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3.2. „Mit spirituellem Spürsinn“ - Gedanken zur Debatte Evangelischer
Schulen um eine zeitgemäße Beschreibung ihres Propriums,
nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit Martin Wagenschein


3.2.O. Was hat das Bedürfnis einer Evangelischen Schule, ihr „Proprium“, ihr Eigentümliches, zu klären, mit Martin Wagenschein zu tun? Das scheint eine willkürliche Verknüpfung zu sein und wenn überhaupt, dann nur für den evangelischen Schulbereich relevant!
Ein Interesse der Allgemeindidaktik kann aber durchaus angenommen werden, denn immer wieder begegnet von verschiedenen Seiten der Versuch, Wagenscheins Motive aus seiner religiösen Persönlichkeit her aufzuklären, mit geringem Erfolg. Daran ändern die folgenden Ausführungen möglicherweise nur wenig, ein bescheidener Beitrag zu dieser Frage wollen sie aber doch sein.
Wichtig ist dabei, künstliche Einvernahmen und Abgrenzungen zu vermeiden. Zu oft werden solche Fragen in den Horizont einer Richtungs- oder gar Glaubensdiskussion gestellt. Man fragt scheinbar plausibel: Welcher Theologie ist diese Didaktik verpflichtet? Wie verhalten sich ihre didaktischen Wertorientierungen zu den Mindestpositionen z.B. einer Evangelischen Schule? Aber Gretchenfragen sind oft nur ein allzu bequemes Mittel der Auseinandersetzung. Hinter der Rigorosität des Fragers verbirgt sich nicht selten die Bequemlichkeit, sich einer neuen Sache in ihrer Vielschichtigkeit nicht aussetzen zu wollen. Manche Schwierigkeit, hier an Evangelischen Schulen in den Dialog zu kommen, hängt dann auch damit zusammen, daß man es mit „Protestanten“ zu tun hat, die in Freiheitssinn und persönlich gedachtem Glauben, in geschickter Ausnutzung der Dialektik protestantischer Theologie, sich gegenüber jeder Argumentation verschanzen können, wenn sie wollen.

3.2.1. Die Schwierigkeit mit dem Proprium Evangelischer Schulen


Daß ein jeder, der in die Propriumsdiskussion über das Ureigene Evangelischer Schulen eingreift, ganz gleich in welcher Art, leicht Widerspruch auslöst, liegt unter anderem daran, daß die Diskussion sehr schnell - ob expressis verbis oder nicht - mit den Aporien der Lutherischen Zwei-Reiche-Lehre belastet wird. (1) Martin Luther sah bekanntlich den Menschen in zwei Welten unvergleichlicher Art eingeordnet. Das Leben in der Welt hat, obwohl es schon Vorbereitung auf das ewige Leben ist, damit zunächst seine besonderen Entfaltungsmöglichkeiten, seinen besonderen Regelungsbedarf und seine besonderen von Menschen zu verantwortenden Gesetze. Luther tritt so Schwärmern und Fundamentalisten entgegen, die sein „allein durch Christus, allein durch den Glauben, allein durch die Schrift“ radikal gesellschaftlich und politisch beanspruchten:

„Und wenn alle Welt rechte Christen, das ist rechte Gläubige wären, so wäre kein Fürst, König, Herr, Schwert noch Recht not oder nütze. Denn wozu soll’s ihnen dieweil sie den Heiligen Geist im Herzen haben, der sie lehret und macht, daß sie niemand Unrecht tun.“
„ Da aber die Menschen „allzumal Sünder und böse sind, wehret ihnen Gott allen durchs Gesetz.“
Und da „zum Reich der Welt oder unter das Gesetz gehören alle, die nicht Christen sind ... hat Gott denselben außer dem christlichen Stand und Gottes Reich ein anderes Regiment verschafft und sie unter das Schwert geworfen ...“ (2)

In Luthers Schulschriften (3) bewährt sich diese Unterscheidung besonders. Die „Herren“ können ermuntert werden, gerade als Christen für das „weltlich Ding“ Schule Sorge zu tragen. Es sind also durch ihre Trennung beide Reiche von Luther zu ihrer Eigentümlichkeit freigesetzt. Die Schule zum Beispiel darf und muß sich ganz nach weltlicher Vernunft und nach weltlichem Nutzen entfalten und bewähren, ohne durch falschen Glaubensfanatismus auf ihrem Weg zu weltlich vernünftiger Dignität gestört zu werden.

Andererseits: „Die Bereiche scheinen auseinanderzufallen; aber der Anschein trügt. Zwischen ihnen wird nur unterschieden, sie werden nicht getrennt; Gott hält sie zusammen: er sitzt in beiden Bereichen im ‘Regiment’. Ihm ist man in beiden Dimensionen Gehorsam schuldig. Die innere Dialektik darf nach keiner der beiden Seiten hin zerbrechen und sich auflösen. Der Glaube an das Evangelium macht den Christen nicht weltlos; das Gegenteil ist der Fall: Die Verantwortung des Christen in seinem weltlichen Beruf wird in einer im Vergleich zum Mittelalter beispiellosen Weise verstärkt ... Die Welt wiederum wird mit ihrer Freisetzung nicht gottlos; Gott hat sie geschaffen und will sie erhalten. Erziehung und Bildung in guten Schulen gehören zu den Instrumenten, die Gott den Menschen anvertraut hat. (4)

