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3.4. Geschichtsdidaktik und Lehrkunstdidaktik -
Auf den vorgestellten Unterricht zielende Betrachtungen zu einer
schwierigen Beziehung


3.4.0. Den Kollegen an der Wilhelm-Löhe-Schule in Nürnberg wurde der Lorenzkirchenunterricht zunächst als Projekt im Rahmen des Geschichtsunterrichts vorgestellt. Der Tendenz nach zielt dieser Unterricht aber eher auf die Entwicklung eines fachunspezifischen Schulrepertoires als auf Fachunterricht. Er ist theoretisch auf Übernahme, genauer gesagt spezifische Weiterbildung durch andere Fächer angelegt. Trotzdem: Lehrkunstdidaktik (und wahrscheinlich eine jede Unterrichtsreform) sollte sich weder prinzipiell neben die staatlich verordneten Fächer, noch neben die Lehrpläne der staatlichen Behörden stellen. Diese beruhen (auch!) auf grundsätzlichen, didaktischen Notwendigkeiten und Erfahrungen. Sie sind änderungsbedürftig, aber nicht in Bausch und Bogen abschaffenswürdig.
Der Lorenzkirchenunterricht konnte früher an einem bayerischen Gymnasium als exemplarische Behandlung eines Abschnittes im Lehrplan des Faches Geschichte in der elften Klasse begründet werden. Das ist nun nicht mehr möglich, nachdem, was heute erstaunlich genug ist, der entsprechende Lehrplan in Richtung geringerer Wahlmöglichkeiten und größerer Stoffülle geändert wurde. (1)
Insofern aber gerade die neuen bayerischen Lehrpläne das fächerübergreifende Prinzip betonen (2), insofern könnte man zweitens allerdings den Unterricht als Bündelung verschiedener Segmente des Geschichts-, Religions,- Kunst- oder gar Mathematikunterrichts (?) ansehen. Drittens gibt es noch die Möglichkeit, sich ein solches Projekt als spezifisch das Profil einer Lehrerpersönlichkeit oder das Profil einer Schule prägende Aktivität im Rahmen jener zehn bis zwanzig Prozent pädagogischer Freiheit (3) vorzustellen, die nach Angaben der Lehrplanverantwortlichen für einen jeden Jahresunterricht gewährleistet sind.
Wie auch immer, der vorgestellte Lorenzkirchenunterricht ist vom Gymnasium geprägt, er ist vom Horizont der Siebzehn- bis Achtzehnjährigen geprägt und er ist Geschichtsunterricht, genauer er ist ein Geschichtsunterricht, der an seinem Gegenstand die sachlich immanente religiöse Dimension nicht unterschlägt, sondern, wie es der Gegenstand verlangt, diese sogar in den Mittelpunkt rückt.
Die zuständige Fachdidaktik bleibt also die Geschichtsdidaktik.
Es interessiert außerdem grundsätzlich, wie der Lehrkunstansatz mit den Besonderheiten des Faches Geschichte zurechtkommt. Dies wiederum hängt ganz eng mit den besonderen Problemen der Geschichtsdidaktik überhaupt zusammen.

3.4.1. Geschichtsdidaktik und exemplarisches Prinzip


Es gibt Fächer wie Deutsch und Politik, bei denen „Didaktik“, das Lehrbedürfnis, zu einem bedeutenden Teil schon gegenstandsimmanent ist. Sie haben mit Gegenständen zu tun, deren Sinn und Struktur zum Teil bereits von dem Zweck der Bildung und Verbreitung geprägt sind. Geschichte gehört wohl auch dazu, aber viel lockerer. Historiker haben als Lehrer bezeichnenderweise schnell das Gefühl, auf dem Altar der Didaktik ganz Wesentliches opfern zu müssen. Ohne Zweifel besteht im Fach Geschichte die Gefahr der Didaktikskepsis.
Durch ihre größere Nähe zu Unterricht und Lehrerbildung kennen die Fachdidaktiken oft besser die Grenzen und praktischen Probleme allgemeindidaktischer Konzepte. Vergleicht man Joachim Rohlfes 1986er Gesamtdarstellung der Geschichtsdidaktik (4) mit seinen bekannten, 1957 erstmals erschienenen „Umrissen einer Didaktik der Geschichte“ (5), so ergibt sich mir das Bild einer durchgängigen didaktischen Ernüchterung. Zwar stellt der neue Rohlfes vom Vorsatz her eher ein Referat unterschiedlicher Konzepte der letzten dreißig Jahre dar, doch stehen alle vorgestellten Didaktiken darin, von den Standpunkten der geisteswissenschaftlichen Didaktik über die Curriculistik bis hin zu den unterrichtsdidaktischen Beschreibungsmodellen und den kritisch-emanzipativen Konzepten, wenn nach ihrer Brauchbarkeit für den Geschichtsunterricht gefragt wird, bestenfalls als bedenkenswert da, meist als verfehlt oder wenig hilfreich. Was bleibt, ist Lob für pragmatische Ansätze und eine systematische Vorstellung spezieller Unterrichtsmittel und Medien des Geschichtsunterrichts. Der skeptische Positivismus scheint die traurige Rückfallinie des Historikers und seiner „Didaktik“ bleiben zu müssen. Das gediegene geschichtsdidaktische Periodikum „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“ - von Rohlfes mitherausgegeben - bietet mindestens zu drei Vierteln nur Aufbereitung neuer Forschungsergebnisse der Wissenschaft für den Lehrer, der Rest gehört der Didaktik, das heißt der Theorie(!) des Unterrichts, seine Beschreibung kommt (fast) nicht vor. Immer wieder muß man den Eindruck bekommen, die Hauptsorge der professionellen Geschichtsdidaktik ist die, Geschichtslehrer könnten mit dem Forschungsniveau der Universitäten nicht Schritt halten. (6)
Diese im Fach Geschichte besonders ausgeprägte Spannung zwischen Fach- und Allgemeindidaktik wird vielleicht nirgends so deutlich wie beim Streit um das exemplarische Prinzip. Herman Nohl und Erich Weniger folgend wird der Geschichtsunterricht deshalb auch zum Beispiel von Fina als „Schmerzenskind der Didaktik“ und als das „heiße Eisen der Schulreform“ bezeichnet. (7) Der Vorwurf bildungsfeindlicher Stoffülle (8) trifft den Geschichtsunterricht besonders. Mit dem exemplarischem Prinzip, der Einbruchsschneiße von Allgemeindidaktik und Bildungstheorie ins Fachdidaktische Denken der Sechziger und Siebziger Jahre tat sich die Geschichtswissenschaft besonders schwer. Mit Recht wurden in diesem Zusammenhang alte Vorbehalte der idiographischen Geisteswissenschaften gegen die generalisierenden Naturwissenschaften belebt. Heißt nicht, die Geschichtlichkeit erfassen, die Einmaligkeit eines Vorgangs heraustreten lassen? Das ureigene Geschäft des Historikers ist das einer unvoreingenommenen, immer neu ansetzenden kritischen Differenzierung. Der Historiker muß sich auch dann primär auf die Klärung „reiner“ Faktizität richten, wenn er grundsätzlich eingestehen und selbstkritisch mitbedenken muß, daß es kein Faktum ohne Interpretation gibt.
Zwar primär in die Richtung des Einzelnen blickend, erfährt Historie aber damit genauso wie andere Geisteswissenschaften die zirkuläre Struktur des Verstehens, gewissermaßen von der anderen Seite her. „Besonderheit“ erschließt sich z.B. erst im Vergleich. Außerdem ist der Sinn für das Einzelne wieder ein Allgemeines, ein geschichtswissenschaftlicher Beitrag zu unserem realistischen Ethos. Und auch eröffnet sich hier die Dialektik, daß gerade das eingehend, gründlich in seiner Besonderheit Untersuchte zugleich das intensiv Erschlossene, das Allgemeine, das an die ganze Sinnwelt des Betrachters Angeknüpfte sein wird.
Konrad Barthel zum Beispiel hat den Kampf deshalb auch unbeirrt für das exemplarische Prinzip im Geschichtsunterricht geführt. Er zeigte, wofür exemplarisch ausgewählte Themen des Geschichtsunterrichts repräsentativ sein können. (9) Kurt Fina, einer der wenigen dezidiert bildungstheoretischen Geschichtsdidaktiker, hat sehr genau das Recht des idiographischen und des strukturgeschichtlichen, auf das Repräsentative gerichteten Ansatzes gegeneinander abgewogen, Beispiele gezeigt, wie gerade Geschichte mit der Didaktik des fruchtbaren Moments (10) arbeiten kann. Stellvertretend sei hier aber Wagenschein zitiert, der Physiker, auf den sich auch Historiker in dieser Frage gerne berufen:

„Der Mensch ist in gewissen Grundzügen seines Wesens ebenso beharrlich, wie er wechselnd ist in ihrer Hervorkehrung und eben darüber wieder vergeßlich. Ein bei aller Offenkundigkeit so verborgenes Wesen wie er kann also zweifellos aus der Geschichte beharrlich ihn anwandelnde Wesenszüge ahnend entziffern, sammeln und so seiner säkularen Vergeßlichkeit vorbeugen. Ist das nicht ein fundamentales Ziel des Geschichtsunterrichtes ... ?“
Und andererseits:
„Genauso, wie es im Leben des einzelnen trotz der unaufhörlichen Kette der Rückfälle in das immergleiche Reagieren eine sinnvolle Linienführung, eine Art Heilsgeschichte geben kann, so fragen wir ja auch in der Geschichte nicht nur, wie der Mensch immer wieder derselbe ist, sondern auch: wo es mit ihm hinauswill. - Vielleicht sagt der Historiker, dies sei nicht seine Sache, das sei nicht wissenschaftlich, genau wie der Physiker einwenden mag, manches, was ich ‘fundamental‘ nannte, gehe nicht ihn an, sondern den Philosophen. Aber der Fachlehrer darf nicht nur Fachmann sein, wenn er Lehrer sein will.“ (11)

