditionen des Kirchenbaus und der Liturgie unbehelligt lassen, nur weil zeit- und altersbedingte Klischees sich dazwischenstellen. Wir versuchen daher die Schüler gerade von diesen Fragen her zu gewinnen: Kann für mich ein Kirchengebäude bedeutsam sein, kann es überhaupt etwas leisten? Was kann ich von einem Kirchgang erwarten? Wie haben Kirchengebäude und der Gottesdienst in der Kirche mich enttäuscht, abgeschreckt oder auch positiv geprägt?
Mit solchen Erhebungen und klärenden Ordnungen unserer Gedanken, mit Meditationen und geeigneten provokativen Bildern und Gegenständen versuchen wir in der Schule das Feld zu bereiten für eine Woche Unterricht mit der Lorenzkirche. Wir arbeiten aber, wie gesagt, nicht in erster Linie schülerorientiert. Unsere Aufgabe ist auch die Lorenzkirche, die Geistigkeit des Mittelalters als Kulturgut, mit ihm müssen Schüler in unserer Kultur bekanntgemacht werden, wenn sie in ihrer Tradition, die in allen relativistischen und skeptischen Gegenwartsgestalten eine christliche ist, sich orientieren sollen. Stellen wir also nur unsere Reflexion, nicht aber die Erarbeitung des Gegenstands primär unter die Perspektive subjektiver Betroffenheit.


4.3. Die Akte des Lehrstücks

Das Ineinander von Schüler-Subjektivität und didaktisch aufbereitetem Gegenstand kann hier nur in kleineren Details versuchsweise berichtet werden. Den roten, „genetischen“ Faden des Projekts aber will ich im Folgenden durch einen gerafften Abriß kenntlich machen.
Die Teile der Unterrichtseinheit werden dabei in Analogie zu der Lehrstückmetapher als Akte bezeichnet. Diese Akte decken sich konzeptionell mit den Arbeitstagen. Aber natürlich darf das nicht zu starr aufgefaßt werden. Eine gotische Kirche ist in ihrem Inneren ein Gefüge verschiedener Gestaltungsdimensionen. Diese prägen die Akte unserer Unterrichtseinheit und stellen die Leitprovokationen für den Schüler dar.

I. Akt: Das Bauen
Wir fangen unsere Arbeit, wie gesagt, mit Feldbereitungen in der Schule an. Bleiben wir in der Dramen- und Lehrstückmetapher, so suchen wir in diesen Vorbereitungen die Antwort darauf, wie der Besucher eigentlich ins Theater kommt, wo unser Stück stattfindet. Dazu unten mehr.
Der erste Akt wird dann mit einem Kirchgang eröffnet. Ziel ist es, Lage und Anlage der Kirche und ihres Kirchenweges zu erspüren. Die womöglich noch schwerwiegende und diffuse Distanz zu dem Projekt wird hierbei den Teilnehmern erst richtig klar. Wir betreten nach kurzer Zeit bereits das Innere und versuchen im Inneren mit der (gotischen) Kirche zu „gehen“ und zu unterrichten. „Die Kirche lehrt selbst“ heißt der anspruchsvolle, aber auch heuristisch wertvolle didaktische Grundsatz. In diesem Sinne suchen wir unter anderem einen baulichen „Sammelpunkt“, widmen uns neben der Frage der Bautechnik auch dem mit Bibeltext belegten, in der Symbolik der Schlußsteine gipfelnden ekklesiologischen Bauprogramm, dem vertikalischen und mit „unendlichen“ Perspektiven operierenden Stilwillen (vergleiche dazu auch die oben eingefügte, frühere Schilderung).
Texttafeln sammeln in der zum Unterrichtsraum gewordenen Sakristei die entsprechenden Provokationen der mittelalterlichen Kirche an den modernen Besucher:
1. Die Kirche ist der Weg, begleitet von den Heiligen an den Säulen, über das Kreuz auf dem Hauptalter nach oben durch das Chorfenster zum Licht.
2. Nach Paulus (Epheser 2) zeigt die Bogenarchitektur der Kirche, zu der wir gehören, in den Pfeilern den Grund der Propheten und Apostel, in den Schlußsteinen Jesus Christus, der alles eint und zusammenhält.

II. Akt: Das Ausstatten
Die Ordnung in dem figürlichen Gewimmel kann auf dieser Grundlage erst erfaßt und diskutiert werden. Bei uns in der Lorenzkirche ist es ein von einer Marienfigur über einen Engelsgruß (Mariae Verkündigung) zu einem Kreuz als Lebensbaum, bis zu Symbolen der Dreifaltigkeit und des jüngsten Gerichtes (Rosette) aufsteigendes „heilsgeschichtliches“ Programm, das dem Besucher nicht ohne weiteres auffällt, das auch nirgends ins Auge springt, dennoch „objektiv“ das Ausstattungsverhalten bestimmt hat. Ein Foliensatz, der uns die Stücke in der Nachbetrachtung im Overlay-Verfahren konstruktiv reflektieren läßt, leistet hier wichtige Dienste. Vertiefen können wir die Einsicht in die theologisch geleitete Ästhetik des Gebäudes durch eine Etüde zum Baumaterial. Eine Materialkiste und zeitgenössische Texte dienen dabei als Unterrichtsmittel. Diese Sequenz wird vor und mit einem der farbigen Glasfenster abgeschlossen.


Die Provokationen:
1. Die Kirche enthält in ihren Ausstattungsstücken die Heilsgeschichte. Sie geht vom unten stehenden Menschen (Sünde?) über den ersten Bund (Regenbogen) zum zweiten Bund (Christi Kreuzesopfer). Sie geht dann weiter zu Gott Vater und zur Ewigkeit (Rosette). Dazwischen spielt Maria eine bedeutende Rolle. Diese Hierarchie wurde über Jahrhunderte beim Einbringen neuer Stücke beachtet. Kein Mensch kann das auf einen Blick sehen. Es wurde aber beachtet (objektive Ästhetik).
2. Die Kirche arbeitet mit der Gleichsetzung Licht = Gott, d. h. heilige, gottgefällige Materialien sind solche, die auf Gott reagieren (siehe z. B. Glasfenster)

III. Akt: Vieles entdecken
Nach Diskussions- oder Interessenlage, aber auch nach vom Leiter erachteter Zweckmäßigkeit werden kleinere Aufträge vergeben. Flexibilität und Plan müssen hier beide Platz haben. Solche Aufträge können sein: Vergleich des Erarbeiteten mit dem Figurenprogramm des Portals, Sinn und Wesen der Altäre (ausgestattet mit einfachen Schlüsselbegriffen oder Schlüsseltexten), Maria als eigentlicher Kirchenpatron und Kirchenheiliger. An dem Marienthema wurde in einer der Durchführungen besonders der Wert dieser Phase deutlich. Die Schüler arbeiteten hier beispielsweise fruchtbar und selbständig mit einer Mischung aus alterstypischem Spekulationsdrang (elfte Klasse) und in den beiden Tagen geprägtem theologisch-historischem Grund weiter und erarbeiteten mit Analogien zum heilsgeschichtlichen Plan des Vortages eine an den Phänomenen entstandene marienkundliche „Kirchenführung“.
„Provokation“: Der Lehrer soll lernen, von den Schülern zu lernen.

IV. Akt: Ein Maß ist gesetzt
Am einzelnen soll sich das Ganze zeigen. Wir dürfen uns nicht im Episodischen, in Heiligenlegenden und theologischen Debatten verlieren. Eine jede historische Kirche hat ihr Maß. Ihm hilft der Lehrer auf die Spur. Wir gehen ihm nicht in dem Nebenraum der Kirche (Sakristei) wie sonst nach, sondern im Klassenzimmer mit Kirchenplänen und Zirkel. Proportionen können erkannt werden und mit ihnen kann ebenso die Kirche alternativ ausgeführt werden. Der Vergleich mit anderen Kirchengrundrissen kann helfen. Die Tatsache eines monumentalen Anbaus an die Lorenzkirche, der spätgotische Hallenchor, erleichtert hier den Zugang.