Damit ist aber das Dilemma nur erst richtig bezeichnet. Die Diskussion bekommt jetzt endlos Nahrung. Es kann nämlich das Proprium per se nur in einer größeren christlichen Eindeutigkeit bestehen. Schule findet aber im weltlichen Reich, in Uneindeutigkeit, in Verwechselbarkeit statt. Wer es wagt, wie folgt zu fragen und gleich zu antworten:
„Religion auch in Physik und Deutsch? Überall wo sachgemäß!“
wird also genau auf den Nerv der Diskussion treffen, der unseligen Mixtur verdächtigt werden. Skeptisch fragt man zurück: Ausgerechnet im Einlassen auf die plurale Welt und ihre Disziplinen soll eine neue Eindeutigkeit Evangelischer Schulen gefunden werden?
1984 hat der führende evangelische Religionspädagoge Karl Ernst Nipkow als man auch im Bereich Evangelischer Schulen nach dem Eingeständnis des Scheiterns bloß organisatorischer oder curricularer Schulreform z.B. vom „Reformziel Grundbildung“sprach und nach Ansätzen zu einem „neuen Bildungsverständnis der gymnasialen Oberstufe“ suchte (5), die evangelische schuldidaktische Tradition gesichtet. (6) Sein Vortrag enthielt komprimiert ein differenziertes Resümee, eine Bestandsaufnahme der oben bezeichneten Aporien. Im Gang durch die geschichtlichen Konzeptionen seit der Reformation referiert Nipkow zunächst, wie in der evangelischen Schultheorie zunächst das Freisetzungsmodell dominierte: Der evangelische Christ sei gerade in Sachen Bildung freigesetzt zur unverengten Wirklichkeit, zur Freude an den humanen Wissenschaften. Sein Tun und Lernen in der Schule brauche nicht grundsätzlich theologisch gesichtet, überformt sein.
Das rief Gegenbewegungen hervor. Der Pietismus und seine Nachfahren vor allem forderten, daß weltliche Inhalte in der christlichen Schule deduzierbarer, integraler Bestandteil des Lebens aus dem Glauben sein müßten. Auch heute, wie unten an einer klugen Theorie gezeigt wird, gibt es vergleichbare Tendenzen.
In einem anschließenden Durchgang durch die evangelische Schulpolitik seit den Anfängen der Weimarer Republik gelangt Nipkow schließlich zu einer Analyse der aktuellen Situation. Evangelische Schulen gingen heute keine Sonderwege mehr, sondern wollten ihren Beitrag inmitten der Bedingungen des allgemeinen Schulsystems leisten. Nipkow zeigt, wie sich heute ein dritter Weg abzeichnet, eine Art Konvergenz- oder Entsprechungsmodell der Begegnung von „weltlichen“, humanen pädagogischen Impulsen und von solchen eines Unterrichts in und aus dem Glauben. An dieser Triade Freisetzungs-, Deduktionsmodell und Entsprechungsmodell wird sich die folgende Betrachtung ebenfalls orientieren.
Das sogenannte „Freisetzungsmodell“ muß hier nicht besonders gewürdigt werden. Die Struktur: hier weltliche Kunst, Wissenschaft, dort persönliche Religion, persönlicher Glaube, hier weltliche Existenz, weltlicher Beruf, dort christliche Gemeinde, christlicher Gottesdienst bezeichnet die gewissermaßen natürlich sich aus der Dynamik der neuzeitlichen, westlichen Kultur sich ergebende Spaltung. Dieser Scheidung kommen große historische Verdienste zu, an die man gegebenfalls erinnern muß. Ein Blick auf die aktuelle Befindlichkeit unserer Schulen lehrt aber, daß dieses Konzept als Richtschnur des Überdenkens evangelischen Schulwesens nicht mehr befriedigen kann:
Aus der Sicht jener, die eine gesellschaftliche Isolation der Kirche ablehnen, muß die übliche Aufspaltung in Religions- und Fachunterricht, in Unterrichtszeit und religiöses Zusatzangebot an Evangelischen Schulen ein Ärgernis sein. Es ist mehr und mehr klar, daß es nicht genügt, in einer der Orientierungslosigkeit und Brutalisierung anheim fallenden Welt eine Insel der Seligen zu bilden oder eine solche vorzuspiegeln, wo - wir karikieren -ein religiöses Zusatzangebot zum Unterricht (7) dafür sorgt, daß der Schüler Gelegenheit hat, sein vom möglicherweise elitären, gutbürgerlichen, christlichen Elternhaus vorgeprägtes „feines“ Randgruppendasein als Christ zu kultivieren, gewissermaßen „preaching to the saved“. Dabei wird man selbstverständlich im Auge behalten, daß ein Verprellen kirchennaher Schüler und Eltern mindestens ebenso wenig wünschenswert ist. Die Arbeit an einer christlichen Schule wird aber viel weniger von dieser Minderheit geprägt als von den geläufigen Tendenzen in Gesellschaft und Religion: Da gibt es eine Bildungsklientel, die Kirche zwar nicht entbehren will, selbst aber keine Frömmigkeit praktiziert und gerade deshalb die Kinder auf eine Evangelische Schule gibt, da findet man Lehrkräfte an einer christlichen Schule, die so scharf zwischen fachlichen Qualifikationsanforderungen und Werterziehung trennen, daß Letzteres unglaubwürdig wird oder ganz auf der Strecke bleibt. Dann sind zu sehen der auswuchernde Stoffpositivismus der Lehrpläne und die bürokratisch-juristische Überformung des Schulwesens, die den Geist zu ersticken drohen. Da sind die veränderten Anforderungen an den Christen in einer von Politik und Wirtschaft bedrohten Lebensumwelt. Da sind durch „Verlust der Kindheit“ und Medienkonsum stark veränderte Bedürfnisse der Jugend (8), der Hang besonders junger Menschen zu Okkultem, die Suche nach neuer Spiritualität, die Attraktivität der Sekten und vieles mehr. Alles das schreckt christliche Schulen heute aus der Sicherheit scharfer Trennungen und Gewißheiten. Machen wir uns ehrlich klar: Der Eindruck, auf eine ungeheure Masse von unstrukturierten, „weltlichen“ Belangen (9) sei an vielen Evangelischen Schulen eben nur ein lächerliches Beiwerk an schwachbrüstigen, halbherzigen christlichen Aktivitäten gepfropft, kommt nicht von Ungefähr!
Gerade heute muß also die Propriums-Diskussion geführt werden. Aber sie muß ernsthaft geführt werden, d.h. ohne lähmenden Rigorismus und mit Blick auf die Wirklichkeit. Und das heißt vor allem: Auch in Öffnung für die modernen Verlockungen der Religion, der aktuellen vitalen religiösen Phänomene, die heute weniger denn je Fächergrenzen respektieren.