Der das Gleiche immer wieder ganz verschieden hervorkehrende, deshalb in seinen eigenen Angelegenheiten immer wieder vergeßliche Mensch, der von den harten Fakten der Geschichte aufgerufen ist, sich immer neu selbst zu entschlüsseln, sein Wesen in der Gegenwart zu erahnen, diesem Menschen wäre nach Wagenschein Geschichte eine bildende Kraft. Geschichte hat hier als Schulfach das Funktionsziel einer nüchternen, aber inspirierten Menschenkunde. Das zweite von Wagenschein genannte Funktionsziel hat mit dem Überblicken der Vergangenheit, mit der Gestaltgebung und Gestaltwerdung dieser Vergangenheit zu tun. So wie gesunde Menschen sich ihre Lebensgeschichte erzählen können, so muß dies auch die Menschheit können, um ihr metaphysisches Vertrauen in eine Zukunft an die bekannten Fakten der Vergangenheit anzuschließen. Geschichte bildet nach diesem zweiten Funktionsziel durch die identitätsstiftende Kraft einer kollektiven Geschichtsphilosophie.
So sehr an diesen Wagenscheinschen Ansätzen in einem ihm fremden Fach die Luzidität und der existentielle Realismus zusagen kann, so wird man doch der Geschichtsdidaktik nicht vorwerfen können, sie hätte auf diesem Gebiet Nachhilfestunden nötig. Im Gegenteil! Das Problem ist ein anderes. Im allgemeinen wird nämlich heute niemand solche Ansprüche einfach zurückweisen, etwa als unwissenschaftlich. Dem vergleichenden Strukturenlernen, dem Vorbereiten fundamentaler fachspezifischer Einsichten, ja der Notwendigkeit sinnvoller Beschränkung auf bildende Stoffe, die uns angehen, wird sich kein Geschichtsdidaktiker heute mehr grundsätzlich entziehen wollen. Aber mit der Einsicht in die Notwendigkeit des exemplarischen Prinzips beginnen für den Geschichtsunterricht erst die besonderen Probleme.
Die Stoffe gliedern sich ganz und gar nicht zwanglos in unterschiedliche Ränge. Es scheint überhaupt nichts von wirklich geringerer Bedeutung und Aussagekraft zu geben, sieht man erst einmal genau hin. Joachim Rohlfes, der Wagenscheins Herausforderung annahm und nach Funktionszielen für den Geschichtsunterricht suchte (vgl. den Katalog unten), resümiert:

„Es scheint also, als sei das Prinzip des exemplarischen Lernens, wie es von Wagenschein entwickelt wurde, auf die Geschichte grundsätzlich nicht anwendbar. Vielmehr erweist sich der historische Gegenstand als ausgesprochen spröde gegenüber jedem Versuch, ihn nach stoffbezogenen Auswahlkriterien zu verringern.“ (12) „Hier wird die Markierung des Exemplarischen, also die Ermittlung des Identischen über alle Varianten hinweg, zu einer stets kniffligen, mitunter auch gewagten Angelegenheit.“(13)

Der Einwand liegt nahe: Rohlfes mißversteht hier in bekannter Weise das exemplarische Prinzip als die Ermittlung „stoffbezogener Auswahlkriterien“. Das ist richtig, hilft auch weiter, beseitigt die Probleme aber nicht ganz. Denn auch auf dem geeigneteren Weg von den Bildungszielen des Faches her (und nicht von seinen Stoffen her) gelangt man doch wieder zu ähnlichen Aporien, weil im Rechen der vereinbarten Bildungsziele wieder so gut wie alle denkbaren Geschichtsstoffe hängen bleiben.
Wenn wir aber trotzdem zuerst über allgemeinbildende Leistungen des Faches nachdenken, gewinnen wir immerhin einen Überblick über mögliche Auswahlkriterien, über Leistungen, die ein eventuell Ausgewähltes erbringen müßte oder kann. Träfen wir die Auswahl dann letztlich politisch, schulintern oder persönlich, haftete dem zwar eine problematische Willkürlichkeit an, aber wenn der Zielkatalog vollständig scheint und über ihn Einvernehmen besteht, werden die Schüler verschiedener Lehrer doch an vergleichbare, für uns zentral bedeutsame Einsichten herangeführt, weniger gründlich allerdings an bloßes, aber unentbehrliches Orientierungswissen. Das in Lehrplänen festgeschriebene Pensum könnte sich dann nur auf das (oberflächliche?) Orientierungs- und Mindestwissen beziehen, müßte den Lehrer im übrigen aber auffordern, die das Exemplarische seines Faches betreffenden Pfeiler, zwischen denen das Orientierungswissen eine Brücke spannt, selbst auszusuchen, dabei allerdings sich nach Kräften von dem Katalog fachspezifischer Funktionsziele leiten lassend. Wagenschein hat ja auch nicht von Stoffen gesprochen, die durch das Allgemeine, welches aus ihnen abstrahiert wird, andere Stoffe als Pensum ersetzen können, er sprach vorrangig von fundamentalen Einsichten, von Funktionszielen eines Faches, von der Öffnung der Welt durch fundamentale, fachspezifische Erfahrungen. (14)
Wir dürfen als Geschichtslehrer nicht bei jedem historischen Darstellungsschritt der Versuchung zur „flachen“, raschen Tiefe verfallen. Wir sollten entweder wirkliche Vertiefung anstreben oder nur Rahmen, Gerüste, Raster geben, die ganz offensichtlich an der Oberfläche liegen. Vielleicht hilft dabei auch die Einsicht: Kontinuierliche Betrachtung der Geschichte, „ohne Sprünge“, ist eine ebensolche Künstlichkeit, wie es die Inselbildung ist. Sie ist ständig in Gefahr, eingefahrene Mythen zu wiederholen, zu übersehen, wie diese sich Gewohnheiten, Ausblendungen verdanken. Im übrigen meine ich , daß das Bedürfnis des Schülers nach Kontinuität überschätzt wird.
Genetisch unterrichten bedeutet auch in der Geschichte nicht allein vermeintliche historische Kausalgenese an der Ereignisoberfläche, sondern Potentialgenese, zielt also auch(!) auf die vielen, komplexen, verborgenen, vielleicht unaufklärbaren, weiter entfernten, schon verschütteten Kräfte in Menschenwelt und Natur, die am Sinn eines geschichtlichen Ereignisses mitbeteiligt sind. Die fachdidaktische Diskussion wird sich also trotz der besonderen, wohlbegründeten Skepsis erneut das exemplarische Prinzip vornehmen müssen: nüchterner, freier, pädagogischer!

Suchen wir also! Und was werden wir finden? Bücher! Lehrer haben Geschichte vorwiegend in „fertiger“ Form. Sie forschen (meistens) nicht selbst. Das Forschungsgebiet jedes Historikers ist aber verschwindend klein im Vergleich zur Masse des Unterrichtswürdigen, so daß getrost festgestellt werden kann: Der Bildungsanstoß der Geschichte begegnet uns in Büchern. Die Opera Magna, die Gesamtdarstellungen, die Quintessenzen oft eines Historikerlebens sind, gehorchen dabei in besonderem Maße auch literarischen Darstellungszwängen. Die großen Bücher der Historiker konkurrieren oft unmittelbar mit historischen Romanen, so grundsätzlich anders sie in ihrer Zielsetzung sind.
Lothar Galls „Bürgertum in Deutschland“ (15), eine „Familiengeschichte in exemplarischer Absicht“, könnte ein solcher Klassiker der Geschichtsschreibung werden. Es ist eine historisch-kritisch verantwortete „Darstellung“ voller literarischer Qualitäten. Und Carl J. Burckhardts „Richelieu“? Das ist jedenfalls ein großes Historiker-Buch und selbst ein geschichtliches Ereignis. An der Figur Richelieu kommt man sehr weit in ein Bildungsthema „Europa“ hinein, weiter als an anderen. Die Lehrkunst wird auf dem Gebiet der Geschichte wohl dazu neigen, nach historisch verantwortlich dargestellten, literarisch verdichteten „Sternstunden der Menschheit“ zu suchen.
Wurde eigentlich schon der Versuch gemacht, die Werke, die solche Sternstunden, Kristallisationskerne anbieten, zusammenzufassen, zu systematisieren, ihre Historiker-Leistung im Gegensatz zu vielen schwachen Anläufen und „Aufläufen“ zu begründen? Die Qualität der Vorlage, des niedergelegten Historiker-Lehrstücks, deren historische Gründlichkeit, ihre Verdichtungs-, Gestaltungsmacht, ihre aktuelle Wirkungs- und Aufschlußkraft wäre jedenfalls der naheliegende Ausgangspunkt der Entscheidung für ein Unterrichts-Lehrstück im Fach Geschichte.
Der darauf folgende Schritt ist dann: Bei der Erarbeitung des Lehrstücks, nicht zuvor, müssen allgemeindidaktische Funktionsziele des Faches erwogen werden, denn der Unterricht soll exemplarisch sein für die Bildungsleistungen des Faches Geschichte. Es sind nicht wenige solcher Zielkataloge der Geschichtsdidaktik versucht worden. Ich möchte zwei, die sich gegenseitig ergänzen und bestätigen, anführen:

Geschichte kann und soll:
nach Rohlfes 1957 (16)
nach Glöckel 1979 (17)
methodische Besonderheit des historischen Verstehens vermitteln

geordnetes und gegründetes Wissen vermitteln

universalhistorisches Denken und geschichtsphilosophische Theoriebildung anregen

die Überlieferung lebendig erhalten, den Gesamtsinn der Geschichte (erörtern)

der politischen Bildung im Sinne des Umgangs mit deren Zentralbegriffen Herrschaft und Interesse dienen der politischen Bildung dienen

Bindungen schaffen, politische Mündigkeit fördern vom Ballast der Vergangenheit befreien und dem Neuen die Bahn bereiten

anthropologisch den Menschen einen Reichtum an Bildern und einen Spiegel vorhalten