Schüler beim Zirkeln


Kulminieren müßte diese Betrachtung im Aufschließen der grundlegenden geometrischen Figur, des gleichseitigen Dreiecks. Das Maß der Baumeister ist aber auch eine kleinste Längeneinheit, etwa bei uns der Nürnberger Schuh. An überschaubaren Elementen, etwa einem Pfeiler, einem Altar oder einem Nebeneingang außen, kann eine Gruppe in Vorbereitung des letzten Aktes mit diesem Maß auf Entdeckungsreise gehen.

Die Provokation:
Die Baumeister der St.-Lorenz-Kirche entwickelten alle Maße der Kirche aus einem gleichseitigen Dreieck. Deshalb konnten sie auch von 1438-1477 einen neuen, monumentalen Hallenchor anbauen, ohne die Harmonie zu stören. Die Seitenlänge des gleichseitigen Dreiecks = 4 mal 27 Nürnberger Schuh.
27 = 3 mal 3 mal 3 : Symbol der Dreieinigkeit.
In der Höhe des Dreiecks (Höhe der Schlußsteine = Wurzel 3 Halbe a) kommt man auf eine nicht meßbare, irrationale Zahl. Hier kommen geometrische Klarheit und mathematische Unendlichkeit zusammen. Gott bedeutet zugleich das Eine und Einfache und das Unendliche.


V.Akt: An die Öffentlichkeit
Schon vor der Kirchenwoche wurde festgelegt, wie eine spezifische, vorweisbare Schülerleistung als Ergebnis dieser mit dem Ausfall der Mehrzahl der regulären Unterrichtsstunden verbundenen Projektwoche aussehen könnte. Im Verlauf der Zeit wurde jeder Schüler einer Arbeitsgruppe und einem Thema zugeteilt. Jede Gruppe erstellt ein Blatt für einen elementaren kulturgeschichtlichen Führer zu unserem „heimatlichen Dom“. Dieses DIN-A4-Blatt enthält neben einem einführenden und die Ergebnisse zusammenfassenden Text gegebenenfalls auch eine Zeichnung. Und jede Gruppe benennt auch ein oder zwei Schüler, die an einem Abend mit den Eltern diesen Führer am Objekt, das heißt in der Kirche vorstellen. Solche Gruppen waren bei uns zum Beispiel:

1. Das Kircheninnere als Weg. Die Symbolik der Pfeiler und Schlußsteine.
2. Das heilsgeschichtliche Ausstattungsprogramm im Inneren
und am Kirchenportal.
3. Mittelalterliche Ästhetik, gezeigt an einem Glasfenster.
4. Liturgische und religiöse Bedeutung der Bestandteile
eines spätmittelalterlichen Altars.
5. Maria als eigentlicher Kirchenpatron
6. Das Maß der Lorenzkirche

Vor der Führung für die Eltern, bei der der Lehrer durchaus auch seine fundamentalen Informations-und Hilfspflichten zu erfüllen hätte, kann ein freiwilliger Besuch eines Vespergottesdienstes die Kirche in ihrem heute immanenten Widerspruch zwischen baumeisterlichem Gottesdienst im Mittelalter und aktuellem gemeindlichem Gottesdienst abschließend beleuchten. Andererseits kann dieses Blatt aber auch eher einen Bericht vorstellen und die Diskussion dokumentieren. Stets haben wir uns nach Bedürfnis in die geräumige Sakristei der Kirche zurückgezogen und dort die Provokation wirken lassen, unsere Zweifel und Eindrücke geäußert. Wie wäre es, wenn die Klasse mit dem Ergebnis ihrer Reflexionen den Unterricht anschaulich referierend im Jahresbericht der Schule an die Öffentlichkeit träte? Der Lehrer muß hier mit seiner Gruppe diese oder eine andere dem Verlauf und der Klasse angemessene Variante finden. Natürlich gehört zu diesem letzten Akt auch, daß wir uns jetzt wieder, nach Wochen, unseren Positionen zu Kirchenbau und Kirchgang stellen, die wir am Anfang bezogen. Wie stehen wir jetzt zu den verdinglichten Traditionen unserer christlichen Welt? Der Religionslehrer der Klasse hat uns, so gut es ging, begleitet, er hat natürlich hier auch mitzureden.

4.4. Die Einwurzelung im Unterricht

Soviel zur Lehrgestalt, nun zur anderen Seite, gewissermaßen zur abgewandten Seite des Mondes, zur Einwurzelung dieser Gestalt in die Gegebenheiten des Schulalltags. Vielleicht ist hier wieder eine andere literarische Form zu wählen. Wir wollen authentisch sein. Das Folgende ähnelt daher in vielem einem Tagebuch. Manche der oben festgehaltenen Positionen wird hier wieder auftauchen, aber unter der Lupe, die sichtbar macht, wie im Lehralltag die widerstreitenden didaktischen Erfordernisse entstehen und ineinandergreifen.

Ein Tag im Oktober: Es sind nun noch etwa vier Wochen bis zur Projektwoche. Es ist die vierte für mich, und ich fühle mich schlecht.
Zur Klasse: Meine diesjährige Elfte besteht aus (nur!) 22 Schülern, zur Hälfte etwa jeweils Jungs und Mädchen. Ich unterrichte sie nur in Deutsch (mit der Verbindung Deutsch-Geschichte habe ich eigentlich gerechnet) Die ersten Wochen mit der Klasse lösten nahezu Euphorie aus. Der Lehrplanabschnitt „Vertrautheit mit einem dramatischen Werk der deutschen Klassik“ vermittelt nach meiner Erfahrung den Schülern ganz neu die Möglichkeit, reife Persönlichkeit gegenüber den Bildungsgehalten zu entwickeln. Für mich sind in diesem Fall alle Gesichter neu. Wir beleben uns gegenseitig.
Ich hätte aber wieder einmal gewarnt sein sollen: Besser ist es, von Anfang an zu klettern und mühsam zu arbeiten. Wer steil startet, muß um seine Landung besorgt sein. Wir dürfen aber nicht abstürzen. Was würde das für das anstehende Projekt bedeuten? Die ersten schriftlichen Arbeiten sind niederschmetternd im Vergleich zu den im Unterricht sichtbaren theoretischen Leistungen. Aha, typisch mathematisch-naturwissenschaftlicher Zweig! Die Klasse fürchtet - offenbar schon länger - das Ertapptwerden, baut schon mal vor, das Verhältnis verschlechtert sich. Ausweichmanöver, Signale der Leistungsverweigerung greifen um sich. Die anderen Fächer haben hie und da schon besorgniserregende Noten produziert. Man ist sich unter den Schülern einig: Der Schule gegenüber ist Bremsen angebracht.