3.2.2. Ist eine religiöse Dimension des Fachunterrichts sogar schon
aus einer Theologie des Unterrichts deduzierbar?


Mit den Überspanntheiten einer Karl Barth-Nachfolge, dessen Buß-Theologie auf die Katastrophen des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts antwortete, scheint somit endgültig Schluß zu sein.
Hat schon Luther betont, „daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn glauben oder zu ihm kommen kann“ (10), so folgerte Karl Barth noch schärfer: „daß auch und gerade Gottes Offenbarsein für uns Gottes eigene Person und Gottes eigenes Werk ist.“ (11)
Das führte zu dem bekannten, erstaunlichen Diktum: „Religion ist Unglaube“: „Die Religion ist der ohnmächtige, aber auch trotzige, übermütige, aber auch hilflose Versuch, mittels dessen, was der Mensch wohl könnte aber nun gerade nicht kann, dasjenige zu schaffen“, was er nur kann, weil und wenn Gott selbst es ihm schafft ... In der Religion wehrt und verschIießt sich der Mensch gegen die Offenbarung dadurch, daß er sich einen Ersatz für sie beschafft ...“ (12)

Das kann hier nicht diskutiert werden. Nachvollziehbar ist aber, wenn viele heute feststellen, daß der Barthianismus dem Stand der Evangelischen Kirche in der Welt nicht nur zuträglich war, zum Beispiel:

„Die Kritik Karl Barths und anderer am deutschen Idealismus und dessen pädagogischen Auswirkungen, ... der grundsätzliche Widerspruch von Bildung als Selbstvervollkommnung und dem Evangelium als verbum externum und göttlicher Verheißung ist der Praxis der pädagogischen Arbeit evangelischer Schulen wenig dienlich gewesen.“ (13)

Und so begegnen heute sogar Stimmen im protestantischen Bereich, die erheblich weniger zurückhaltend sind hinsichtlich der Dialektik von weltlichem Eigenrecht der Fächer und christlichem Unterrichtsaspekt sind. Ein Theologe wie Carl Heinz Ratschow ist gewiß kein Barthianer, wenn er - ganz im Gegenteil - die „religiösen Implikationen jeden Unterrichts“ (14) behauptet:

„Erstens nämlich ist diese religiöse Implikation jeden Unterrichts entscheidend dafür, daß der Schüler einsieht, wo denn das im Religions-Unterricht zu behandelnde Heilstun Gottes akut wird. Nur wenn im Geschichts-, Physik- oder Germanistik-Unterricht die Realität Gottes als des Ganzen dieses physikalischen Experiments, als Seinsgrund dieser historischen Gegebenheit wie als die Lebensqualität an diesem Drama faßbar wird, kann der Religionsunterricht konkret werden. Zweitens ist die spezifisch christliche Erfassung Gottes, wie sie im Religionsunterricht gelehrt wird, von wesentlicher Bedeutung als die Vergewisserung darüber, daß dies Ganze oder der Seinsursprung oder das Leben tief persönliche Züge trägt, deren man gewiß sein kann. Das heißt, daß in jeder Schule das Miteinander von Religionsunterricht und jedem anderen Fachunterricht für beide Seiten von größter Wichtigkeit ist.“ (15)

Diese Thesen Ratschows zerfallen deutlich in zwei Hälften. Die zweite ist eine vertraute protestantische Position: Ich erlaube mir deshalb, sie wie folgt sogar zu erweitern: Die dialogisch-praktische Lebenswirklichkeit der (christlichen) Schule, ihr menschliches Füreinander und der persönliche Dialog der Fächer, besonders aber die verkündigende, katechetische und seelsorgerische Dimension des Religionsunterrichts ist die an einer christlichen Schule notwendige Sphäre des Evangeliums, des persönlich verbürgten Glaubens aus der Frohen Botschaft.