Anschauungen vermitteln, zur Selbsterkenntnis der Menschen beitragen

Beispiele menschlicher Größe aufzeigen, axiologisch den Fragen von Sitte und Moral, der Rechtmäßigkeit einer historischen Begebenheit Zündstoff geben

zur sittlichen Bildung beitragen

Nebenbei: Rohlfes Zielkatalog verstand sich noch als Beitrag zur Frage der Stoffbeschränkung, allerdings so, daß die Fülle durch beständige Verwesentlichung, Verdichtung (nach Wilhelm Flitner), nicht durch Weglassen oder exemplarisches Prinzip handhabbar wird (18). Glöckel stellt aber meines Erachtens schon zutreffend klar, daß man die Diskussion des exemplarischen Prinzips aus der Thematik der Stoffauswahl herauslösen muß, weil sein Wert bedeutender ist als der, Stoff-Lehrpläne zu finden. (19)
Ich werde nun auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen und der Kataloge fachspezifischer „Funktionsziele“ auf den vorgelegten Lorenzkirchenunterricht zu sprechen kommen. Im Hinblick auf das exemplarische Prinzip ist sein Gegenstand ein doppelter Spezialfall. Er muß nicht angestrengt aus einer unübersichtlichen Ereignisverkettung herausgelöst werden, und er ist selbst ein didaktischer, ohne weiteres sich schon exemplarisch gebender Gegenstand. Dem Unterricht mußte deshalb nicht unbedingt die Vorformung durch die literarische Gestaltung des Historikers zugrundegelegt werden, der Gegenstand ist sichtbar verdichtete historische Gestalt. Obwohl literarische Vorlagen, wie oben zitiert, als Schlüssel dienten, waren das doch nur die Sekundärliteraturen, am „Anfang“ eines Kirchenunterrichts wird immer das aufgeschlagene Buch der begehbaren Kirche stehen müssen. Der Nürnberger sieht hier unter Umständen täglich die Vergangenheit seiner Stadt, „lernt“ so mehr oder weniger gotisches Lebensgefühl, christliche Mythologie usw. Insofern der Zugang zu dem Thema hier also nicht typisch ist für die üblichen Vermittlungs- und Auswahlprobleme des exemplarisch vorgehenden Geschichtsunterrichts ist, insofern trägt das vorgelegte Lehrstück zur Frage Lehrkunst und Geschichtsunterricht in dieser Hinsicht auch nur teilweise etwas bei.
Während der Erarbeitung erfolge zweitens die Auseinandersetzung mit den Funktionszielen des Faches, habe ich oben behauptet. Dazu allerdings gewinnt man aus dem Lorenzkirchen-Unterricht, wie ich meine, einige wichtige Aufschlüsse. Es sticht nämlich klar die Nähe zu einer Reihe von fachlichen Zielen ins Auge, während eine relative Distanz zu anderen Zielen eines solchen Katalogs festgestellt werden muß. Demnach könnte dieser Unterricht geeignet sein, Überlieferung lebendig zu erhalten, einen Reichtum an Bildern und Anschauungen zu vermitteln, zur Selbsterkenntnis der Menschen und zur sittlichen Bildung beizutragen. Bloß zufällig ist es wohl, daß historische Methode und Erkenntnis sowie geschichtsphilosophische Tiefe keine auffällige Rolle spielen, sie wären aktivierbar und integrierbar. Nicht zufällig aber scheint es, daß sowohl der universalhistorische (besser: Zusammenhänge klärende), wie der politische Aspekt eine geringere Rolle spielen, jederzeit zwar mitwirken und auch nie ganz ausgeblendet werden können, nie aber, wie ich meine, leicht in den Mittelpunkt rücken könnten. Das ist nach Hans Glöckel kein Zufall. Es beeindruckt, wie er eine Struktur zweier Hälften der geschichtsdidaktischen Ziele findet, die geeignet ist, zum Frieden zwischen zwei heftig sich befehdenden Weisen von Geschichtsbetrachtung beizutragen:

„Der ‘ästhetische‘, der ‘sittliche‘, der ‘monumentalische‘, der ‘anthropologische‘ Auftrag der Geschichte fordern mit Nachdruck ein exemplarisches Verfahren. Der ‘politische‘, der ‘kritische‘, aber auch der ‘antiquarische‘ Auftrag drängen zur Behandlung gegenwartsbestimmender Themen und zu einem zusammenhängenden Geschichtsbild.. Der ‘theoretische‘ und der ‘philosophische‘ Aspekt in ihren verschiedenen Fragestellungen fordern beide Verfahren in gleichem Maße.
Wir können es noch einfacher fassen: Für alle Zielsetzungen, bei denen es um allgemeine, übertragbare Einsichten geht, die grundsätzlich an beliebigen Inhalten zu gewinnen sind - wir haben sie oben unter dem Namen ‘Menschenkunde’ gesammelt - ist das exemplarische Prinzip bestimmend. Sie können nur durch Vertiefung in ausgewählte Einzelthemen erreicht werden.“ (20)

Ich möchte nicht jede Konsequenz ebenso scharf ziehen wie Glöckel. Plausibel aber ist, daß Stoffe zu Stilen und Stile zu Stoffen „drängen“. Es steht also die Frage an: Entscheide ich mich, wie die Lehrkunst, vorgängig für exemplarisch (vertieften) Unterricht, entscheide ich mich dann nicht schon für einen Teil des Bildungsspektrums eines Faches auf Kosten eines anderen? Besonders zugespitzt hat diese Frage die Form: Gibt es politisch bildende, gegenwartsorientierte, „kritische“ Lehrkunst? Dazu im nächsten Abschnitt.
Im vorgelegten Lehrstück wird im Sinn von Rohlfes anthropologischen, axiologischen und Glöckels menschenkundlichen Aspekten der Beitrag der Geschichte zur Bildung aktiviert. Das entspricht auch sehr den Vorstellungen, die sich Wagenschein von der Leistung des Faches machte (siehe oben), damit hängt auch die in diesem „Projekt“ feststellbare Auflösung der Fächergrenzen zusammen. In der Sprache der Lernzieltaxonomie würden wir sagen, wir befinden uns hier auf der Ebene der Grob- und Richtziele, die dazu tendieren, Fächergrenzen zu überschreiten. Es gibt auf dieser Ebene aber auch fachspezifische Grundbegriffe von allgemeinbildender Bedeutung, die Einsichten transportieren, welche besonders in den speziellen Zielkatalog des Faches gehören: Zu erklären, mit welchem Recht wir vom „Mittelalter“ sprechen, zu definieren, was das im Unterschied zu anderen Zeitaltern Europas bedeutet, steht zuerst dem Historiker zu. Der exemplarische Wert der vorliegenden Unterrichtseinheit kann also auch durch Fachlernziele bezeichnet werden, nicht nur durch allgemeine Bildungsziele.
Eine solche Bestimmung fasse ich folgendermaßen zusammen:
Der vorgestellte Lorenzkirchenunterricht vermittelt exemplarisch wesentliche Teile der religiös geprägten Vorstellungswelt des mittelalterlichen Menschen am konkreten, heimatlichen Beispiel. Diese traditionellen Bestandteile der Kenntnisse des gebildeten Europäers tragen zu seiner Menschenkunde und Selbsterkenntnis bei, insofern sie sein Herkommen weiträumig faßbar machen und exemplarisch sind für eine Gegenwelt, an der wir modernen Menschen uns vorzüglich kontrastierend verstehen lernten.
Im geduldigen Umgang mit einem bedeutenden, komplexen Überrest der Geschichte wird exemplarisch die fortschreitende Arbeit im hermeneutischen Kreis erfahren: Fremdgewordenes, Einzelnes erschließt sich erst aus Vorstellungen vom Sinn eines Ganzen, umgekehrt ändert das die Vorstellungen von diesem Ganzen (z.B. Mittelalterbild).
Methodische Funktionsziele des Faches können damit beispielsweise auf dem Gebiet der Entwicklung und Prüfung von Hypothesen bearbeitet werden. Dabei kann ein solcher Unterricht vorzüglich auch den universalgeschichtlichen und existentiellen Fragen der Teilnehmer, den anthropologischen Funktionszielen des Faches Geschichte, dienen.

3.4.2. Lehrkunst und politischer Unterricht


Für einen Teil der Geschichtslehrer gehören die von Glöckel als exemplarisch vertiefbar bezeichneten, etwa unter den Begriff „Menschenkunde“ subsumierbaren Ziele eher zu den Randzielen, die außerdem ideologieanfällig, dubios sind. Vorgebracht könnte dieser Einwand von jenen werden, denen vor allem am Geschichtsunterricht als Stütze der politischen Bildung liegt. Die diffuse Menschenkunde ist von dorther im Verdacht, an die Stelle von kritischer Standpunktfindung, an die Stelle praktischer Perspektiven, haltloses Staunen über das Menschenmögliche und ästhetische Folgenlosigkeit zu stellen. Daß Geschichtsunterricht als Teil der politischen Bildung aufgefaßt wird, ist allerdings eine seit jeher gängige Verteidigung der didaktischen Bedeutung des Faches. In der Regel dominierte dabei allerdings nicht das emanzipative, sondern das konservative, staatsbürgerliche Interesse. Aber auch ein auf die pädagogische Autonomie pochender Erich Weniger hat zum Wohl des Kindes, zur Eröffnung der künftigen Handlungsmöglichkeiten einer neuen Generation, den Geschichtsunterricht primär als Mittel der politischen Bildung verstanden. (21) Der berühmte Streit um die Hessischen Rahmenrichtlinien (22) endete aber nicht mit einer Durchsetzung dieser Position, sondern mit einer pragmatischen Waffenstillstandslinie.
Zwei Fächer, deren Gegenstand im Grunde der gleiche ist - ist das nicht auch mit Chemie und Physik so? - die an ihn aber unterschiedliche Fragen stellen, unterschiedliche Aspekte durch verschiedene Verfahren zum Vorschein bringen, sollten aber einen sinnvollen Zusammenhang bekommen. Ich stimme Karl-Ernst Jeismann zu, dem es um die Wiedergewinnung des Dialogs zwischen politischer Bildung und Geschichtsunterricht geht. Er stellt für beide Fächer fest:

„Beide Fächer gehören, wie der Religionsunterricht, aus dem sie, historisch betrachtet, sich ableiten, zu jener schwierigen Fächergruppe, deren Aufgabe nicht die Vermittlung von Kulturtechniken und Fertigkeiten im spezifischen Sinne ist ... Es geht in unseren Fächern vielmehr um ein Bündel von nie eindeutig zu gebenden Antworten auf die Frage, was der Mensch und was seine Mitmenschen seien und wie sie ihr Zusammenleben gestaltet haben oder gestalten sollten - die alte Frage Walthers von der Vogelweide: ‘wie man zer werlte solte leben‘.“ (23)

Solches Miteinander setzt aber auch Einsicht in ihre Verschiedenheit und prinzipielle Eigenständigkeit voraus. Historie und Politische Bildung stehen einerseits nicht isoliert nebeneinander und verhalten sich andererseits nicht wie konzentrische Kreise, sie sind zwei sich überschneidende Kreise, einer den anderen anregend und korrigierend.
Selbst die idiografische, ästhetische, monumentale anthropologische Geschichts-und Kulturkunde stellt in ihrer gegenwartsfernsten Ausprägung ein wichtiges sozialkundliches Korrektiv der politischen Bildung dar, indem sie in den Prozeß der Selbstaufklärung einer Gesellschaft hinein wichtige, leicht übersehene oder schief dargebotene Aspekte menschlicher Wirklichkeit zu denken gibt:

Allgemein: „Der Geschichtsunterricht bietet ... ein Gegengewicht zum Gegenwartsbezug und zum Selbstbezug - beide haben ja neben ihren pädagogischen Vorzügen auch die Nachteile der Befangenheit ... Mit dieser Erkenntnis erweiternden Distanz bringt er in die politische Bildung einen Reflexionswiderstand ein, der zur Vorsicht und Abwägung bei Urteilen mahnt und den schnellen, direkten Handlungsimpuls bremst, den Drang zum Aktionismus zügelt ... Positiv kann man diese Reflexionshürde ... als Besonnenheit bezeichnen. (24)

Dazu müßte sich der historische Aspekt dem politischen aber auch wirklich zuwenden. In dem hier zu betrachtenden Lehrstück scheint nicht einmal das zu geschehen. Die Lorenzkirche in Nürnberg böte eine Fülle von Möglichkeiten sozialgeschichtlicher Anknüpfung. Sie erscheint insgesamt als Dokument geschickter, zäher Emanzipationsarbeit des städtischen Bürgertums. Sie belegt stadtbürgerliche Sparsamkeit und Umsicht, machtpolitische Verstrickung, ja Blutschuld, frühbürgerliche soziale Sicherung, die Feudalisierung des Patriziats zu Beginn der Neuzeit, wirtschaftliche Interessen im Gewand sakraler Monopolansprüche (25) usw. Solche Bezüge stellten in meinem Unterricht früher einmal einen kaum hinterfragten Hauptzugang dar. Heute sind sie nur noch begleitend vorhanden, können als methodische Leitfragen nicht mehr den Unterricht strukturieren. Was ist geschehen? Hier der Versuch einer Antwort:
Zur Verteidigung ist natürlich daran zu erinnern, daß der sozialgeschichtliche, historisch-kritische Unterricht in der Regel überhaupt keinen Begriff davon haben will, was eine Kirche an sich ist. Es ist klar, daß kein Gegenstand, solche der Kunst zumal, in seinen Funktionen und Bedeutungen für Anderes und Andere ganz zu fassen ist. Er drückt sich in diesen Bezügen lediglich ab. Immer nur hinter die Dinge zu sehen, heißt, sie zuletzt selbst überhaupt nicht mehr zu sehen.
Diese Wesensorientierung allein erklärt aber die Ausdünnung der sozialen, politischen Gehalte im beschriebenen Lorenzkirchenprojekt nicht genügend. Nach dem oft behaupteten Implikationszusammenhang von Methodenentscheidungen und Themenwahl (26) ist vielleicht auch zu fragen, ob Wagenscheins genetische Methode, Comenianische Ganzheitlichkeit, der Bergsche Lehrkunstansatz nicht unaufgeklärte Themenvorentscheidungen beinhalten. Griechische Geometrie, Newtonsche Physik, Botanik der Flora, Himmelskunde, Klassische Rhetorik, Lessings Fabeln, die Kerze nach Faraday, der Dorfteich, der heimatliche Dom usw., alle diese Etüden, Lehrstücke aus der Bergschen Lehrkunstdidaktik (27) weisen in den allgemeinmenschlichen, ästhetischen Raum, erreichen noch nicht das zwanzigste Jahrhundert. Klafki zu Berg:

„Ich habe den Eindruck, Sie haben ganz starke Vorbehalte gegenüber Technik, modernem Leben, realer Welt, die die Kinder und Jugendlichen heute betrifft, vielleicht auch in ganz fragwürdiger Weise fasziniert. Mir stellt sich Die Frage, ob in ihrem Ansatz nicht ganz bestimmte Auswahlkriterien vorherrschen, die übrigens auch bei Wagenschein drin stecken und die den Rückzug auf ‘schöne‘, gesellschaftlich unproblematische Themen zur Folge haben. Es ist eben kein Zufall, daß es bei Wagenschein kein Beispiel gibt, in dem etwa die fragwürdigen Verwendungszusammenhänge naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im Kontext von ökonomischen oder militärischen Interessen zum Thema gemacht werden.“ (28)

Man kann Berg abnehmen, daß hier keine politischen, weltanschaulichen Scheuklappen vorliegen. Eine Ursache für diese Grenzen ist sicher darin zu sehen, daß der Lehrkunstansatz zunächst von didaktischer Tradition ausgeht. Wirksamer dürften aber die methodischen Entscheidungen sein. Ich habe das Lorenzkirchenprojekt unterrichtsdidaktisch unter die Maxime der vertieften Begegnung, der meditativ gesammelten Erfahrung und Erkenntnis gestellt. Zu diesen unterrichtsdidaktischen Aspekten unten mehr. Hier interessiert, daß damit möglicherweise gewisse Themen und Intentionen zurückgedrängt werden. Wäre es nicht auch im Sinne einer Wagenscheinschen Problemeröffnung, Medienerziehung z.B. mit einem dreitägigen, gemeinsamen Dauerfernsehen zu beginnen, einem Crash-Kurs der Selbsterfahrung als Dauer-Fernseh-Zapper? Wir setzen uns dann doch dem „Phänomen“ erst einmal gründlich aus. Dann wird ein genetischer Weg der Medienkritik nicht von vorgesetzten Maßstäben, sondern aus der Erfahrung entwickelt. Ob wir auch so (oder nur so?) das Bildungsziel entsprechender Kritik- und Handlungsfähigkeit erreichen? Nun stelle man sich darüber hinaus einmal vor, unser Gegenstand wäre nationalsozialistische Massenpsychologie, das Nürnberger Reichsparteitagsgelände. Sind auch dort meditativ-gesammelte Erfahrungen angebracht? Vielleicht doch!? Wäre die Folge nicht gerade bei Jugendlichen die, daß sie dem Druck der Angleichung von äußerer Situation und innerer Einstellung ausgesetzt werden? Jugendliche haben es noch schwer mit stabiler Distanz. Wo sie sich ausdauernd befinden, was sie ausdauernd tun, das sollte stets möglichst in Harmonie mit der inneren Einstellung positiv bewertet sein. Solche Probleme der Wagenschein- und Lehrkunstdidaktik im Bereich historisch-politischer Phänomene haben wir noch zu wenig geklärt. Wir müßten praktisch erproben und differenziert wahrnehmen.
Wir sollten aber trotzdem meines Erachtens bereits die Hypothese bedenken, daß uns mit den Comenianischen, Wagenscheinschen Unterrichtsprinzipen ein stets aus dem Ineinander von Schuld und Größe gewobener kulturgeschichtlicher Gegenstand allein zum Ehrfurcht erheischenden geraten könnte und damit unverantwortlich verfehlt würde.
Dabei zeigt der vorgelegte Kirchenunterricht durchaus, daß es gelingen kann, meditative Versenkung und kritische Distanz im Ganzen eines intensiven Umgangs mit dem Gegenstand zu verknüpfen und auszubalancieren. Klar ist auch, daß der sokratisch-kritische Wagenschein methodisch kaum in einem Gegensatz zum kritischen Auftrag der Kulturwissenschaften steht. Schwieriger dürfte diese Balance gelingen mit den comenianischen Elementen und den Lehrkunstaspekten in dem Bergschen Ansatz, weil dort immer die Metaphern des ehrwürdigen Bildungskanons auftreten. Diese Bedenken können hier aber nicht grundsätzlich weiterverfolgt werden, sondern werden ein Stück weit einen Teil der Nachbetrachtung zur zweiten Darstellung des Kirchenlehrstücks in Auseinandersetzung mit dem Lehrkunstansatz prägen.

3.4.3. Das heimatkundliche Prinzip und Lehrkunst


Martin Wagenschein konnte seinen Unterricht als Einwurzelung beobachten, als gleichzeitiges Austreiben nach oben und Hinabwurzeln. Das didaktische Baumbild zeigt auch: Das Wachsen in beide Richtungen vollzieht sich hintergündig während der kreishaften Bewegungen der Jahreszeiten, das heißt während des Wechsels von Ausgreifen und wieder Zurückkehren zu den selben Anfängen. Dieses Lernen verträgt deshalb kein Herausreißen, es bleibt in der primären Umwelt, von der es sich anstoßen ließ, behält zu dem komplexen Ausgangsphänomen anschauliche Nähe, Fühlung.
Hält man sich vor Augen, daß die Gegenstände ja schon außerhalb, vor und nach dem Unterricht, Lebensbegleiter sind, so sehr wir sie auch übersehen haben mögen, dann schrumpft Unterricht zu der kurzen Phase organisierten, helfenden Eingreifens in eine beständig sich vollziehende Auseinandersetzung. Denkt man das noch weiter, so meldet sich dahinter ein bedeutendes Ideal: Die ethische Vorstellung vom Unterricht unter den Augen der Öffentlichkeit (nicht unbedingt in der Öffentlichkeit, aber von dieser beobachtet), einer Öffentlichkeit, die am lebensweltlichen Orientierungsgewinn für ihre nachwachsende Generation den Sinn der Schule recht anschaulich ablesen kann. Diese Auffassung von Schule kommt plausibel zum Tragen im heimatkundlichen Prinzip. Wir haben die Unterrichtssequenz einmal ja auch „Heimatlicher Dom“genannt, nicht „Der Dom in unserer Stadt“.
Über die Heimatkunde schien noch vor einigen Jahren das letzte Wort gesagt. Man faßte Sache und Begriff nur noch mit spitzen Fingern an. Dabei stellt bereits Eduard Sprangers Definition zunächst nur einen klar einsichtigen und ideologisch unbelasteten Aspekt unserer Lebenswelt heraus:

„(D)as geordnete Wissen um das Vorhandensein des Menschen in all seinen naturhaften und geistigen Lebensbeziehungen mit einem besonderen Fleck Erde, der für ihn Geburtsort oder mindestens dauernder Wohnplatz ist.“ (29)

Wir können davon absehen, daß Spranger in den Jahren nach dem ersten großen Krieg sein Heimatkundekonzept patriotisch überforderte, um sozusagen die kranke Gesellschaft auf schulischem Wege genesen zu lassen. Es wird wohl zutreffen, daß Menschen von Wurzeln leben, nur lassen sich diese ihnen nicht implantieren. Ebenso merkwürdig erscheint heute Sprangers Beschränkung auf die Volksschule.
Wer aber die alte Heimatkunde von einem fähigen Pädagogen in seiner Volksschulzeit noch erlebt hat, führte nicht selten lebenslang die Erinnerung an prägende Ausflüge, packende Erzählungen und freudige Basteleien und Aktionen mit sich. Unerträglicher Schwulst, Anmaßungen der Nazizeit, entsprechende Kontinuitäten in die Jahre der Restauration hinein haben den Ruf der Heimatkunde zerstört. Vier bedeutende Einwände werden seither pointiert gegen sie erhoben, die aber in ihrer generalisierenden Form nicht haltbar sind:

1. Heimatkunde/Heimatgeschichte betreibt eine nicht sachgemäße Engführung. Wie die Welt sich in großen Zusammenhängen entwickelt und wie das Leben in der modernen Welt nahezu global bewegt wird, wird vernachlässigt. Entgegnung: Dieser Vorwurf trifft die stets noch national oder europäisch zentrierte Geschichtsschreibung und den entsprechenden Gechichtsunterricht genauso. Außerdem lassen sich so keine triftigen Gründe gegen ein hauptsächlich ergänzendes heimatkundliches Unterrichtsprinzip vorbringen.
2. Heimatkunde ist stets rückwärtsgewandt. Die Vergangenheit bleibt im Vergleich zur Gegenwart stets der Sieger. Dieser Einwand fügt sich an den anderen, ähnlichen, die Veränderbarkeit der Welt, ihre gestaltbare Offenheit verschwindet, da Heimat oft nur als Opfer von Entwicklungen in den Blick kommt, die anderswo ihr Zentrum haben.
Entgegnung: Dagegen wäre zu fragen, ob nicht jeder konkrete Platz, auch der, an dem große Geschichte gemacht wurde, gegenüber dem nur gesamtgeschichtlich-theoretisch konstruierbaren Prozeß der Geschichte widerspenstig und oft indifferent bleibt, als ein Gegenstand, ein bloßes Opfer. Ich vermute, dieses Argument betrifft alle Schauplätze der Geschichte, wendet sich also im Grunde gegen die Überziehung der Vorstellung von greifbarer Geschichte.
Daß Vergangenheit als positives Gegenbild der Gegenwart mißbraucht wird, muß ebenso wenig zwangsläufig der Heimatkunde anhaften. Zu den mächtigen Bändern, die uns an „die Heimat“ binden, gehört gerade die leidvolle und schuldhafte Vergangenheit. Es liegt nicht notwendig in der Sache, wenn Heimatkunde immer folkloristisch verharmlost wird.
3. Ähnlich ist der Vorwurf, Heimatkunde sei antizivilatorisch, antiurban. Entgegnung: Nicht nur verfügen gerade Städter heute über Heimatbewußtsein. Es findet sich auch bei den Hochmobilen. Man kann mehrere Heimaten besitzen, und man kann sich einer größeren Heimat zugehörig fühlen. Spranger hatte nicht recht, wenn er Geburtsort oder dauernden Wohnort voraussetzte. Entscheidend bleibt, daß ein Mensch sich seine Identität anhand von Orten vorerzählen kann. Er weiß sich diesen von Menschen, von Kulturen geprägten Orten zur Dankbarkeit verpflichtet, insofern er ohne sie nicht das geworden wäre, was er ist. Er weiß auch, daß dort ein Teil von ihm weiterlebt. Zürich-Berlin-Rom-New York: Als erzählte Welt konnten sie zusammen zum Beispiel einem Schriftsteller zur Heimat werden, zur Landkarte seiner Biographie. Unter solchen individuellen Heimatkarten bündeln sich viele zu typischen kollektiven Heimatkarten.
4. Damit veflüchtigt sich schon fast der gravierendste Einwand: Heimatkunde erziehe zur Intoleranz dem Andersartigen gegenüber.
Entgegnung: Gostenhof, ein tradititionelles Nürnberger Arbeiterviertel, wird heute stark von Ausländern bewohnt. Es ist gerade dadurch auf eine hier nicht zu klärende Art ein unverkennbarer Teil Nürnbergs geblieben. Heimat war oft, vor allem in Franken, von Fremden bestimmt. Sie kamen aus Böhmen, Frankreich, aus Südosteuropa usw. und haben z.B. nach dem Dreißigjährigen Krieg ganze Wohnorte neu besiedelt. Wer die Heimat ernsthaft kennenlernen will, kommt um die Fremden nicht herum. Der heute wieder erstaunlich unkompliziert gebrauchte Begriff der Nation ist dabei viel problematischer. Zwingt er nicht schon von vornherein viel mehr zu gewaltsamer Realitätsverleugnung?
Trotzdem ist das sensible Unbehagen an „Heimatkunde“ als Unterrichtsprinzip nicht grundlos. Zuzugeben ist, daß Heimat, auch wenn sie eine rauhe Mutter ist, die Fremde tendenziell in kaltes, ungastliches Licht taucht. Zu bekennen, daß man hierhin gehört, heißt auch festzustellen: dort gehöre ich nicht hin. Das Andere aus der Ferne zu sehen, darf aber nicht in Intoleranz abgleiten. Die Fremde, in der er unter Umständen nicht leben will und kann, verachtet der Gebildete nicht zwingend. Vielleicht gibt es heute auch schon eine ökologische Bewußtheit, der der Weltraum dies kalte Fremde ist und der die ganze Erde wirklich als seine Heimat empfinden kann.
Ein Unterricht inmitten der heimatlichen Phänomene akzeptiert, nährt den Gedanken an Heimat, will aber keine „Heimatkunde“ sein. Dieser Begriff wäre, wenn überhaupt ein das Vielerlei denkbarer Aktivitäten zusammenfassender Begriff nötig ist, durch „Unterricht über die Heimat“ zu ersetzen. Dieser Unterricht muß etwas Taktvolles, Nüchternes sein. Es geht nicht um das Lernziel Heimatliebe, sondern um Kenntnisse, die mögliche Identitätsangebote beinhalten. „Heimat“ ist ein starkes und schönes Wort, in dem auch immer die Fremde, das Fern- und das Heimweh sich regen, dieses Wort soll man nicht aufgeben. Immer mehr wird aber deutlich, daß damit heute keine Landschaft, keine Region in erster Linie, schon gar keine Volksgruppe gemeint ist, sondern die begangene, ständig erfahrene Lebenswelt, Um- und Mitwelt. Als solche hat Heimat heute (wieder?) große Kraft und Geltung.
Vertraut ist auch die Beobachtung, daß an der Heimat Geschichte besonders anschaulich und konkret werden kann, daß jene persönliche Betroffenheit entsteht, die den Schüler zur Stellungnahme nötigt. Die Begehung der Heimat ist nicht durch Dias im Klassenzimmer zu ersetzen. Heimatgeschichte, Geschichtsunterricht mit den Zeugnissen aus der Heimat, kann mehr als nur veranschaulichen und kurzfristig verstricken, so sehen es auch bildungspolitisch Verantwortliche in Bayern:

Der Heimatraum eignet sich besonders für das Lernen ganzheitlicher Wahrnehmung, für die Erschließung und Förderung von Emotionalität und zur Ermutigung verantwortlichen Handelns für die natürliche und soziale Umwelt. So verbindet das Thema Heimat als wichtiger und zeitgemäßer Unterrichtsgegenstand kognitives und affektives Lernen, besseres Kennenlernen der Heimat und Verantwortung für die Heimat. Wir verstehen Heimat als einen Raum, der Sicherheit, Geborgenheit und damit Identität gibt, der uns aufgegeben ist, den wir uns schaffen und für die aktive Lebensgestaltung lebendig erhalten. Heute geht es darum, exemplarische Zusammenhänge, Vernetzung und Wirkung menschlicher Wahrnehmung und menschlichen Handelns im Heimatraum deutlich zu machen.“ (30)

Richtig. Nur eine Ergänzung erscheint mir angebracht: Heimat ist auch genau der Ort, an dem sich wegen Ozon- und Nitratbelastung, wegen Beton und genormter Wohnarchitektur, wegen Zersiedelung und sozialer Destruktion immer schlechter leben läßt. Richtig ist, daß wir die erstaunlicherweise noch lange nicht versiegte Fähigkeit fördern müssen, aus einer Dürre die Tropfen menschlicher Identität zu pressen. Im offenen Gespräch beispielsweise mit einem Hofbesitzer oder einem Denkmalschützer blättert sich wie von selbst eine Vielzahl zu integrierender Aspekte auf, darunter so manches drückende Problem. Heimatunterricht ist wie kaum ein anderer ein Unterricht der bildenden „Begegnung“. Mit Hermann Heimpel ist zu bejahen, daß Aneignung als totaler Lebensvollzug, an dem die Person mit allen ihren Schichten beteiligt ist, das Ziel sein kann. (31) Wenn Rohlfes fragt: „Lassen sich wirklich ‘Begegnungen’ im Unterricht direkt beabsichtigen?“ so meinen wir im Gegensatz zu ihm: Wir glauben ja! Daß sie sich nicht planen, wohl aber anbahnen, nicht abprüfen, wohl aber mitteilen, nicht bewerten, wohl aber verwerten lassen, beweist nicht ihre Unmöglichkeit, nur ihre geringe unterrichtsdidaktische Operationalisierbarkeit.
In der heimatunterrichtlichen „Begegnung“ wohnt also ein Anspruch, der rein aktivitätsorientierten Projekten fehlen kann, wo das Erlebnis das Ergebnis vielleicht ersetzen darf. Der heimatliche Gegenstand behält aber seine Widerstände, seine provokative Kraft als Teil der Wirklichkeit und kann daher nicht obenhin erledigt werden. Am Ende können solche Begegnungen die verantwortliche Annahme fördern. Manches kann dabei schon im Unterricht angebahnt werden. Dabei sind Pflanzaktionen oder Deregulierungen im Landschaftsbereich ebenso denkbar wie Partnerschaften/Kontaktpflege im sozialen Bereich. Wären auch Stein- oder Mauerpatenschaften, Übernahme von Führungen, Mitwirkung bei der Öffentlichkeitsarbeit bei alten Kirchen oder Burgen denkbar? Erst sehr spät finden die Menschen heute im Erwachsenenalter hin und wieder ihren Beitrag, ihren professionellen oder ehrenamtlichen Anteil an der Pflege der heimatlichen Lebenswelt. Welchen Beitrag dazu die Schule geleistet hat, wird meist eher ungreifbar bleiben. Schule sollte aber vorbereiten, die Chancen einer solchen späteren Verantwortungsübernahme, Identitätsfindung anlegen. Und diese Identitätsbildung geht nie glatt, braucht Befremden, Konflikte, hat an der Heimatidylle manches, aber keinesfalls genug. Unterricht mit heimatlichen Gegenständen lebt von der Dialektik zwischen Weite und Nähe: Als Dom ist die Lorenzkirche exemplarisch für europäische Geistigkeit des Spätmittelalters. Der Unterricht führt den Schüler in diesem Bereich geradezu über das vertraute Bild der Grenzen seiner Heimat hinaus, macht sie ihm ein Stück weit fremd, wenn er beispielsweise bislang die Kirche für besonders fränkisch gehalten hat. Konkrete Anekdoten, Sagen, genealogische, politische Besonderheiten, vielleicht auch Absonderlichkeiten wenden sich dann aber doch wieder an das Ohr des Heimatinteressierten.
Ein Unterricht zum heimatlichen Dom kann vielleicht wie kein anderer Heimatunterricht diese Dialektik nutzen. Die großen alten Kirchen haben heute einen hohen alltäglichen Identifikationswert. In Nürnberg verzichten städtische Werbelogos, neuerdings auch Wahlplakate, ungern darauf, die positive Besetzung der Lorenzkirchenikone zu nutzen. Ein solcher Unterricht erlaubt es also, sich in dem wirklich zu beheimaten, was man intuitiv und unkritisch, oft auch unsicher und unwissend, als heimatliches Wahrzeichen postuliert. Er führt zu überraschenden Perspektiven, differenzierteren Kenntnissen, eröffnet so einen spannungsreichen und daher nachhaltigen Dialog, der mit dem Unterricht nicht endet.