Ein Tag im November: Vielleicht ist der Tiefpunkt schon erreicht. Heute: die Schulaufgabe. Ich bilde mir ein, noch nie die Anforderungen in der Aufgabenstellung so niedrig gehalten zu haben. War das schon ein Rückzug, der Anfang vom Ende? Ohne Zweifel eine Klasse, die die Projekttage als willkommene Freizeit auffassen wird. Ohne Zweifel wird sie erst recht keine selbständige Nacharbeit mitmachen wollen. In der Kirche vielleicht Strohfeuer, und danach? Ohne Zweifel? Wie gesagt, vielleicht ist der Tiefpunkt schon erreicht. Es kann nur noch besser werden. Wir müssen uns wieder ansehen.
Tage später: Sie haben sich bemüht: Viel Schwäche bei aller Bemühung, ein paar Dokumente von Fleiß, drei, vier Arbeiten, die Früchte des Unterrichts dokumentieren. Die Schulaufgabe kann als Friedensangebot aufgefaßt werden.
Am Montag haben wir eine Nachmittagsstunde. In ihr mache ich mich daran, nun bestimmter den Boden für die Projektwoche zu bereiten, nachdem vor einigen Stunden schon einmal die Formalitäten bekanntgegeben worden waren, etwas Neugier, etwas Skepsis erntend.
Exkurs: Für den Schüler heißt das Thema nicht „Lorenzkirche“, es heißt „Ich und die Kirche“. Und wenn wir uns auf den Kopf stellen, jeder Durchgang hat es bisher gezeigt, es ist so. In diesem Punkt, wo sie nötig wäre, verweigern die stets durch übermäßige Distanz ärgernden Schüler die Distanz. Sie beziehen das partout in solch erdrückender Weise auf sich und belasten den Unterricht durch Gretchenfragenmanier. Sie konstatieren unbeugsam: Ich hab’ mein Verhältnis zum Glauben, zu Gott, die Kirche wirkt darin aber nur störend. Oder: Ich gehe nicht zur Kirche, Glauben hab ich auch keinen, also interessiert mich das alles nicht.
Woher dieser innere Abwehrschrei?
Es ist bezeichnend, daß für den Heranwachsenden die Wahrheit innen liegt, im eigenen ehrlichen Empfinden; draußen liegen die unwahren, verlogenen Konventionen. Es ist die Zeit der kritischen Subjektivität. Gleichzeitig besteht das Bedürfnis nach neuer Verbindlichkeit. Man tastet hinüber in die Stufe, in der den Traditionen in irgendeiner Weise wieder getraut werden kann, Verbindung unter den Subjekten wieder entsteht, unter anderem, indem das Symbol in sogenannter „zweiter Naivität“ (Fowler) wieder wirksam werden kann. Deshalb geht der Schüler gleich aufs Ganze. Ich und die Kirche als steinerne Objektivität, ich und der Gottesdienst! Und wehe, hier will mich jemand unter der Hand, indem er anscheinend nur über das Mittelalter reden will, für etwas vereinnahmen. Deshalb ist hier erst einmal mein Fehdehandschuh. Wir müssen ihn aufnehmen, ob wir wollen oder nicht. Wir müssen ihn so aufnehmen, daß wir fragen, was die Lorenzkirche als Gegenstand, als spätmittelalterliches Frömmigkeitsdokument von seiner bis in alle Einzelheiten hinein wirkenden Bauidee und kultureller Gestalt her mit diesen Problemen zu tun hat. Und wir müssen ihn so aufnehmen, daß wir fragen, ob der Schnittpunkt beider Seiten als genetisches Potential, als unterrichtliche Leitidee taugt, derer die Schüler im Sinne Wagenscheins so „innewerden“, daß sie zur „Lösung des Problems“ (Lorenzkirche) „von selbst hintreibt“.
Dieser Quellpunkt existiert. Es ist die Frage nach dem Miteinander von objektivierter Religion und Evangelium, die genuin protestantische Frage nach dem Verhältnis von Gottes froher Botschaft und den Werken der menschlichen Religion. Der jugendliche Vorbehalt gegen Heiligenkult und ästhetisches Effektbrimborium wird speziell von protestantischer Seite eher genährt als relativiert. Die spätgotische Kirche ist aber selbst auch nicht einfach der Kontrapunkt, die hemmungslose Werkseligkeit, sondern ein immer problematischer Versuch der beständigen Aufhebung der religiösen Verdinglichungen durch neue Verdinglichungen, zuletzt durch die Transzendenz in Form einer gerade durch menschliches Werk deutlich gemachten Unmeßbarkeit als der Unendlichkeit Gottes. Es ist eben der Versuch, dem Unendlichen mit endlichen Mitteln so gerecht zu werden, wie das möglich und gestattet ist.
Die die Lorenzkirche und die Befindlichkeit des Schülers verknüpfende Leitfrage lautet also: Wieviel Verdinglichung, Veräußerlichung verträgt/braucht christlicher Glaube?
Zurück zu meinem Bericht: An diesem Montag habe ich zwei Bibeln dabei. Die eine habe ich zu meinem dreizehnten Geburtstag bekommen. Sie ist schwer büchertaschengeschädigt. Seit einmal die Tasche voll Schnee war, sind alle ihre Seiten gewellt, der Rücken ist teils abgerissen. Die andere Bibel ist eine Hausbibel mit Goldschnitt, von den Eltern zum Hochzeitstag überreicht. Wir setzen uns im Kreis. Die Schüler nehmens lebhaft auf und behaupten, das seit der sechsten Klasse nicht mehr getan zu haben. In der Mitte steht ein Tisch, darauf lege ich die beiden Bücher und stelle sie vor. Anschließend sollen die Schüler still sich diesem Anblick aussetzen - zumindest eine Minute lang. Es werden drei Minuten, denn Vanessa, eine der intelligentesten Schülerinnen, hat einen vierzig Sekunden langen Lachkrampf, ich sitze ihn einfach aus.
Das Gespräch kommt anschließend doch recht leicht in Gang. Die Schmuddelbibel würde man nicht gern in die Hand nehmen, aber auf das Aussehen kommt es überhaupt nicht an. Gregor, ein ebenso intelligent wie hochmütig wirkender Skeptiker, legt fest: Die Schmuddelbibel ist die interessantere, denn sie erzählt wenigstens von einem Menschen. Das geht so zehn Minuten, besonnen, kritisch, mit, wie mir scheint, wachsendem Problembewußtsein.
Auf einem Blatt ist eine Zeichnung einer gotischen Kirche kopiert und daneben von meiner Hand ein modernes Gemeindehaus, funktional, mehrere Räume, ein konzentrisch angelegter Versammlungsraum darin, wie der beigefügte Grundriß verrät. Ich kündige eine Erhebung an, die ich für den weiteren Gang des Projektes brauche. Ich bitte daher um Ehrlichkeit. Unter den „Kirchen“ finden die Schüler die Frage: Wie sollte eine Kirche aussehen, damit Sie wieder einmal (besonders gerne), den Gottesdienst besuchen? Man schreibt unverzüglich los. Die Bandbreite der Ergebnisse, die Häufungen und Streuungen der Positionen, die ich später lesen werde, und die Reaktionen der Schüler überhaupt machen mir eigenartigerweise erst jetzt klar, daß ich jetzt nicht mehr einfach im Projekt weitermachen kann, ohne mit dem Religionslehrer in Verbindung zu treten. Nach der Stunde werde ich von etwa zehn Schülern, nachdem ich zwei kirchlich Engagierte direkt angesprochen habe, ob sie Erfahrungen mit alternativen Gottesdienstformen haben, in eine heftige Schnellschußdiskussion verwickelt, in deren Verlauf viel Unmut über unsere Schule abgelassen wird, insofern diese durch ihr Verhalten genau das kaputtmachen würde, was sie als evangelische Schule eigentlich pflegen müßte. Nach den zehn Minuten gebe ich zu verstehen, daß im Augenblick, an diesem Nachmittag noch ein Grundkurs mit der Geschichte im Vormärz auf mich wartet. Gregor hebt wissend die Augenbraue und dreht scharf auf dem Absatz ab. In den folgenden Stunden - eingestreut in das normale Pensum - versuche ich diese Erfahrungen zu vertiefen und zugleich näher an die Lorenzkirche heranzuführen. Ein markantes Element daraus sei hier kurz vorgestellt. Der Nürnberger Engelsgruß von Veit Stoß ist bekrönt von einer derb-expressiven Gottvater-Gestalt, mild-besorgt-weise-streng, natürlich auch selbst bekrönt.
Die ausgehändigte Kopie einer Nahaufnahme reizt zu Auseinandersetzung und vielfältigem Umgang. Das dokumentiert sich u. a. in Texten, die die Schüler frei verfassen. Flotte zynische Gedichte und Abhandlungen sind darunter. Einige Schüler haben anschließend ihr Resümee dieser Stunde gezogen:

Gottvater


GOTTVATER - ODER EIN SYMBOL EINER UNTERGEHENDEN
RELIGION

Würden Sie von diesem Mann einen Gebrauchtwagen kaufen?