Dem gegenüber haben nach Ratschow die anderen Fächer die Aufgabe, das in Sachen inkorporierte Göttliche zu konkretisieren. Wenn wir auf Martin Wagenschein und Lehrkunst hinaus wollen, ist dieser erste Teil von Ratschows Thesen bedeutsamer, in dem ohne Zögern Gott als Seinsgrund aller unserer Unterrichtsgegenstände behauptet wird. Eine andere Gegenüberstellung nach Ratschow kann uns hier vielleicht näher heranführen.
Heute ist der „Sinn“ für den Unterschied von „Sinn“ und „Funktion“ ständig vom engeren Ratio-Verständnis des öffentlichen Diskurses ständig gefährdet. Wer wenig nachdenklich ist, bemerkt außer einem gewissen Unbehagen nichts dabei, wenn selbst Stilphänomene des Alltags durch irgendeinen anerkannten Nutzen „erklärt“ werden. Dabei ist der ontologische Blick, der auf das Wesen, nicht auf die Funktion zielt, nicht einfach überwunden, er geriet im Dynamismus der Moderne nur mehr und mehr ins Verborgene. Sachlich hat sich nichts daran geändert, daß viele unserer Lebensäußerungen als sittlich einmalige geistige Verbindungen von Naturbedürfnis und vernünftigem Sinn intuitive Schöpfungen sind, durch die wir uns manifestieren und innewerden, ohne primär nach einem Zweck zu fragen: In Festen, in „Gesellschaft“, im pflegenden Umgang mit Tier, Natur, Kultur, in Mode, Kunst, auch in der Arbeitswelt, gleichgültig ob spontan oder ritualisiert, immer schaffen und genießen wir darin auch den Ausdruck unserer selbst, unserer Gemeinschaft, der Kultur, der Welt, in der wir leben, jedenfalls den Ausdruck einer Sache, die nicht Funktion, nicht Zweck sein kann, sondern nur Selbstzweck. Soweit dabei Fremd-Zwecke vorgebracht werden, haben diese dann teilweise auch wieder nur Legitimationsfunktion. Denn nähme man den funktional unbestimmbaren und kaum wägbaren, bedeutenden Rest von den meisten unserer Aktivitäten, auch zum Beispiel der Arbeitswelt, weg, verlören sie als Kulturphänome ihren „Sinn“ und die Menschen würden aus ihnen innerlich oder äußerlich emigrieren. Trotzdem ist uns aber der „Sinn“ für den Sinn schwer geworden, erkennbar daran, daß „Sinn“ im Alltagsverstand mit Funktion, Zweck synonym verwandt wird.
Was bedeutet das für den Unterricht? Mag sein, daß wir wie Leibniz in den Gesetzen der Natur die „Gewohnheiten Gottes“ finden dürfen oder wie Ratschow wirklich fordern dürfen, die Aufgabe des Unterrichtens sei das Entdecken des „Welthandeln Gottes in seiner Verborgenheit“. Dann hätten wir die tiefste Gewähr, die Sinndimension der Gegenstände zu unterrichten, stünden fest auf dem Boden der These „Religion auch in Physik und Deutsch“. Das muß hier nicht diskutiert werden. Ratschows Theorie ist , wie ich denke, auch für den nachvollziehbar, der in den Folgerungen nicht so weit gehen kann und will.
Für Aristoteles, auf den Ratschow sich beruft, ist das Sein einer Sache erst vollständig klar, wenn erstens Ursache/Grund, zweitens Gestaltkraft/Form, drittens Materie und viertens Ziel/Sinn dieser Sache erkannt sind. Unterricht hat nun nach Ratschow nicht nur die Aufgabe, diese vier Geprägeformen/Charaktere des Seins aufzuzeigen. Das Gelingen dieses Aufweises entscheidet für Ratschow sogar darüber, ob Unterricht überhaupt gelingt. Die Rücksicht auf die vollständige Darstellung des Gegenstands im Sinne der vier Charaktere des Seins ist nämlich erstens die Rücksicht auf seine Ganzheit. Damit ist der Unterrichtsgegenstand auch zweitens nicht mehr bloß funktional zu erklären, sondern er verweist auf einen ihm eigentümlichen Seinsursprung. All das zusammen verlangt nach Ratschow drittens die Ehrfurcht, die Lebendiges auslöst. Die drei Qualitäten Ganzheitlichkeit, Seinsursprung, Leben seien aber die Äquivalente Gottes, unter denen dieser seit Jahrhunderten genannt werde. Unterrichten könne aber überhaupt nur gelingen, wenn diese Gottes-Äquivalente am Gegenstand sichtbar werden:

„Unterrichten geht gar nicht anders als so, daß diese Äquivalente Gottes methodisch, also didaktisch verwendet werden! Wir können keinen Unterrichtsinhalt ohne sein Ganzes, seinen Seinsursprung und seine Lebensqualität so behandeln, daß er verstanden wird und so angeeignet werden kann. Das heißt, daß alles Unterrichten in seinem didaktischen Vorgehen den Unterrichtsinhalt diesen drei Gottesäquivalenten und damit der Transparenz für Gott öffnet. (16)

Diese argumentativ geschickte und gedanklich eigentlich gründlich auszulotende Wendung Ratschows ist meines Erachtens auch deswegen besonders bedeutsam, weil sie schlagartig dem Praktiker aufleuchten kann, dessen erfolgreiche Unterrichtsintuition sie aufklären hilft. Frappiert kann ein Lehrer sich daran erinnern, welche Verwandlung Unterrichtsstoffe oft erfahren, wenn sie aus der Lehrertasche vor lebendige Menschen gezogen werden. Sie verlangen nun auf einmal, in ein Ganzes gestellt zu werden, ihre Eigentümlichkeit entfalten zu dürfen, im lebendigen Miteinander des Dialogs zu bestehen. So erhält auch ein vom Lehrer für gering geachteter Stoff unter den offenen Augen der Schüler eine Dignität, die er ihm noch kurz zuvor, als er noch „in der Tasche“ war, vielleicht nicht zugebilligt hätte.
Diese wunderbare Seite von Unterricht müßte nach Ratschow allerdings rational noch schärfer gefaßt und letztlich in angemessener Weise in Lehrplänen (christlicher Schulen) verbindlich gemacht werden. Wollen wir das? Für Ratschow ist eben die religiöse Dimension des Fachunterrichts eindeutig deduzierbar aus der immanenten Theologie des Unterrichtens überhaupt. Für uns auch?
Soviel ist sicher dagegen einzuwenden: Eine normative Position, die an den Fachunterricht klare religiöse Forderungen vom christlichen Konzept der Schule her stellt, ist in der Breite evangelischer Liberalität ohne Chance. Und wo bleibt hier eigentlich die Freiheit des (evangelischen) Christen, der zum Leben in der unauflösbaren Spannung zwischen den beiden „Reichen“ freigesetzt ist und ohne die Erfahrung dieser Spannung auch nicht frei und offen sein kann für Gottes Evangelium?