3.4.4. Wozu Mittelalter?


„Ein König lebt in sagenhaftem Reichtum in einem weithin sichtbaren Palast, umgeben von einer sehr schönen Tochter und seinen devoten Hofleuten und Soldaten. Überfluß und Glanz des Hofes scheinen unerreichbar fern für das Volk, die Bauern in ihren armseligen Hütten oder die wandernden Handwerker, die nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben. Ihre Träume von einem Leben in Reichtum und Arbeitslosigkeit erfüllen sich jedoch in dem einen Burschen des Märchens, der durch List, Geschicklichkeit oder Mut oder mit der Hilfe großer oder kleiner Zauberer die Hand der Königstochter erwirbt und nun selber zum König aufsteigt.“ (32)

Natürlich wird verantwortlicher Unterricht auch dann, wenn er weiß, daß in ihm unauslöschlich die märchenhafte Folie unseres Mittelalterbildes webt, der Entzauberung dienen. Sind aber Themen wie „Der König besucht eine Pfalz“ nicht auch in nüchternster Konkretion und Faktentreue resistent gegen Entzauberung, ja sogar damit wieder nur geeignet die Phantasien weiter zu entflammen? In Burgen, Fachwerkhäusern, alten Gerätschaften, Schmuck, Rüstungen vor allem aber in den alten Kirchen finden wir Vergangenes, dem wir die Zugehörigkeit zu unserer Landschaft und Kultur einerseits abspüren, das uns trotzdem andererseits phantastisch fern erscheint. Das Interesse an historisch authentischen Konzerten, Aufzügen, Kostümen, Feldlagern, von Vereinen hingebungsvoll gepflegt, von Künstlern, Wissenschaftlern im Rahmen des Fremdenverkehrs inszeniert, geht auf unser Bedürfnis zurück, in uns radikal neue Lebens-Entwürfe zu entdecken. Am Ende der Neuzeit, in einer Epoche scheinbar zerfallender Staatlichkeit, stehen mittelalterliche Lebensformen wie geschichtlich unüberholbare, sittliche Herausforderungen da.
Ist also die Frage „warum Mittelalter?“ überhaupt noch eine echte Frage? Vor kurzem, als Geschichte in der Rolle einer historischen Gegenwartskunde immer stärker zum Bestandteil einer umfassenden politischen Bildung werden sollte, war die Frage noch echt. Auf das Mittelalter schien man in den Schulen dabei noch eher verzichten zu können als auf die Antike. Christian Meier, der bekannte Althistoriker, hat Ende der Sechziger Jahre die Alte Geschichte mit dem Konzept des „nächsten Fremden“ begründet. (33) Nah sei uns die Antike, weil - beispielsweise in der Attischen Demokratie - exemplarische Strukturen und Prozesse vorlägen, die in ihrer Einfachheit und Überschaubarkeit ebenso wie in ihrer gleichzeitigen Rätselhaftigkeit als Reflexionsraum für das moderne politische Bewußtsein geeignet seien. Fern sei die Antike nämlich ganz elementar, so daß das genuin Geschichtliche gewahrt bleibe und allzu simple Kurzschlüsse über den Graben der Zeit hin verhindert würden. Die Antike eigne sich damit besonders wenig für ideologischen Mißbrauch.
Die europäische Antike als Fundus längst vergangener Modelle für unsere staatstheoretische Reflexion, das wollen wir selbstverständlich nicht missen. Aber unser „nächstes Fernes“, das bleibt allen Konstruktionen zum Trotz in mächtiger Selbstverständlichkeit das Mittelalter. Die Antike ist uns nur fern. Das Mittelalter ist uns aber nah und fern zugleich. Das Mittelalter ist tatsächlich unser „nächstes Fremdes“, zu dem es uns zieht. Es ist jenes uns täglich Nahe, das uns aber trotzdem schon ganz fremd geworden ist.
Hans Glöckel unterschied (vgl. oben Kap. 3.4.1.) eine Vielfalt von Aufträgen an das Fach Geschichte: Einen ästhetischen, sittlichen, monumentalischen, anthropologischen, politischen, kritischen, antiquarischen, theoretischen und einen philosophischer Auftrag. Folgen wir ihm darin, so werden wir sicher die unterrichtliche Eignung des Mittelalters vornehmlich unter den ersten vier Aspekten finden. Wir werden auch rasch einsehen, daß die verwickelten, vielfältigen Ereignisstränge des Mittelalters gegenüber einer exemplarisch vertieften Behandlung des immensen Zeitraums an wenigen Themen zurücktreten kann. Wir hätten uns dann mit Glöckel auch entschlossen, weniger der Genauigkeit des Bewahrens und Aufhebens von Erinnerung, weniger der politischen Aufklärung unserer Herkunft und unserer Determinanten, weniger der emanzipierenden Urteilsbildung zu dienen, als im Mittelalter auf die Fahrt der Phantasien auslösenden Menschenkunde zu gehen. Und gerade das Fernste erfüllt besonders gut jene allgemeine Funktion der Historie, die der schon zitierte Jeismann meint:

„Der Geschichtsunterricht bietet ... ein Gegengewicht zum Gegenwartsbezug und zum Selbstbezug ... Positiv kann man diese Reflexionshürde ... als Besonnenheit bezeichnen. (34)

Und doch bekommt dieser vom Mittelalter besonders gebotene Reflexionswiderstand heute auch politische Dimension. Wir könne uns nicht im mindesten unmittelbar vom Mittelalter herleiten. Doch der ferne Spiegel, die ästhetische und politische Ursprungs- und Gegenwelt wird mehr und mehr auch zur politischen Selbstaufklärung benötigt. Die auf die letzten Jahrzehnte oder die sogenannte Neuzeit fixierte Historie gerät nämlich in rascher Folge in kurzatmige Diskussionen, in verfängliche Modethemen. Hartmut Boockmann hat das an so bewährten Schemata wie dem deutschen Sonderweg zu zeigen versucht. Nur zusammen mit dem Hintergrund des Mittelalters haben wir eine zuverlässige Chance, zu vermeiden, daß notwendige, selbstkritische Deutungen falsche Maßstäbe an die Gegenwart der letzten hundertfünfzig Jahre herantragen. Diese Einsichten setzten sich zugleich mit einem breiten Mittelalter-Boom, dessen Beginn die Stuttgarter Staufer-Ausstellung von 1977 markiert, durch. Daß so die „Geschichte über die Historiker gekommen“ ist, wird von diesen mit gemischten Gefühlen gesehen. Den Historikern liegt nämlich daran, beide Phänomene auseinanderzuhalten:

Muß (man) sich nicht Sorgen machen, wenn das Mittelalter in der Öffentlichkeit märchenhafte Züge annimmt, wenn dort nicht mehr Barbarossa und Heinrich der Löwe ... streiten ..., sondern sich stattdessen exotische Wesen tummeln, wenn die Grenze zwischen der Mittelalter- und der Phantasy-Literatur zu schwinden beginnt ...?“ (35)

Es sind nach Boockmann dabei aber auch berechtigte Korrekturen im Gang: Das Mittelalterbild wurde in Deutschland vor allem von einer dünnen politischen Geschichte oder abgehobenen Kultur- bzw. Geistesgeschichte geprägt. Die Historiker können heute aber wieder erfolgreich und in das Mittelalter „einladen“, wenn sie von den alltäglichen Auseinandersetzungen der Menschen handeln. Ohne an Attraktivität einzubüßen, können Historiker auf diese Weise dem Phantasy-Zugang die Gegenmelodie vorsingen, ins Spiel bringen, wie erst das eigentümliche, bedrückende Lebensgefühl der Zeitgenossen ein vollständiges, verständliches Mittelalterbild ermöglicht, wie unsere Sachkenntnis über das alte Reich der deutschen Kaiser, über die Lebensbedingungen der geplagten Menschen, über gern übersehene sozialhistorische Umwälzungen und Brüche das Mittelalter differenziert. Und dieser Dialog wird frei werden von bekannter, wissenschaftlich eigentlich unprofessioneller Überheblichkeit den Schwärmern gegenüber.
Jacques le Goff noch hat zum Beispiel 1964 seine berühmte, engagierte, materialreiche und informative Darstellung dieses abendländischen Jahrtausends dezidiert mit dem Ziel geschrieben, die Rückschrittlichkeit und Primitivität des Mittelalters gegen bekannte Tendenzen zu seiner Verklärung aufzuweisen:

„Wenn mir ein ... reichlich trivialer Rat erlaubt ist, so möchte ich dem Leser empfehlen, sich doch einmal aufrichtig zu fragen, ob er sich von Merlin oder Oberon mit Zauberkraft in diese Zeit versetzen lassen und wirklich in ihr leben wollte. Dabei halte er sich vor Augen, daß die Menschen des Mittelalters - und hier kann man ohne einen Irrtum befürchten zu müssen, tatsächlich sagen, alle Menschen des Mittelalters - ihrerseits nur eins im Sinne hatten: ihrer Zeit zu entfliehen und das Jenseits, den Himmel zu gewinnen. Unter all den Ängsten, die sie erzittern ließen, war die Furcht vor dem Tod die geringste ...“ (36)

Hier sei dagegen vielleicht „reichlich trivial“ die Gegenfrage erlaubt: Was sollen wir denn von einem Historiker halten, der nicht (fast) alles dafür gäbe, wenigstens einen Tag unter den Menschen zu verbringen, über die er sonst so hilflos schreiben muß?