Für Veit Stoß jedenfalls war diese Holzfigur mit all ihren Gesichtszügen und markanten Merkmalen charakteristisch für Gott Vater. Oder war es einfach nur ein Kunstwerk, für das er Geld bekam? Wir stellten uns die Frage, was dieses Bild für uns bedeutet und aussagt. Den meisten fiel es relativ schwer, Gott mit diesem Bild zu identifizieren, zum einen wegen seines abwesend wirkenden und schielenden Blickes, zum anderen wegen der zu groß geratenen Krone und den vielen Sorgenfalten im Gesicht. Einer hielt es sogar für pure Manipulation der Gläubigen, frei nach dem Motto: „Gott sieht besorgt aus, weil zu wenig gespendet wird“ oder „weil der Glaube bei den Schafen Gottes stark nachläßt“. Dieser enttäuschte Blick und diese sorgenvolle Miene allerdings passen nicht zu Gott - eher zu Menschen.
Ist es nicht Er gewesen, der die Menschen geformt hat, der sie wollte, der alles auf Erden geschaffen hat? Warum aber dann sollte Gott so traurig schauen? Sieht er ein, daß sein Geschaffenes nicht so gut ist, wie er angenommen hat? Hat er Fehler gemacht? Kann er denn überhaupt Fehler machen? Wer oder was ist Gott überhaupt? Gott ist wohl das, was jeder selbst mit dem Namen „Gott“ verbindet. Jeder kann sich sein eigenes Bild von unserem Vater machen, oder auch nicht! Dieser Holzschnitt hier ist nur eine von 5999999999 Möglichkeiten, eben die des Veit Stoß, mit dessen Hilfe er eigentlich das Glauben erleichtern wollte. Doch das ist noch lange kein Grund, diese Figur für die allgemeine und endgültige Lösung zur Verkörperung Gottes zu halten. Viele halten deshalb auch diese Figur für zu menschlich.
Dazu ein Gedicht einer Schülerin:

Sorgenfalten im Gesicht,
Sorgen auch in seinem Blick.
Der Bart zeigt große Weisheit an,
mit der er nicht viel machen kann.
Die Krone macht zum König ihn,
drum sollen alle loben ihn.
Um zu verkörpern jede Eigenschaft,
Veit Stoß ihn einfach zum Menschen macht.

„Aber es ist doch irgendwie komisch, sich über eine Holzfigur den Kopf zu zerbrechen.“

Der letzte Satz dieses Textes öffnet uns einen Spalt breit den Einblick in das eigentliche Thaumaston dieser jungen Menschen. Das Nah-Hinsehen, der ernsthafte, auch ausdauernde Umgang mit einem begrenzten Gegenstand wird als ein Zugang zu einem weiten Raum erahnt, der die Symbole aus ihrer Gleichsetzung mit schon Bekanntem freisetzt. Es schwingt aber auch etwas Schaudern mit: Was soll denn da wohl noch alles herauskommen?
Wir müssen uns klar darüber sein, daß unsere Wagenscheinsche Beharrlichkeit heute stört, daß ein Kirchenthema provoziert und daß es besonders diese Altersstufe provoziert. Der Pädagoge, der hier als Erzieher in Neuland zieht, muß sich daher seiner Gewalttat bewußt sein. Bildung erfordert aber Fairness und Vertrauen. Hier darf also nicht mit verdeckten Karten gespielt werden. Das ist nicht einmal so schwer. Genau betrachtet, ist der Lehrer nicht einfach nur der Parteigänger der mittelalterlichen Zumutung „gotische Kirche“, er ist zwar ihr Anwalt, aber dem Mittelalter nicht weniger fremd. Er darf und kann also den Widerstand der Jugendlichen als den seinen annehmen und ausleben lassen, in der günstigen Situation dann aber auch wieder entschieden in die Rolle des Provokateurs schlüpfen. Flexibilität ist ein formales Element der sokratisch-genetischen Methode.


4.5. Sokratisch-genetisch, offen und doch zielgerichtet

Wie das aussehen könnte, will ich an einer Episode aus dem ersten Tag in der Kirche zeigen. Erwartungsgemäß ist der Anfang unsicher. Unter den Bögen und Schlußsteinen sind wir in nicht geringer Gefahr, abhaken zu müssen und im Projekt weiterzuziehen. Eine frühere Klasse hat sich hier an der Symbolik festgebissen: Wenn der Bogen die Kirche darstellt, wo sind dann wir dargestellt, wo sind wir im Bau, die wir nicht minder zur Kirche gehören? Eine fruchtbare Frage. (1)
Diese „Naturwissenschaftler“ hier allerdings geraten nicht in Bewegung. Gregor will aber doch zeigen, daß er etwas weiß: „Die Schlußsteine wurden übrigens als erste gesetzt.“ Wie? Dann hält er doch nicht! Ach so, ja, das Leergerüst! Dann geht das natürlich. Sven reicht es jetzt. Er muß diesem Blödsinn ein Ende bereiten. Man baut selbstverständlich von unten nach oben, und zuletzt gibt der Schlußstein den Zusammenhalt. Da kann man auch die Kunsterzieherin fragen! Die Mehrheit ist für Sven und gegen Gregor, dem der Ausgang dieser Diskussion aber eher egal ist. Wir gehen in unsere Sakristei. Die Frage wird wiederbelebt. In Gregor vermute ich sokratisch eine beondere Kompetenz, sonst würde er so Abwegiges nicht sagen. Er bringt uns aber keine plausiblen Beweise. Ich ziehe nun den Zettel wieder hervor: Wenn die Frage also ungeklärt ist, kann dann unser Bibeltext weiterhelfen? Muß Jesus Christus, der Eckstein, in Kirche und Bogen nicht zuerst gesetzt werden? Das geht nun endgültig über die Hutschnur. Aus den hin und her gehenden Wogen ist mir der Ausruf von Robert im Gedächtnis: „Geben Sie uns wirkliche, logische Gründe, nicht immer nur ethische!“ Das Gefecht geht weiter. Macaulay (2), den ich vorsorglich mitgebracht habe, erklärt uns noch einmal den Kathedralenbau. Jeder hat dessen schöne Zeichnungen auf einem vorbereiteten Arbeitsblatt vor sich. Ich habe die Befürchtung, einige haben noch nicht ganz die technische Frage begriffen. Ich ziehe also von der heftigen Diskussion ab und erkläre ruhig noch einmal die Gesamtheit der Baudetails. Sven und Wolfgang stoßen nun vor. Und richtig - für mich völlig überraschend - bei Macaulay senkt sich vom Tretkran her der schwere Schlußstein auf die bereits fertigen Rippenbögen herab. Man triumphiert. Meine heftige Gegenwehr, wieder mit dem mittelalterlichen Denken, wird mitleidig angehört.
Entspannung tut nun not. Eine Gruppe geht hinaus und besieht sich noch einmal die Schlußsteine, ihre Bilder, was bedeuten sie? (3) Eine andere Gruppe bleibt im Raum. Mit Klötzchen bauen sie Bögen, um das anschließend vorzuführen. Die Betrachtung der Vorführung ist spannend, sportlich, meditativ Solange der Schlußstein noch fehlt, müssen zwei zusammenhelfen, und jeder muß sein fragiles Bogenteil halten. Ein Dritter muß dann vorsichtig den Schlußstein schlüssig einfügen.