3.2.3. Das Konvergenzmodell religiös offenen Fachunterrichts


Martin Wagenschein gab die Richtschnur für den in dieser Studie vorgestellten Unterricht. Jenes eigentümliche Vertrauen in Schüler und Gegenstände, das seine Didaktik prägt, kann Anlaß sein, den weltfrommen Hintergrund seiner Arbeit zu bedenken. Einige Theoreme Ratschows zu „jedem Unterricht“ weisen uns dabei ganz sicher einen guten Weg. Weder wollen wir aber die Wagenscheinsche Didaktik theologisch auffüllen, noch können wir zum Beispiel an einer Evangelischen Schule mit Ratschow einer theologischen Durchdringung der Lehrpläne das Wort reden.
Sinnvoll ist es deshalb, Nipkows Entsprechungs- oder Konvergenzmodell als Grundlage zu nehmen, es aber entschlossener, als dieser es tut, in der Richtung einer Spiritualität der Sach- und Fachaspekte von Unterricht zu interpretieren.
Was heißt nach Nipkow Entsprechungsmodell?

„Um des Humanums willen können und müssen Bündnisse mit der weltlichen Pädagogik eingegangen werden, falls ‘Entsprechungen’ zwischen den Auffassungen gegeben sind und verantwortet werden können ... Man überläßt sich nicht nur der weltlichen pädagogischen Vernunft (die Gefahr des ersten Modells); man versucht auch nicht naive Ableitungen aus dem Evangelium (die Gefahr des zweiten Modells) ... Aber das Evangelium bejaht die pädagogische Vernunft, wenn die von Gott ermöglichte Menschlichkeit und das Ringen um Menschlichkeit in der Pädagogik in die selbe Richtung weisen ... Genau dies macht evangelisches Bildungs- und Erziehungsdenken aus, unbekümmert um die Verwechselbarkeit. Evangelisches Bildungs- und Erziehungsdenken ist vielmehr dankbar für alle möglichen Übereinstimmungen mit der allgemeinen Pädagogik, ohne sich eine daraus fließende Unterstützung durch die Rede von einer bloßen ‘Verdoppelung’ verächtlich machen zu lassen.“ (17)

Das heißt für uns: Die „weltfromme“, humane Pädagogik Wagenscheins ist an christlichen Schulen zuträglich, wenn sie in die gleiche Richtung weist wie „von Gott ermöglichte Menschlichkeit“. Das ist eine einleuchtende Konstruktion mit einem legitimen Kriterium, welches aber Schwierigkeiten in der Anwendung bereitet. Deshalb verstehe ich dieses Kriterium zunächst einmal stofflich-pragmatisch: Von vielen Gegenständen und Themen ist zu sagen, daß sie sachlich nur verstümmelt vor den Schüler kämen, wenn ihre religiöse Dimension ignoriert würde. Viele sogenannte weltliche Bildungsgüter thematisieren von sich aus religiöse, christliche Humanitätsfragen. Geht es also wirklich an, wenn an einer Evangelischen Schule im Vertrauen auf die Arbeitsteilung mit dem Religionsunterricht die Reformation im Geschichtsunterricht fast nur politisch aufgerollt wird? Das Bewußtsein, daß damit die Sache eigentlich nicht im Blickfeld war und daher auch hätte bloß kursorisch betrachtet werden brauchen, ist gerade an einer christlichen Schule zu erwarten. Für die Lektion, daß religiöse Auseinandersetzungen machtpolitisch ausgenutzt werden können, könnten viele andere Fälle - aktuelle -ebenso gut genutzt werden. Ein anderes Feld ist der Dialog zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften. (18) Naturwissenschaft ist eine bestimmte Art der abstrahierenden Betrachtung der Gegenstände. (19) Das ist kenntlich zu machen. Eine jede Wissenschaft hat in ihrem theoretischen Fundament eine philosophische Tiefendimension, über die sie deutlich mit den anderen Wissenschaften und Fächern korrespondiert. Das ist kenntlich zu machen. Gerade die Geschichte der Naturwissenschaften legt solche Anbindung an die philosophisch-spirituell-religiöse Dimension als sachgegeben nahe. Ein Beispiel:

„Newtons Mechanik ist metaphysisch verwurzelt. Für das Trägheitsprinzip als grundlegendes Prinzip der klassischen Physik bedarf es der Vorstellung des absoluten Raumes. Newton versteht diesen Raum als Sinnesorgan Gottes, als sensorium dei.“ (20)