„Ich möchte nicht im Mittelalter gelebt haben. Ich bin froh, daß ich nicht mit dem ersten Tageslicht zu harter Arbeit aufstehen muß; ich freue mich des warmen Wassers aus der Wand oder auch schon des kalten, meiner Schuhe und meiner Kleider, eines Stückchens Papier, des behaglichen Zimmers und der Gewißheit, von einem Weg durch den Wald auch wieder lebendig zurückzukommen. Ich freue mich, daß mich am Stadtrand kein Galgen erschreckt und daß die Menschenmassen am Wochenende nur zu einem Fußballspiel drängen. (37)

So eröffnet aber auch 1987 Ferdinand Seibt wieder seine didaktisch außerordentlich sinnvoll konstruierte Mittelalterdarstellung „Glanz und Elend des Mittelalters“. Man ist provoziert, darauf einzugehen und von anderen Menschenmassen, die heute drängen, zu reden und auch von der Schattenseite des überall fließenden Leitungswassers und von Wegen ohne Gewißheit. Abgesehen davon, daß schon das trivialste Relativitätsbewußsein sagt, daß (fast) alles auch eine Sache der Gewohnheit ist. Auf dem Land liefen unsere Großeltern als Kinder sommers noch alle Werktage barfuß, zur Demonstration von Schmerzunempfindlichkeit auch schon mal über Stoppelfelder. Wir können das beim besten Willen nicht mehr, und deshalb wollen wir es auch nicht mehr.

Damit meine ich aber nicht: Erst Elend des Mittelalters, dann „Glanz und Elend“ und nun wieder der Glanz des faszinierend fremden Mittelalters. Dazu wird es nicht kommen. Es sieht eher so aus, als bestünde - vielleicht zum ersten Mal seit Beginn der neuzeitlichen Geschichtsschreibung - die Chance eines vorurteilsfreien, ernsthaften Dialoges mit der schwer verdaulichen Vergangenheit des Mittelalters. Worin zeichnet sich dieses ernsthafte Interesse ab? Der Paradigmenwechsel datiert vom Anfang der Achtziger Jahre, und er war von Anfang an nicht bloß eine polemische Tendenzwende - passend zu Regierungswechseln in den westlichen Ländern. Es hängt mit einem grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft zusammen. Nipperdey aufgreifend, hat Irmline Veit-Brause diese Kritik am bisher herrschenden „kritischen Paradigma“ der Geschichtswissenschaft folgendermaßen zusammengefaßt:

„Er (Nipperdey) sieht die Radikalität kritischer Geschichtsschreibung immer noch angetrieben von Elementen der älteren Aufklärung - als da sind: ‘der aufgeklärte Optimismus von der menschlichen Perfektibilität, die unreflektierte Überzeugung, daß mehr Freiheit mehr Gleichheit bringt’ -, trotz der längst gewonnenen Einsicht in die ‘Dialektik der Aufklärung’. Ein solcher Aufklärungsgestus, der den Historiker in der Sicherheit wiegt, ein Ziel der Geschichte zu kennen, entzieht aber - und das ist Nipperdeys zentrales Argument - ‘die Perspektive, die wertende Norm, den Zukunftsentwurf’ der Diskussion und führt aufs neue zu einer Dogmatisierung der Historie, die eine ‘tendenziell totalitär-terroristische Pointe’ enthalte. Das aber - und das muß hier angemerkt werden - was Nipperdey als das ‘penetrant Rechthaberische solcher Geschichte’ empfindet, läßt sich nicht - wie er meint - der ‘Falsifizierbarkeit’ noch der ‘Widerlegbarkeit’; die ja immer nur empirisch vorgehen können, unterwerfen. Überzeugender klingt seine Berufung auf eine gerade durch den Umgang mit der Geschichte gewonnene skeptische und zugleich selbstkritische Grundeinstellung zum Menschen und seinen Dingen: ‘das Bewußtsein der Fragwürdigkeit, Endlichkeit, Fehlbarkeit, Widersprüchlichkeit unseres Wissens sowohl wie unseres Tuns.‘ Im Lichte dieser philosophischen Anthropolgie können eigentlich nur noch - was Nipperdey hier nicht berührt - die Tugenden von Toleranz und Selbstbescheidung bestehen.“ (38)

Wurde dieser Paradigmenwechsel verständlicherweise an der jüngsten Nationalgeschichte des „deutschen Sonderwegs“ bemerkt, so hat er doch auch für unser Thema seine Konsequenzen. Nipperdey selbst - der Historiker der neueren Geschichte - hat von dort den Weg zum Mittelalter neu zu ebnen versucht. Bescheiden, sachlich und tolerant, nicht nur hinsichtlich des erkenntnisleitenden, aufklärerischen Fundaments, sondern auch hinsichtlich des historischen Urteils resümiert er sein Bild von der „Aktualität des Mittelalters“ ausgerechnet im Konzept der Kontinuität in der Pluralität. Ausgerechnet am Modernsten, der so zweischneidigen Pluralität, findet Nipperdey eine Brücke zum Mittelalter:

„Zum Schluß, wenn wir das Ganze des Mittelalters in den Blick nehmen, diese Welt ist pluralistisch. Sie ist nicht nur, wie alle uns bekannte menschliche Welt, von Konflikten bestimmt, sondern sie institutionalisiert und hegt Konflikte, sie kennt die Teilung der Gewalten, geistlicher und weltlicher, und wenn auch schwächer: geistiger, die Teilung der vielen weltlichen Gewalten, die Partikularisierung der Nationen und Territorien, die Immunitäten, das rechtlich gesicherte, in der Theorie legitimierte Neben- und Gegeneinander verschiedener Kräfte und Mächte. Wie es in einer Hochkultur, außer der griechischen wohl, selten genug ist. Der wie immer interpretierte gegenseitige Bezug aller auf einen transzendenten göttlichen Ursprung aller Ordnung, der alle Einzelordnungen gegeneinander relativiert, ist der religiös metaphysische Ursprung dieses Pluralismus. Es ist dieser Pluralismus, der die ungeheuere Dynamik und Vitalität der europäischen Entwicklung vorangetrieben hat, das Bewegungsmoment, das das Wühlen des Geistes ermöglicht und die Freiheit zugleich. Hier liegt die eigentliche, die tiefste Kontinuität der europäischen Geschichte; die moderne Welt mit ihrem Konfessions - und Weltanschauungspluralismus, Staatenpluralismus, Klassen- und Parteienpluralismus im Rahmen eines noch funktionierenden zusammengehörenden Systems und ihrer Dynamik ruht auf der Grundlage des vermeintlich so fernen Mittelalters.“ (39)

Für den Geschichtsunterricht bedeutet das: Vertiefte Unterrichtseinheiten zu den Gegenständen des Mittelalters in unserem Umfeld, auch zu den religiös-metaphysischen, sind heute durchaus angebracht. Sie sind exemplarisch für einen tastenden, kritischen, selbstkritischen Umgang mit der Gegenwart unserer Geschichte. Natürlich kann eingewandt werden, daß entsprechende Brücken auf dem wenig verfänglichen Gebiet des Geistigen und der politischen Theorie leichter zu begehen sind. Schwieriger muß es werden, wenn es an den Kernbestand der frappierenden Phänomene geht. Es scheint aber gerade hier heute eine Herausforderung gesehen zu werden.
Die blutigen Fehden und die grotesk-grausame Justiz gehören zum Kern unseres Bildes vom Mittelalter. Folterkammern und in Massenmord gipfelnde Rache sind es, was zuletzt dann doch immer wieder als das eigentlich Mittelalterliche herhalten muß. Interessant ist es daher schon, wenn Gerd Althoff (40) darzulegen versucht, daß beispielsweise im zehnten und elften Jahrhundert Spielregeln bestanden, die das Konfliktverhalten der mächtigen Sippen regelten. Verschiedensten symbolischen Akten wurde dabei offenbar der Vorzug gegeben vor der militärischen Auseinandersetzung oder der Auslöschung des Rechtsbrechers. Solche Bewältigungsformen traten sicher nur neben der oft genug praktizierten ultima ratio auf. Doch sie dürfen eben nicht übersehen werden, und sie machen uns eher die dahinter stehenden Dilemmata der betroffenen Gesellschaft deutlich. Ähnliches versucht Hartmut Boockmann, wenn er unser Bild von der Folterpraxis ergänzt (41): Es handelt sich dabei nicht um die hochmittelalterlichen Gegebenheiten, sondern um die frühe Neuzeit, von der wir unsere Kenntnisse haben. Das eigentliche Mittelalter kannte in erster Linie unblutige, uns aber ebenso befremdliche Lösungen. Die Folterordnungen waren dialektisch gerade ein Instrument auf dem Weg zu mehr moderner Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit. Die Hilflosigkeit, das neue Landfriedensbewußtsein auch durchzusetzen, wird damit mehr belegt als hervorstechende, historisch singuläre Grausamkeit.
Es ist also ein schwieriger Weg, zu einem differenzierenden, „objektiven“ Bild des Mittelalters, das in seiner Sachlichkeit auch öffentlich ohne Mißverständnisse Gehör findet. Boockmanns Darstellung „Die Stadt im späten Mittelalter“ (42) ist ein ganz erfreulicher Fundus für solche Exkursionen ins Mittelalter. Diese Ausflüge werden dabei immer zugleich Befremden und Empörung wie auch Sehnsucht und Faszination nähren.
Unser Anknüpfen an „das Mittelalter“ politisch, soziologisch aufklären zu wollen, muß wohl noch allzu spekulativ bleiben. Daß im Ganzen unser Interesse am Mittelalter heute mehr ist als ästhetischer Schauer und Kitzel, erscheint mir aber doch als sicher. Eine Zeit, die mitten im orientierungsunsicheren Strom zum Teil widerstrebend, erschaudernd die Rückkehr vereinzelter mittelalterlicher Phänome beobachtet, kann darüber längst noch nicht das letzt Wort sprechen. Klug ist es, lediglich festzustellen:

„Der Fortschritt machte das vermeintlich dunkle Mittelalter fragwürdig; jetzt ist der Fortschritt selber fragwürdig geworden, und mit ganz neuen Augen sehen wir auf die Welt der Ritter und Mönche, der Burgen und Dome, die noch heute die meisten unserer Städte überragen.“ (43)