Schüler beim Bogenbauen

Was hat sich nun getan? Aus der Versteinerung wurde Geröll und nun allmählich Flüssiges. Der Aggregatszustand hat sich geändert. Wir gewöhnen uns in der Kirche ein. Ein kreisender Unterricht kann sonst den Schüler mehr frustrieren als anregen. Nun geraten wir aber in eine entspannte Kreisbewegung, wo der Gedanke an das Ziel nicht mehr die Beweglichkeit hindert.
Es sind Kreisbewegungen des Wachsens. Folgender Dialog wird überhaupt nicht als katastrophal empfunden: Ich: „Wir sollten zu einem Ende kommen“. Robert: „Zu welchem Ende eigentlich“. Markus: „Ich glaube, zu welchem Ende, wissen wir überhaupt nicht.“ Sonja, eine sonst recht schweigsame Schülerin, sagt später leise zu allen daß die Erbauer der Kirche dabei wohl ganz im Glauben und mit dieser Bibelstelle verbunden bauten und dachten, dabei aber auch ganz zweckmäßig vorgingen, wie wir. Ich bekräftige das, aber nur so, wie man eine Meinung respektiert. Die Willigen, die Überzeugten, die Stillen müssen in dieser offenen Unterrichtsform besonders viel Geduld aufbringen.
Sie müssen lernen, gegebenenfalls den Auseinandersetzungen aufmerksam, genießend, gelassen zuzusehen. Nichts ist also hier entschieden. Wir können aber festhalten, daß wir nun eine vertiefte, an unser Empfinden und persönliches Denken geknüpfte Kenntnis der Provokation haben, im Mittelalter hätte die Theologie die Statiker und Architekten geleitet. Das halten wir zuletzt auch schriftlich fest. Fast der ganze Vormittag ist schon vergangen. Zwischendurch führt Gregor an, er kenne den Steinmetzmeister, der mit seinem Betrieb für die laufenden Renovierungsarbeiten hier an der Kirche betraut ist, er sei ein Mandant seines Vaters. Ich kenne ihn zufälligerweise auch als Kunde. Kann man ihn für die nächsten Tage einmal für uns einspannen? Schwierig! Bei einem Rundgang am letzten Tag, wir haben bereits andere Themen, treffe ich den Mann zufällig in der Kirche. Mit schwerem Gerät wird ein prosaisches Lüftungsloch in eine Gruft gebohrt. Er gewährt uns zwanzig Minuten. In der Sakristeirunde erklärt er mundartlich, umstandslos, daß und warum der Schlußstein, technisch betrachtet, als erster gesetzt werden muß. Sybille gibt nicht auf: „Sagen sie mir bitte, ob sie jemals, wenn Sie hier in der Kirche mit Schlußsteinen oder Bögen zu tun haben, ob Sie dann dabei an Jesus Christus und an die Propheten denken?“ „Naa gor net, des is für mich a Erberd wie a jede andre a!“ Ich greife ein. Darauf ergänzt der Meister: „Aber die früher ham des ganz sicher dabei im Kupf ghabt.“ Ich möchte noch etwas weiter verblüffen und erzähle von unserer Auseinandersetzung mit den Maßen, der Symbolik der sakralen Zahlen und der geometrischen Formen. Jeder erwartet, daß das dem nüchternen Sinn des Steinmetzen zu weit hergeholt erscheint. Indessen der Meister bestätigt das, widerspricht mir aber im Punkt, die Grundfigur sei das gleichseitige Dreieck, er sei bei all seinen Arbeiten immer wieder auf das Quadrat gestoßen. Es gibt hier keine Sieger. Das Mittelalter steht in seiner Erstaunlichkeit, in seiner ungeheuerlichen Verbindlichkeit der Symbole da, und doch hat es uns skeptische, nach anderen Regeln lebende Moderne nicht weggedrückt.


4.6. Fülle

Wie ging das nun zu, daß die Klasse doch noch „gekommen ist“? Ganz deutliche Weichenfunktion hatte die Stunde mit den beiden Bibeln. Hier wurde den Schülern erweislich, greifbar, daß sie nicht für das Projekt gebraucht oder mißbraucht werden, sondern daß sie es sind, die den Unterricht gebrauchen können. Ob das so wie hier immer geht? Sicher nicht. Trotz allen Ernstes der Thematik benötigt der Schüler aber gerade bei einer durchgängig vorbereiteten Sache, die sich über mehrere Tage oder gar Wochen erstreckt, den Erweis, daß er ernst genommen wird und nicht für didaktische Erfahrungen funktionalisiert ist.
Die lockere Fülle der Angänge und Ranken um den Lehrstückkern haben hier eine besondere Bedeutung. Natürlich steigen wir nach der Einheit über die Bogenarchitektur, uns durch eine endlose Wendeltreppe zwängend, am Gerümpelboden über dem Seitenschiff vorbei auf den Dachboden und schwanken auf dem Brettersteg über den von oben vermörtelten Gewölben und wagen einen Blick durch die Löcher in den Schlußsteinen, durch die allerhand Nützliches an Seilen hinabhängt, auf den 27 Meter unter uns liegenden Kirchenboden. Und selbstverständlich klettern wir als Steigerung zuletzt in kleinen Gruppen an den riesigen Glocken vorbei, teilweise über Leitern auf einen der 80 Meter hohen Türme. Das sind vielleicht nicht mehr als Entspannungen, die den ganzen Menschen und Körper freilassen. Wir kommen aber auch zum Beispiel dabei an der hohen Orgelempore vorbei und gewärtigen ganz nebenbei, wie sehr zurecht das da unten Kirchenschiff heißt. Wir verwachsen nun immer gründlicher mit dem Labyrinth unseres heimatlichen Domes.
Fülle ist ja eines der großen didaktischen Probleme eines solchen alten Kulturdenkmals. Was könnte, müßte man denn nicht alles noch ansprechen! Das ist vor allem eine Herausforderung an die Persönlichkeit des Lehrers. So wie ein Bergsteiger ein Leben lang vielleicht dieselbe Wand besteigt und immer neue Routen entdeckt und versucht, so ist eine solche Kirche für den Lehrer eine unergründbare Ansammlung an immer neuen Perspektiven, Themen, Zusammenhängen, eine ständige Herausforderung. Zwar ist es sehr günstig, wenn er darin schon weit bewandert ist, aber es ist auch gut, daß er immer noch Lücken hat, darin immer auf der Seite der Schüler stehend. Es schadet nicht, die Kirche als einen bunten Strauß an Angeboten aufzufassen, mit der Geste, jeder nehme sich das seine, der Techniker das, der Kunstgeschichtler das, der Zeichner dieses, der Theologe jenes usw. Am letzten Tag fanden wir uns einmal unversehens in unserer Sakristeirunde in einem intensiven Gespräch über, wie man so sagt, Gott und die Welt. Da wurde mir als dem unter Rückzugsverdacht stehenden unverbindlichen Ästheten auf den Zahn gefühlt, da wurden einzelnen Schülern in ihrer exaltierten, todesschwarzen Kleidungssymbolik und Einstellung kritische Fragen gestellt. Von Lorenzkirche zwei volle Stunden keine Spur! Abgesehen davon, daß ich die Gelegenheit erhalte, über den Vergleich mit der Todesauffassung im Mittelalter, über den Umgang mit den Pestkranken in der Kirche beispielsweise zu referieren. Ganz unzweifelhaft hätte dieses Gespräch aber so kaum anderswo und auch nicht zu einem anderen Zeitpunkt als am Ende unserer Kirchenwoche stattfinden können. Also gerade doch eine Spur von der Lorenzkirche! Nach einer Pause aber mache ich eine dreiviertelstündige Kirchenführung. Zwei Tage zuvor haben mir die Schüler als Ergebnis ihrer persönlichen Kirchenrundgänge Zettel mit Eindrücken und Fragen gegeben. Das greife ich nun auf und mache einen Rundgang mit ca. zehn Stationen, wo ich rasch, heftig, intensiv informiere und den Blick richte. Und jetzt habe ich dafür auch eine großartige Aufmerksamkeit. Nichts davon wird danach weiterverarbeitet, wieder aufgegriffen, vom Lernerfolg her kontrolliert, unseren wesentlichen theologisch-archtitektonischen Durchgang, mit kreisender Vertiefung haben wir ja schon hinter uns.