Wenn Konvergenz bedeutet, auf jene Punkte zu achten, wo das sachliche Klärungsinteresse der weltlich aufgefaßten Disziplinen mit dem Erziehungsinteresse einer christlichen Schule konvergiert, so soll also gerade nicht zu banalen Sprüngen ins Religiöse ermuntert werden, zu platten Analogien, sondern zum vorsichtigen, behutsamen Öffnen von Fenstern hinüber in die wesentlich geistige Dimension des Gegenstands. (21)
Als ein Proprium christlichen Unterrichts erscheint dann, daß zwar kein Schüler bedrängt, beeinflußt wird, durch solche Fenster zu sehen oder gar darin etwas Bestimmtes zu erkennen, er soll sich aber auch nicht ausgerechnet an einer christlichen Schule der sachlich angemessenen Betrachtung der fächerübergreifenden Tiefendimension entziehen dürfen. Das heißt er wird damit einverstanden sein müssen, daß man ihn an diesem Fenster vorbeiführt. Konvergenz von weltlicher Sachlichkeit und religiöser Orientierung fordern christliche Schulen heraus, auch im Fachunterricht die bestehenden religiösen Implikationen zu explizieren. Daß zum Beispiel ausgerechnet an einer Evangelischen Schule im Deutschunterricht übergangen wird, wie Ferdinand und Luise in Schillers „Kabale und Liebe“ theologisch argumentieren, müßte doch verwundern, zumal das Theaterstück anders überhaupt nicht verstanden werden kann.
Und doch tun sich Evangelische Schulen schwer mit einer solchen Einstellung. Viele Pädagogen bestreiten nur zu gerne ihre Kompetenz. Es mag auch manchen Schultheologen bei der Vorstellung wenig wohl sein, es werde sich nun jeder selbsternannte Weltanschauungsinterpret in seinem Fach über Religion verbreiten. Weil aber nichts aufgepfropft werden soll, weil die religiöse Dimension vorsichtig anzugehen ist und in der Sache liegen muß, weil die Unsicherheit aller Beteiligten, auch des Lehrers, gerade nicht überspielt werden soll, sondern als Erfahrung genutzt, beruhen solche Bedenken eher auf einem Mißverständnis.
Und außerdem sollte durch den Rahmen der Institution, in Form täglicher Gewohnheiten wie Andacht, Gebet und vielem mehr und - noch glücklicher - durch den gelebten Glauben der Erzieher gesichert sein, daß solche menschliche Öffnung stets geschieht im evangelischen Geist des Lebens aus der gegenseitigen Vergebung. Die geistig-geistliche Enthaltsamkeit vieler sachlich spezialisierter Fächer trägt bestimmt mehr zur Orientierungslosigkeit bei als die mögliche Inkompetenz des Fachlehrers, der sich auf das ungewohnte Terrain der spirituell-philosophischen Tiefendimension seines Faches wagt.

3.2.4. Martin Wagenscheins Didaktik und die religiöse Dimension
des Fachunterrichts


Man könnte den Gegenstand dieses Kapitels zunächst als biographisch-philologischen Untersuchungsauftrag auffassen. Ein erster, naheliegender Umgangs mit diesem Thema fragt also: Wo begegnet bei Wagenschein überhaupt Weltanschauung oder gar Religion? Antwort: Es scheint so, als gäbe es das explizit nur marginal und auch nur in umstrittenen journalistischen Frühschriften und in halbprivaten Texten, wie sie das Wagenschein-Archiv in der Ecole D’Humanite im Schweizer Goldern birgt. Wagenschein konnte und wollte also vermutlich direkt nichts zu dieser Materie beitragen bzw. von diesem Boden aus argumentieren. Sicher war er in einem biographischen Verständnis eine religiöse Persönlichkeit. (22) Seine, bestimmten Gegenständen der sichtbaren Welt zugewandte, deskriptive, literarische Genauigkeit des Physikers, des experimental geschulten Beobachters, wendet Wagenschein auch dort an, wo Grundsatzäußerungen, übergreifende Abstraktionen zu erwarten sind. Das vermittelt dem Leser seiner Schriften gleichwohl die Empfindung einer intensiven, unausgesprochenen, vielleicht irritierenden religiösen Dimension. Weltfrömmigkeit könnte man das nennen.
Diese Situation ist zwar bewunderungswürdig, trotzdem aber wenig befriedigend. Deshalb versucht man es auch mit einem zweiten Weg zur Erschließung der geistigen Lehrerpersönlichkeit Martin Wagenschein: Wenn man Fragmente, Theoreme aus Wagenscheins Werk herauslöst und in verantwortlicher Weise an vorhandene theologisch-philosophische Fremd-Konzepte anlegt, so kann die Einpassung in die herbeigezogene Theorie u.U. überzeugen, weil Wagenscheins Didaktik damit ohne Verzerrungen ausgeleuchtet werden kann. Einen solchen Versuch bietet P.Stettler, wenn er Wagenschein einen Platoniker nennt.

„Martin Wagenschein hat den Elementarakt des Verstehens in einem hübschen Gleichnis beschrieben: ‘Verstehen heißt: einen Fremden bei näherer Betrachtung als nur verkleideten alten Bekannten wiederzuerkennen’. Nach einem Kurs, an dem meine Wagenschein-Bücher den Teilnehmern zur Verfügung standen, fand ich die ersten beiden Silben des Wortes ‘Wiedererkennen‘ unterstrichen und dahinter mit Bleistift in griechischen Buchstaben ‘Anamnesis’. Diese Bemerkung hat mich sogleich an einen Text von Wolfgang Pauli erinnert ... ‘Der Vorgang des Verstehens der Natur sowie auch die Beglückung, die der Mensch beim Verstehen, d.h. beim Bewußtwerden einer neuen Erkenntnis empfindet, scheint demnach auf einer Entsprechung, einem Zur-Deckung -Kommen von präexistenten inneren Bildern der menschlichen Psyche mit äußeren Objekten und ihrem Verhalten zu beruhen. Diese Auffassung der Naturerkenntnis geht bekanntlich auf Plato zurück und wird auch von Kepler in sehr klarer Weise vertreten. Dieser spricht in der Tat von Ideen, die im Geist Gottes präexistent sind, und die der Seele als dem Ebenbild Gottes mit-ein-erschaffen wurden ...‘ Der platonische Erkenntnisansatz führt auf einen Urgrund: Es gibt eine unserer Willkür entzogene Ordnung des Kosmos, der ‘sowohl die Seele des Erkennenden als auch das in der Wahrnehmung Erkannte unterworfen sind ... Von dieser geheimnisvollen Ordnung spricht auch Wagenschein ... (Er) fragt sich: ‘Was könnten wir denn machen, wenn die Natur nicht geruhte, darauf einzugehen, daß wir mathematisch fragen?’... ‘Die physikalisch betrachtete Natur enthüllt eine Ordnung. Sie gibt einen Beitrag zum wichtigsten, das wir zum Leben brauchen: zum Vertrauen und Selbstvertrauen’.“ (23)