Und wie vollzog sich dieser Wandel der Einschätzung des Mittelalters in der Fachdidaktik? Wie von selbst hat sich in die unterrichtliche Behandlung des Mittelalters ein sozialgeschichtlich-strukturalistischer Ansatz eingebürgert, der viele Vorteile der Handhabung, der Stoffbewältigung, der Motivation besitzt. Im Hintergrund stehen dabei unter anderem auch Arno Borsts „Lebensformen im Mittelalter“ von 1973. (44)
Die in Bayern zum neuen Lehrplan von 1992 neu angebotenen Unterrichtswerke belegen einen auffälligen Wandel. Das liegt mit Sicherheit nicht nur daran, daß der Stoff „Mittelalter“ eine Jahrgangsstufe vorgerückt ist auf die siebente Klasse. Das Mittelalter erscheint auch nach wie vor noch einmal an einem exemplarischen Thema in der Elften. Geht man noch weiter zurück und vergleicht nicht nur mit der vorhergehenden Büchergeneration, sondern zieht auch Lehrwerke der 60er Jahre mit in Betracht, so wird deutlich, daß sich als Schlüsselbegriff der didaktischen Aufarbeitung des Mittelalters immer mehr die „Lebensformen“ in den Vordergrund schieben. Noch die in Bayern einst vielfach gebräuchlichen „Grundzüge der Geschichte“ (Diesterweg) (45) von 1966 orientierten sich an der Linearität der Darstellung. Mittelalterliche „Geschichte“ - die Reihe zum Beispiel der zahlreichen Könige und Geschlechter - erwies sich aber mit der abnehmenden Selbstverständlichkeit des nationalgeschichtlichen Paradigmas immer weniger als schulgerecht erzählbar. Der Nachfolger im selben Verlag, die „Geschichtliche Weltkunde“ widmet schon 81 der 222 Seiten dem Wandel der Lebensformen, eingebettet allerdings immer wieder in den lineargeschichtlichen Rahmen (46). Das neue Werk des Verlags „Unsere Geschichte“ (47) wendet an die Lebensformen, genauso wie die Parallelveröffentlichungen der anderen Verlage, ziemlich genau die Hälfte des Umfangs. Wesentlich ist dabei, daß sich diese Betrachtungen auch als Block derartig ausweiten, daß eine Auflösung des ereignisgeschichtlichen Zusammenhangs über einen längeren Unterrichtszeitraum in Kauf genommen wird. Solche Themenformulierungen wie „Die Welt der Ritter“, „Vasallen und Lehnsherren“, „Das Leben in der Stadt - Vielfalt und Ungleichheit“, „Abbilder der himmlischen Stadt Gottes: die Kirchen“ bilden in dem neuen Buch aus dem Klett-Verlag (“Erinnern und Urteilen“) (48) sogar sichtlich die eigentliche Grundlage, auf der die Ereignisgeschichte entwickelt wird. Das Verhältnis hat sich umgekehrt. Die Quantität geht dabei Hand in Hand mit neuen didaktischen Qualitäten. So bietet das entsprechende Werk aus dem Oldenbourg-Verlag (49) zusätzlich eine längere Sequenz über „Alltagsleben im Mittelalter“, mit Kapiteln wie „Gerüche“, „Licht“, „Spiel“, und sogar ganze acht Seiten erübrigt das oben zuerst erwähnte Werk aus dem Diesterweg-Verlag für mittelalterlichen Kirchenbau die - so wird eine Quelle überschrieben - „steinernen Lobgesänge zur Ehre Gottes“.
Das Mittelalter ist wieder aktuell, es ist gegenwärtig in unserer Umgebung bis in unsere Namen, in unser Vorstellen und Träumen hinein. Es ist bunt, überhaupt nicht langweilig. Wie geht man damit historisch, d.h. nüchtern, kritisch, „faktentreu“, und zugleich bildend, motivierend, Phantasie entbindend um? Lebensformen, den spirituellen Hintergrund, den spirituellen Alltag erkundet auch der vorgelegte Lorenzkirchen-Unterricht. Die hier vertretene „Lehrkunst“ will einen solchen Unterrichtsstil pflegen, der der kritischen Sachlichkeit verpflichtet bleibt und doch dem ganzen beteiligten Menschen und dem ganzen der über die Fachwissenschaft hinausreichenden Gegenstände Raum gibt.


1) Was sogar in der Zeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) eine scharfe Kontroverse auslöste.
Vgl. Schiffner Alfred, Stoffülle, Methodenlangeweile und Ettikettenschwindel, GWU 5/6 1995

2) Vgl. Das bayerische Gymnasium und sein Bildungs- und Erziehungsauftrag, KMBl I, So.-Nr3/1990, S. 137f

3) Das ergibt sich aus dem Ansatz von 28 stofflich „verplanten“ Stunden pro Schuljahr in einem einstündigen Fach im Verhältnis zur Anzahl der Jahresunterrichtswochen. Vgl. A.a.O., S.138

4) Vgl. Rohlfes Joachim, Geschichte und ihre Didaktik, Göttingen 1986

5) Vgl. Ders., Umrisse einer Didaktik der Geschichte, Göttingen 1971

6) Vgl. Ders., Geschichtsunterricht, in Keck/Sandfuchs (Hg), Schulpädagogik, Bad Heilbrunn 1994, S. 133

7) Vgl. Fina Kurt, Geschichtsdidaktik und Auswahlproblematik, Vom Sinn des Exemplarischen im Geschichtsunterricht, München 1969, S.9

8) Vgl. Die Tübinger Beschlüsse, in Dokumente zur Hochschulreform 1945-1959, R. Neuhaus (Hg), Wiesbaden 1961

9) Vgl. Barthel Konrad, Das Exemplarische im Geschichtsunterricht, in B.Gerner (Hg), Das exemplarische Prinzip, Darmstadt 1972

10) Vgl. Fina Kurt, (Anm 7), S.147, der sich dort auch auf Copei, Der fruchtbare Moment im Bildungsprozeß, Heidelberg 1960 (5) bezieht.

11) Wagenschein Martin, Zum Begriff des Exemplarischen Lehrens, in Ders., Verstehen lehren, Weinheim und Basel 1989 (8), S.46f

12) Rohlfes Joachim, Funktionsziele, Zur Frage des exemplarischen Lernens im Geschichtsunterricht, in Das exemplarische Prinzip, B.Gerner (Hg), Darmstadt 1972, S. 231-248, S. 233

13) Ders.. Geschichte und ihre Didaktik (Anm. 4), S.130

14) Vgl. besonders: Wagenschein Martin, Das Exemplarische Lehren als ein Weg zur Erneuerung des Unterrichts an den Gymnasien, in Ders., Naturphänome sehen und verstehen, Stuttgart 1988 (2)

15) Vgl. Gall Lothar, Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989

16) Vgl. Rohlfes Joachim, Funktionsziele, S. 239ff

17) Vgl. Glöckel Hans, Geschichtsunterricht, Bad Heilbrunn 1979 (2)

18) Vgl. Rohlfes Joachim, Umrisse, S.75 ff

19) Vgl. Glöckel Hans, Geschichtsunterricht, S. 155

20) A.a.0., S. 147

21) Vgl. E. Weniger, Die Grundlagen des Geschichtsunterrichts, Leipzig/Berlin 1926

22) Dieser stürmische Höhepunkt der Auseinandersetzuung mit der „kritischen Geschichtsdidaktik“, für die besonders der Name Annette Kuhn stand, schlug sich intensiv in der Zeitschrift „Geschichtsdidaktik“ 1976-1987 nieder.

23) Jeismann Karl-Ernst, Thesen zum Verhältnis von Politik- und Geschichtsunterricht, in GWU 9/92, S.557-569, S.558

24) A.a.0., S. 566

25) Vgl. z.B. Zeller Michael, Rochus, Die Pest und ihr Patron, Nürnberg 1989

26) Vgl. z.B. Blanckertz Herwig, Theorien und Modelle der Didaktik, 1977(10), S. 94ff

27) Vgl. vor allem Neue Sammlung 1990/1, Lehrkunst

28) Klafki in Kesten Katrin, „Eine Spannung, die sich nicht so einfach auflöst“, Lehrkunstdidaktik im Gespräch zwischen Wolfgang Klafki, Rudolf Messner, Theodor Schulze und Hans Christoph Berg, a.a.O., S. 150

29) Spranger Eduard, Der Bildungswert der Heimatkunde, in Walter Schoenichen, Handbuch der Heimaterziehung, Berlin 1923, S.6

30) Lippert Gerhard, in Das Fortbildungsmodell Heimat und Schule 1987-1989, Handreichung des Staatsinstituts für Schulpädagogik und Bildungsforschung (Hg), München 1989 S. 12

31) Vgl. Heimpel Hermann, Kapitulation vor der Geschichte?, Göttingen 1957

32) Knoch Peter u. Lorenz Sönke, Der König besucht eine Pfalz, in Praxis Geschichte, März 1988, S. 6-13, S.6


33) Vgl. Meier Christian, Was soll uns heute noch die Alte Geschichte? In Ders., Entstehung des Begriffs „Demokratie“, Frankfurt a.M. 1970

34) Jeismann Karl-Ernst, Thesen zum Verhältnis von Politik- und Geschichtsunterricht, in GWU 9/92, S.557-569, S.566

35) Boockmann Hartmut, Die Gegenwart des Mittelalters, Berlin 1988, S.69

36) Le Goff Jacques, Kultur des europäischen Mittelalters, München 1964, S. 36

37) Seibt Ferdinand, Glanz und Elend des Mittelalters, Eine endliche Geschichte, Frankfurt 1987, S. 13

38) Veit-Brause Irmline, Zur Kritik an der „Kritischen Geschichtswissenschaft“: Tendenzwende oder Paradigmenwechsel?, GWU 86/1, S. 18

39) Nipperdey Thomas, Die Aktualität des Mittelalters, GWU 81/7, S. 431

40) Vgl. Althoff Gert, Konfliktverhalten im 10. und 11. Jahrhundert, GWU 90/12

41) Vgl. Boockmann Hartmut, Das grausame Mittelalter, GWU 87/1

42) Vgl. Ders., Die Stadt im späten Mittelalter, München 1991

43) Klappentext zu Boockmann (Anm 35)

44) Vgl. Borst Arno, Lebensformen im Mittelalter, Wien 1979

45) Vgl.: Kaier/Lehmann (Hg), Grundzüge der Geschichte Bd.2, Frankfurt/Berlin/München 1966

46) Vgl.: Busley/Glaser/Hug (Hg), Geschichtliche Weltkunde, Ausg.By, Bd.2, Frankfurt/Berlin/München 1981

47) Vgl. Göbel/Hug (Hg), Unsere Geschichte, Ausg.By, Jahrgangsstufe 7. Frankfurt a.M. 1993

48) Vgl. Bernlochner u.a. (Hg), Erinnern und Urteilen 7, Geschichte für Bayern, Stuttgart 1992

49) Vgl. B.Heinloth (Hg), Geschichte für Gymnasien 7, München 1992



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