4.7. Lehrgang und Lernerfolg

Reden wir nicht von Projekt, sondern von einem Lehrstück, so meinen wir, daß unsere Arbeit sich vergegenständlicht in einer Lehrgestalt, die als das Drama des Lehrstücks oder wieder als dessen Kern, als eine Lehrstückfabel weitergegeben werden kann, Fortentwicklung und Nachahmung ermöglichend. Solch eine Gestalt wird zum wachstumsfähigen Organon durch die in ihr liegende Genetik. Wir können aber verschiedene Arten von Genetik unterscheiden:
Rein sachgenetisch hätte die Unterrichtseinheit so aufgebaut werden müssen: Maße, geometrisch-mathematische Vorentscheidungen, Bau, Theologie der Architektur, Ausstattung, verkündetes Evangelium, Heiligenexempel, zuletzt wir als Besucher. Rein interessensgenetisch geht der Gang in vielem umgekehrt: Glaubenszweifel, die ins Auge springenden Menschenbilder (Heilige), Ausstattungsprogramm, Bau.
Daneben gibt es aber auch gestaltgenetische, unterrichtspraktische Wechsel- und Schrittfolgen. Dazu zählt der den Sätzen eines Konzertes entsprechende Wechsel von: Erst das Ganze vor Ort in den Blick nehmen, dann vor Ort das Einzelne, dann wieder das Ganze, nun aber in Theorie und Vorstellung, in der Ferne des Klassenzimmers, dann wieder die Reverenz an das unausgeschöpfte Original in der Kirche und an die unausgeschöpfte Distanz der Moderne diesem alten Glaubensdokument gegenüber. - Diesen dialektischen Wechselgang benötigen wir als Lernende ebenso.
Die genetischen Potentiale, die den durchgängigen Zusammenhalt und das Wirken einer ganzen Unterrichtsgestalt sichern sollen, stehen also in gewisser Weise im Widerstreit miteinander. Wir müssen aber alle drei Kräfte nutzen. Das Ergebnis ist immer nur einer von mehreren möglichen Kompromissen, um den allerdings entsprechend in Reflexion und verschiedenen Versuchen gerungen wurde. Die Gestalt sollte auf diese Weise offen, lebendig sein und dennoch Gestalt bleiben, „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Welcher Kompromiß hier von mir vorgeschlagen wird, kann dem Abriß des Lehrstücks entnommen werden.
Die Gestaltmetapher trifft schulisch aber auch auf Vorbehalte, vielleicht sogar auf Wagenscheinsche Bedenken. Das könnte so mißverstanden werden, als würde der Strang von der Leitfrage zur Lösung, von der Problemstellung zum Lernerfolg unwichtig, so als käme man in ein weltfremdes l'art pour l'art. Darauf ist zu erwidern, daß das Lehrstückerlebnis durchaus in gewisser Weise auch sein Ergebnis ist, nur würden wir uns schwer tun, dieses zu objektivieren und zu validieren. Im engeren Sinne existieren aber auch vorweisbare Lernindizien, die eingebettet in diese Gestalt und vielleicht nur durch diese als Bruchstücke greifbar werden und aufscheinen können. Der zweite Tag mit der heilsgeschichtlichen Logik der Kirchenausstattung konnte hier nicht ebenso breit wie der erste Tag geschildert werden, ebensowenig der dritte im Klassenzimmer zu den Kirchenmaßen. Deshalb hier in diesem Zusammenhang einige Streiflichter.
Angelangt bei der ungeheuren Provokation einer objektiven, betrachterunabhängigen Ästhetik, konnten wir eine ganze Reihe von Statements und Apercus von Schülerseite zu unserer Thesensammlung nehmen, die für sich wie fortwirkende Schlüssel zur weiteren ästhetisch-kulturellen Reflexion und persönlichen Entwicklung wirken:
Markus: „Für den mittelalterlichen Handwerker und Künstler bestand dieser Widerspruch zwischen Haus Gottes und Mensch nicht. Für ihn war im Augenblick des Schaffens der theologische Sinn der Arbeit gegenwärtig. Das Gotteshaus ist nicht nur ein ausschließlich von Gott erfaßbarer Zusammenhang, sein Erbauen ist auch eigentlicher Gottesdienst.“ Markus möchte im nächsten Jahr einen Leistungskurs Kunst belegen. Oder eine andere Äußerung von Sybille: „Auch heute noch verwenden wir auf einen Sarg ästhetische Aufmerksamkeit, obwohl er für immer verschwindet.“ Solche „Blüten“ baue ich am nächsten Tag anfangs in meinen Rückblick auf den Vortag ein, verständige mich nochmals mit der Klasse, ob ich das richtig verstanden habe, und gebe das der Gruppe, die mit der Mitschrift dieses Tages betraut war, zusätzlich an die Hand. Alle haben wir eine Mappe für dieses Projekt angelegt, und alle sind wir ja in irgendeiner Form mit Dokumentation und Weitergabe der Ergebnisse betraut, Jahreszahlen und elementares Faktenwissen dabei gebührend einbauend.
Eine andere Klasse von fortwirkenden Lernerfolgen liegt in den methodischen Gehalten. Der Tag über die Maße ähnelt über weite Strecken einem Mathematikunterricht, mit all seinen Stärken und Schwächen. Die Stärke ist der klare sachliche Sog: Was haben wir anhand unserer Kirchenauf- und -grundrisse schon gefunden, was müssen wir noch wissen, um noch stärker vereinfachen zu können. Da muß dann auch die beste Mathematikschülerin schnell helfen, wenn ich wieder einmal als Laie unter Druck und an der Tafel stehend nicht weiß, wie man von
a = 2(c-b) und
a Halbe Quadrat plus b Quadrat = a Quadrat auf
b= Wurzel 3 Halbe a
kommt.
Der Lernerfolg liegt hier im Erleben des fächerübergreifenden Unterrichts.
Die Schwächen des Mathematikunterrichts erleiden wir hier aber auch, das logische Sandkastenspiel, wo die Frage nach dem Wozu fast hochmütig ausgeklammert wird. Der Druck steigt, Frustrationen machen sich Luft: Vanessa, die Aufgeregte: „Was soll das, wenn wir das wissen“ Wir dürfen die Schüler durchaus, allerdings nicht am ersten Tag, einer solchen Erfahrung der Verlorenheit aussetzen, der Erfahrung, daß nur der verdient, rasch mit dem Lift auf den Gipfel der Antworten mitgenommen zu werden, der ein gutes Stück selbst geklettert ist, über Gipfel und Weg unsicher werdend. Ein Stück weit kommen wir hier in der Schule dem echten Lernen nahe, lösen uns vom Scheinlernen der 45-Minuten-Schnellschußrituale.
Allerdings kann die Sequenz über die Maße der Kirche auch beispielhaft dafür stehen, wie der genetische Unterricht in der Praxis, wenn ihm nicht „Zeit wie Heu“ (Wagenschein) zur Verfügung steht, methodisch ins Gedränge geraten kann. Man kann sich in diesem Zusammenhang viele sich ergänzende Angänge vorstellen. Eigentlich schlummert in dem Thema „Maß und Schönheit einer alten Kirche“ ein eigenes kleines Lehrstück, vielleicht wenigstens ein Intermezzo, das seine zwei Tage gerne für sich alleine hätte.
Hier sei deshalb nun ein weiterer erprobter Angang mit einigen weiteren Ideen referiert. Die freien Erkundungen mit dem Zirkel auf dem Kirchenauf- und grundriß tragen spielerisch schon recht weit. Da kommt eine unglaubliche Fülle zusammen. (4) Die Maßentsprechungen sind so reichhaltig, daß wir den Kirchenaufriß über und über mit Kreisen bedeckt haben. Aber schon das Mitvollziehen der Schülerergebnisse durch den Lehrer gleichzeitig auf Folie wirft große, aber nicht unüberwindliche praktische Schwierigkeiten auf. Wieviel besser wäre es, hier abzubrechen und die eingesammelten Schülerergebnisse von einer Gruppe sauber in ein Gesamtbild zeichnen zulassen! Wir wollen aber an diesem Vormittag noch weiter in die Tiefe kommen. (Leider?) Zudem ergibt sich die Schwierigkeit, daß der Schüler auf der kognitiven Problemlösungsebene zu raschen Lösungen drängt; bzw. das „Spielen“ mit den Zirkeln hat vielen auch schon genügt.