Hilfreich sind solche philososphisch-erkenntnisheoretischen Klangkörper für Wagenscheintexte sicherlich. Es gibt aber auch gute Gründe, wie Wagenschein selbst, in der Explikation scharf umrissener philosophisch-weltanschaulicher Verwandtschaften nicht zu weit zu gehen. Errichtet man hier nicht auch unnötige Barrieren? Entstehen an der Stelle von Fundamenten nicht vor allem neue Angriffsflächen? Manchen wird das seiner Meinung nach erkenntnistheoretisch oder geistesgeschichtlich überholte Fundament abschrecken. Er könnte glauben, sich dann auch nicht auf das darüber errichtete Gebäude einlassen zu dürfen.
Prima facie hat Wagenschein seine Texte so formuliert, daß sie für eine an nüchternen wissenschaftlichen Paradigmen orientierte Aufnahme akzeptabel und nachvollziehbar bleiben. Wagenscheins Ethos ist aufklärerisch: Wage es, die Schritte deiner Erkenntnis ganz allein zu gehen, damit dein Verständnis von den Methoden und Ergebnissen einer Wissenschaft gründlich fundiert ist! Sokratische und exemplarische Methode kennzeichnen in besonderem Maße solche rationalistischen Pole der Didaktik Wagenscheins. Sie sind zum Beispiel dem Didaktiker, der Schule „funktional“ aus dem aktuellen und zukünftigen gesellschaftlichen Anforderungspotential erklärt, ohne weiteres verständlich. Wagenschein hat - in listiger Verstellung oder nicht - immer auch ein Verständnis seiner Lehrstücke gefördert, das man in Anlehnung an die Unterscheidung zwischen kalter und warmer Ökologie als kaltes Ratio-Bild seines Engagements bezeichnen könnte.
Trotzdem ist für einen nach Wagenschein gestimmten Unterricht auch die religiös-geistige Dimension seines Denkens wichtig. Wir sollten das entsprechende philosophische Fundament aber nicht nur kennen, wozu uns Stettler in dem zitierten Beitrag verhilft, wir sollten diese Seite auch inwendig als Unterrichtsprinzip annehmen können. Dafür müssen wir nicht verwandte Denker beiziehen, wir können uns an das zugängliche Werk von Wagenschein selbst halten. Dort finden sich zum Beispiel Miszellen, kleine Unterrichtsdichtungen, die als Zeichen der religiösen Dimension von Wagenscheins Wirken ergiebig sind, wenn man sie als entsprechende Unterrichtsparabeln auffaßt. Ich schlage also einen dritten Weg vor, um in der Frage der weltanschaulichen Verfassung dieses Didaktikers mehr Deutlichkeit zu erhalten. Es ist der Weg einer Sinnmeditation über Wagenscheinsche Unterrichtsparabeln. Ein Beispiel:

„Der Knabe mit dem Apfel
Der Mathematik-Lehrer erkannte mit einem Male, daß die Stunde, die er jetzt gab, gelang. Er spielte auf der Klasse der sechzehnjährigen Jungen wie mit den Stimmen eines Orchesters. Bisweilen aber auch fühlte er sich von ihnen getrieben wie ein Segel. In Wahrheit war er wohl eins mit ihnen geworden, und sie alle wurden bewegt und geführt von dem Gegenstand seines Unterrichts, von der ‘Aufgabe‘, die ihrer vorbestimmten, in ihr selbst beschlossenen Lösung zudrängte. Sie durchwogte und formte diese Gemeinschaft wie eine noch unerkannte, unter einem Tuch verborgene Gestalt, hier und dort aufleuchtend, in vielen kleinen Lichtblitzen, die über die Gesichter liefen, so sich fortpflanzend, in den Boden einer neuen Generation.
Während ihm dies durch den Sinn ging, führte er das Gespräch weiter, hier hemmend, dort lockernd, mit Hand und Auge. Dabei fiel sein gleitender Blick auf einen tiefroten Apfel, der, vordem nicht dagewesen, in der Hand eines seiner Knaben erschienen war. Nur streifend, wie der Schatten eines Vogels, berührte ihn einen Augenblick lang der Verdacht, es könnte hier einer vom Teufel der Flegelei geritten sein und in der Stunde vor den Augen des Lehrers essen wollen.
Aber schon die Hand, wie sie den Apfel hielt, war nicht die eines Essers: Auf den Ellenbogen gestützt trug der Unterarm in der leicht geöffneten Hand zwischen den Fingerspitzen den Apfel wie einen Globus. Diese Hand griff nicht zu, um der Zerstörung zuzuführen, sie stellte dar, sie rühmte. Sie hielt die Frucht in den Strom des Blickes. Über dieses reine Gesicht nun liefen wie leichte Blitze die Gedanken, die das Unterrichtsgespräch in dem griechisch anmutenden Kopf entzündete. Er ließ dabei keinen Blick von dem Apfel, als lese er in ihm, und nur, wenn er, um eine Antwort ins Gespräch zu geben, den Finger hob und sich dem Lehrer meldete, suchte ein heller Aufblick die Verständigung mit dem Außen. Um dann gleich wieder zurückzusinken auf den Apfel, den die Hand nun langsam drehte, wie in einem Brunnen.
Der Lehrer hütete sich wohl, zu verraten, was er sah. Ja er bezwang sich, den beglückenden und lockenden Apfel nicht mehr aufzusuchen, und begnügte sich, den roten Schein des Apfels wie einen Talisman am Rande seines Gesichtsfeldes glänzen zu sehen, als wäre er für diese Stunde der geheime Quellpunkt des Gelingens.
Es schien ihm, als wäre diesem Knaben im Anfühlen, Anblicken und Einatmen dieser Frucht der Boden geschenkt, der seinen keimenden Geist ernährte. Ihm allein von allem war wohl die tiefe, die fruchtbare Aufmerksamkeit gegeben, die am Ziel vorbeisieht auf das Vorbild einer lebenden Gestalt, an welcher sich der Geist erbaut. Nicht anders erging es ihm, dem Lehrer: wie dem Knaben aus der Frucht, so strömten ihm aus dem Anblick seiner Klasse, dieses Frucht- und Blütenstandes, die Kräfte zu, derer sein geistiges Leben bedurfte. (24)