Die Zirkelmaße

Der Zirkel hat uns also eindrucksvolle Ergebnisse beschert: Aus zwei Grundmaßen haben die Baumeister der Lorenzkirche alle weiteren Maße und Detailgrößen abgeleitet. Alles spitzt sich also im genetischen Gang zu der Frage zu: Und wie fand man b aus a, oder wie fand man a aus b? Die Logik des bisherigen Unterrichtsganges legt zwingend eine Folgerung nahe: Wir bestimmen a aus b arithmetisch. Der findige Schüler ist schnell bei der Sache. An a wird ein Winkel gelegt und durch entsprechendes Abtragen mit dem Zirkel nachgewiesen:
b ist ¾ a.
Damit Schluß? Kein Hauch von Einsicht in den qualitativen Sprung, den man damit getan hat! Sollte denn wirklich ein Maß im vollen Sinne des Wortes nur eine beliebige Spielerei mit einer Grundgröße und ihrer Teilung oder Vervielfachung sein? Unser Grundmaß war eine autoritäre Größe. Aber 3/4? Warum nicht 4/5? Warum nicht 10/17? Wir wissen also, daß unser bisheriger „genetischer Angang“ zwar zu vielen Entdeckungen geführt hat. Nichts ist aber offensichtlich von der Bedeutung dieser Entdeckungen, die, so wurde gehofft, von Anfang an unter der Decke mitfahren sollte, in das Gesichtsfeld gekommen. Oder sollten wir sie anders zu wecken suchen?

Der Weg führte also nicht in die Geometrie, in die Welt der regelmäßigen Flächen und Körper, sondern in die Zahlenarithmetik. Der Weg endete natürlich in den natürlichen Zahlen. Der mittelalterliche Baumeister sah die Zahlen anders, unter anderem von der Geometrie her.
Zu überlegen wäre, ob wir nicht unsere Epoche andern Tags mit einem (sokratischen) Gespräch über Nutzen und Wesen der Zirkeloperationen vom Vortag fortsetzen, um zuletzt einen neuen Angang, nicht analytisch, sondern entwerfend vorzunehmen. Ein solcher Vorschlag folgt hier: Das Rechteck aus a und b bildet den Grundriß unserer Kirche. Alles befindet sich also in der einen Entscheidung: Wie verhalten sich a und b zueinander? Was wäre das ideale Verhältnis für den Hausbauer? Natürlich das Quadrat. Unsere ältesten Bauernhäuser hatten diesen Grundriß, die sogenannte Vierung. Es ist klar, das Verhältnis von Baumaterial zu Innenraum ist hier am günstigsten: Dennoch konnte eine Kirche, deren stilbildende Kraft der Weg ist, keinen quadratischen Grundriß haben. Sie hätte den Beteiligten nicht gezogen, sondern gesammelt. Sie soll ja einen Weg eröffnen, zugleich aber das Ganze schon beim Eintritt in den Blick bringen.
Eine skurrile Frage spielt jetzt herein: Gibt es auch das ideale Rechteck? Es gibt noch andere „reine Formen“: Kreis, gleichseitiges Dreieck ... Suchen wir also das reine Rechteck, das Urrechteck. Begriffe, die Arnold Wyss und andere in ihrem bemerkenswertem Bändchen „Lebendiges Denken durch Geometrie“ geprägt haben, können uns hier noch stärker auf das Vorhaben konzentrieren:

Während im Quadrat die senkrechte und die waagrechte Richtung sich die Waage halten, stehen die beiden Kräfte im Rechteck in einer bestimmten Spannung zueinander. Je nach seiner Form überwiegt entweder die Kraft des Aufrichtens, des Strebens oder aber diejenige der Ausbreitung und Zuwendung.“ (5)

Verschiedene Grundrisse können an die Tafel geworfen werden. Weder das ganz stumpfe Rechteck, noch der überlängte Schlauch sind unser ideales Rechteck. Wir suchen also ein Gleichgewicht von Hindehnung und Ausbreitung, von Fahrt und Ruhe. Das aber mit den Händen, praktisch. Jeder hat dazu schon ein Rechteck vor sich, mit dem sich arbeiten läßt. Ich gebe jedem Schüler noch einige weiße DIN-A4-Blätter zum Probieren in die Hand. Ist dieses Rechteck schon das gesuchte? Lautet die Antwort: ja, könnte das durch Herausfalten begründet werden. Lautet die Antwort: nein, muß ebenso dieses plausibel gemacht werden. Die zum Herumprobieren aufgeforderten Teilnehmer haben schnell das Quadrat herausgefaltet. Der Rest wird betrachtet. In einem Fall, wo einhellig festgestellt wurde, unser Rechteck sei schon fast gut, nur eine Spur zu lang, vielleicht ein bis zwei Zentimeter, dreht sich dabei die Frage darum, welche Qualität der Rest hat, hat man das Quadrat herausgefaltet. Er ist aber so nicht geometrisch zu fassen. Geometrisch heißt hier, das Blatt durch Falten vermessend. Der Rest vom Quadrat bleibt geometrisch diffus. Jemand hat aber sogar gefunden, wie man das gleichseitige Dreieck herausfalten kann. Einfach, und doch für den vernagelten Blick des Quadratfalters oft unerreichbar. Jeder kann es vom Entdecker lernen. Jetzt wird hochgehalten und nachgefaltet.
Der nun verbleibende Rest unseres Rechtecks ist faltgeometrisch noch zugänglich. Durch Einschlagen der Ecken falten wir zwei nebeneinanderliegende Quadrate heraus. Es bleibt ein Rest von circa 11 Millimetern. Als wir in unserem Fall diesen Rest nun am Blattende oben abfalteten, entsprach dieser Rest erstaunlich dem vorher nur nach Gefühl vom DIN-A-4-Rechteck abgezogenen Querstreifen. Ein „ideales Rechteck“ hat also offenbar folgende Formel: Die Länge erhalte ich wenn ich die Breite halbiere und die Höhe des gleichseitigen Dreiecks über die ganze Breite addiere oder l = 1/2b + Höhe des gleichseitigen Dreiecks mit s = b oder l=1/2b+1/2 Wurzel 3b. Wäre unsere Gruppe eine von Wagenschein-Unterrichtsepochen geformte, wäre sie also eventuell mit Wagenscheins Lehrstück über die Irrationalität der Wurzel 2 vertraut, wäre klar, daß Länge und Breite, und stimmte es auch noch so annähernd (Länge ist also ca. 0,5 Breite plus 1,73 geteilt durch zwei mal die Breite oder l=1/2b+0,86b oder b=0,732 l, d.h. b = ca. ¾ l), niemals durch natürliche Teilung oder Vervielfachung auseinander abgeleitet werden können.
Dieser Angang kann großen Spaß machen. Einstellen muß sich der Leiter aber auch auf Widerstände: Ob das ideale Rechteck das aus dem Quadrat mit dem gleichseitigen Dreieck entwickelte oder das nach DIN schon vorliegende nach dem goldenen Schnitt ist, muß Geschmacksfrage bleiben. Lohnend wäre der Weg im zweiten Fall trotzdem. Aber haben wir die Zeit?
In der praktischen Zeitnot habe ich mich mehr und mehr entschlossen, stark einzugreifen, den Umweg über das Papierfalten zu lassen und vehement die guten Mathematiker zur geometrischen Erschließung von a aus b schon auf unserem Lorenzkirchen-Plan zu drängen. Das machen diese sehr gerne. Der Rest der Klasse verhält sich dann wie in den meisten Mathematikstunden. Statt der genetischen Gestimmtheit gibt es nur noch die sachlogische, genetische Schrittfolge. Daß aber der vertiefende, fächerübergreifende Unterricht hier ebenso noch mit ansetzen könnte, ist auch klar. Gelingt der Angang über das Falten, spielt deutlich ein Stück platonischer Ideenlehre hinein: Wir sehen jetzt, wie unser Urrechteck aus zwei nebeneinandergelegten Quadraten hervorging, indem auf diese Quadrate noch ein gleichseitiges Dreieck gestellt wurde, das die beiden Quadrate gemeinsam überdachte. Unser Gefühl hat es uns - erstaunlich genug - vorher schon gesagt. Dabei aber haben wir in das Rechteck weder Quadrate nach Dreieck hineingesehen. Das Aufdecken der Konstruktion ist also ein Wiederfinden des Gefundenen.
Ganz gleich, wie wir zu unserem Ergebnis gelangt sind, unsere Laborsituation sollte mit einem Festhalten der Ergebnisse auf den Grund- und Aufrißplänen enden, die konstituierenden geometrischen Formen werden eingezeichnet. Man sieht, es geht auf. Die ersten drei Joche bilden längsgeteilt die beiden Quadrate. Die restlichen fünf die Höhe des gleichseitigen Dreiecks. Im Hallenchor besteht in umgekehrter Folge die gleiche Ordnung, gewissermaßen gespiegelt, wobei hier die Spitze des Dreiecks außerdem den bekannten Ort des Hauptaltars markiert.
Eine Möglichkeit des interpretierenden Umgangs mit diesen Maßverhältnissen ergibt sich schon hier: Mußte man diesen Ort dafür wählen? Möglicherweise blicken wir so gerichtet in den Grundriß sein verborgenes, gestaltbildendes Kreuzsymbol hinein. Es kann eingezeichnet werden. An der Schnittstelle des Kreuzes also der Hauptaltar. Unser bedachendes Dreieck ist außerdem zugleich die Höhe der Joche, der Gewölbe, der Schlußsteine.

Grundrißkreuz

Was aber haben wir damit erkannt? Einfach nur, wie die Maße der Lorenzkirche sind oder zu sein scheinen? Hier ist mit Sicherheit eine Weggabelung. Verschiedenes ist mitinitiiert: Nachfragen, wie nun das Maß des Urquadrates gefunden wurde (es ist auch kein beliebiges), Nachsehen, was an den anderen auf diese Weise markierten Stellen in der Lorenzkirche sich befindet, neben dem erschlossenen Standort des Hauptaltars, Nachdenken über die eigenartige Anamnesis der Rekonstruktion unseres Urteils über das DIN-A-4-Blatt, Nachforschen über die Universalität dieses Maßes (bei allen gotischen Kirchen, schon im griechischen Tempel?) (6), Nachrechnen des eigenartigen drei zu fünf Verhältnisses der Joche, das so unter den acht Jochen des Langhauses entstanden ist (wie zufällig trifft diese Einteilung mit den Proportionen des Goldenen Schnittes überein, wenn auch rechnerisch selbstverständlich kleine Abweichungen existieren), Nachsinnen über Schönheit und Geometrie, über Maß und Menschlichkeit.
Möglich ist aber auch, daß kritisch der spekulative Charakter des Beweisganges hinterfragt wird, denn mit dem Maßband erst wäre „Gewißheit“ zu erreichen oder noch schärfer: Weder b = ¾ l, noch l = b/2 + Wurzel 3 geteilt durch 2 könnten mit dem Maßband zwingend nachgewiesen werden. Warum also soll bei all den zu erwartenden Abweichungen nicht das b = 3/4 l des Vortages gelten? Diese kritische, spekulative Phase müßte eigentlich im Ausklang Platz haben.
Nach diesem Exkurs über ein potentielles Lehrstück im Lehrstück, das ausführlich den Rahmen des Lorenzkirchen-Hauptunterrichts sprengen würde, stellt sich noch eindringlicher als zuvor die vergewissernde Frage nach dem Ursprung des Unterrichts. Haben wir uns davon weit, zu weit entfernt? Was ist aus unserer Leitfrage geworden? Sie lautete doch: Wieviel Verdinglichung, Veräußerlichung verträgt,braucht christlicher Glaube?
Teils ist diese Frage tatsächlich in den Hintergrund gerückt. Die Arbeit mit dem Gegenstand entfaltete ihren eigenen Sog. Dennoch gehen wir an diesen Anfang zurück. Schon um der oben bekannten Ehrlichkeit willen. Konrad, ein stiller und doch intensiv beteiligter Schüler, setzt am Ende des Tages über die Maße mehrmals zu einem Vortrag an. Auch am nächsten Tag noch einmal. Er will der Klasse mitteilen, was er fühlt und erkannt hat: Das Streben nach Vollkommenheit als christliches Motiv. Andere mag das auch bewegen, aber in der Hauptsache herrscht ihm gegenüber der Gestus vor : Laß es gut sein. In der Tat wollen wir ja nicht mit der Dogmatik der Tradition erdrücken.
In einer Schlußdiskussion im Wochenabstand, bei der auch der Religionslehrer anwesend ist, lege ich einen idealen Kirchengrundriß vor, der sich vorne im bayerischen Gesangbuch findet. In ihn sind vom Eingang bis zum Chor die Schritte der Gottesdienstordnung eingeschrieben. Diesen Gottesdienst wollen die Schüler nicht. Auch jetzt nicht.
Oder hat sich doch ein wenig bewegt? Das Verständnis für die Macht der tradierten Symbole ist auch bei den Kritikern gewachsen. Wir werden uns auch noch einmal des Generationenkonflikts darin klar. Der Pfarrer und ich, wir haben die lösende und bergende Kraft dieser Rituale und Symbole bereits erfahren, obwohl auch wir den kirchlichen Zwängen eher fernstehen. Der Schüler kennt diese Erfahrung (natürlich?) noch nicht. Der Schüler würde weiterhin die Kirche heute spärlich ausstatten, hell und klar, die diskutierende und betende Gemeinde in einem Kreis um den Altar versammelnd. Er würde weiterhin behaupten, daß die festen Formen der Erstickungstod des individuellen, lebendigen Glaubens sind. Daran etwas ändern zu wollen, wäre vermessen und unverantwortlich.
Wissen wir denn als Lehrer hier die Antwort? Ich selbst mußte mich wieder einmal beobachten, wie ich zur Ergänzung und Auflockerung von der Herkunft des St.Lorenz-Patroziniums erzählte und den Faden fortspann hin zu den energischen, vielverwickelten, aber insgesamt vergeblichen Bemühungen der Stadtväter, in dieser Kirche in Konkurrenz zu den großen Domen als freie Reichsstadt, die nur Pfarrkirchen besitzt, eine zugkräftige Reliqiue zu stationieren. Unvermittelt befand ich mich in launiger Abrechnung mit den mittelalterlichen Scheinheiligen und in Konkordanz mit jenem Teil der Schüler, die ihr vorgefertigtes Urteil pflegen, die Bedeutung dieser Kirche erschöpfe sich in der Raffinesse der feudalen Ausbeutung und Machtpolitik. Das konnte man mir dann auch genüßlich vorhalten.
Wir wissen also selbst nicht, wieviel wir uns positiv von Vergangenheit und Tradition führen lassen können. Was wir aber wissen ist, daß Kultur Tradition braucht und in diesem Sinne auch die Kirche Tradition braucht. Vielleicht ist es uns dabei hier auch tatsächlich gelungen, nicht nur Asche weiterzugeben, sondern eine brennende Flamme.

Schlußstein mit Christushaupt


1) Vgl. Adam Adolf, Wo sich Gottes Volk versammelt, Gestalt und Symbolik des Kirchenbaus, Freiburg/Basel/Wien, 1984, S.12f
2) Vgl. Macaulay David, Sie bauten eine Kathedrale, München 1977
3) Vgl. Verein zur Erhaltung der St.Lorenzkirche in Nürnberg (Hg), Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden, Heft 36, Nürnberg 1989
4) Die Versuche stützen sich auf die Anregungen von:
Lincke Julius, Der Chor von St.Lorenz im „rechten Maß“ der mittelalterlichen Bauhütten, in Bauer u.a. (Hg), 500 Jahre Hallenchor St.Lorenz zu Nürnberg 1477-1977, Nürnberg, 1977, S.197-212
5) Wyss Arnold, Lebendiges Lernen durch Geometrie, Stuttgart 1984, S.17
6) Vgl. Hentig Hartmut von, Ein Haus für Götter/Der Parthenontempel im Unterricht (1957), in Ders., Ergötzen, Belehren, Befreien, Schriften zur ästhetischen Erziehung, Frankfurt 1987, S.257-316 und:
Schneider Berrenberg Rüdiger, Sie bauten ein Abbild der Seele, Anmerkungen zur Metrik und Harmonik der St.Elisabethkirche in Marburg und des Parthenon-Tempels in Athen, München 1988



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[ Letzte Aktualisierung 02.05.98 Walter Dörfler ]