Ich werde nun die Struktur dieser Unterrichtsparabel ein wenig rekapitulieren: Das keimende Verstehen und das Aufdecken einer mathematischen Lösung durch Schüler und Lehrer ruhen auf dem „Boden“ der Wahrnehmung einer schönen Frucht, mit allen Sinnen. Etwas ganz Unverfügbares, etwas in seiner Funktion nicht Vorhersehbares und Planbares wird zur Grundlage eines großen Wachstums. Der vordem nicht dagewesene, plötzlich Aufleuchtende gegenständliche Unterrichtsbegleiter ist zuletzt die Bildungsmitte für den glücklich beteiligten Schüler und für den nicht weniger sich bildenden Lehrer. Das ganze Geschehen wächst über sich hinaus, rühmt ein Drittes, nicht nur die Arbeitenden selbst und nicht nur die Mathematik. Der Quellpunkt des Gelingens ist dabei geheim und verborgen wie eine Gestalt unter einem Tuch. Über das sich abzeichnende Rechen-Ziel hinausschauend wachsen die Partner dieses Unterrichts aus der passiven Gefangennahme durch den Gegenstand in seine aktive Meisterung, gewinnen sich damit selbst, „bilden sich“.
Dieses Dritte erscheint am Rande des Gesichtsfeldes. Menschen können sich ihm auch nicht direkt nähern. Der Aufgabe zugewandt, stehen sie aber doch im Glück des Gelingens von diesem Rand her, vor dessen direkter Befühlung der Lehrer im Text sogar eine Art heiliger Scheu empfindet.
Und auch der Teufel fehlt in dieser „Heilsgeschichte“ nicht. Er ist das sprungbereite, eingefleischte Lehrermißtrauen, das „Flegelei!“ einflüstert, der via Lehrerintervention das unter vollen Segeln fahrende Schiff zum Kentern bringen möchte.
Ganz unübersehbar ist das also ein religiös durchwirkter Text. Hier beobachtet ein religiös berührter Mensch, der Erfahrung hat mit einem Dritten zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Natur bzw. Gegenstand, das immer allein darüber entscheidet, ob etwas gelingt. So spricht, wer weiß, daß wir deshalb - wie es hier still geschieht - rühmen, preisen und danken können. So spricht, wer von unserer Begrenztheit und Abhängigkeit weiß, die ohne die lebendige Liebe nicht zu überwinden ist. Es ist nämlich auch ein wunderbarer Text zum Thema pädagogischer oder philosophischer Eros. In der Parabel ist übrigens besonders konkret der Lehrer der Beschenkte, nicht bloß durch eine gelungene Stunde, sondern in erster Linie durch die Gegenwart der Klasse, von der ihm die Kräfte zuströmen, „derer sein geistiges Leben bedarf“.
Nicht unwichtig ist auch der leise Humor, der das Loblied ins erträglich Menschliche herabstimmt. Der wie im Brunnen der Tiefe gedrehte Apfel wird wohl schon bald jugendlich unbekümmert aufgegessen, und der Lehrer wird noch so manche Situation durchstehen müssen, wo er froh ist, wenn die „Wiedergeburt des Geistes aus dem Gelächter“ erfolgt, wie es in der anderen Unterrichtsparabel erzählt wird.
Aber es ist festzuhalten: Wenn dies überhaupt möglich ist, so wollte oder konnte Wagenschein doch nirgends systematische Überlegungen über das Geheimnis dieser im Unterricht auftauchenden Äpfel anstellen. Er bevorzugt in diesem Bereich die Form einer Unterrichts- oder Bildungsparabel, eine Kernform von Unterrichtsnovellen gewissermaßen, die nicht Methode und Ablauf einer Unterrichtseinheit „berichtet“, sondern literarisch konzentriert die Quintessenz eines bestimmten Unterrichts an die didaktische Disziplin weitergibt.
Noch ein paar Worte zur Würdigung dieses Textes außerhalb meines Themas: Wie in modernen Parabeln üblich, wächst auch dieser Text beim Hören und Lesen unaufhörlich. Ich habe hier nur die religöse Struktur dieser Bildungsparabel besehen, nicht alles was mich daran bewegt und was besonders um den Lehrer und seine Rolle kreist. Eine moderne Parabel ist vielschichtig, unendlich auslotbar, die Bedeutungen fließen in ihr immer neu und immer anders hin und zurück. Die Kunst der Verdichtung würde Peter Buck das vermutlich nennen. (25) Die Parabel ist beispielsweise auch für das tägliche Handwerk der Lehrer bedeutsam: Es könnte sich daran zum Beispiel eine Betrachtung über Unterrichtsstörungen anknüpfen.
Außerdem: Nicht einmal krude Symbolanalaysen würden uns auf einen Holzweg schicken. Literarische Vorbilder für den Meditationsapfel oder biblische Bezüge (Apfel der Erkenntnis) lassen den Text zusätzlich ironisch funkeln. Und überfordert fühlte ich mich, sollte ich mir ernsthaft vornehmen, die schlanke, durchsichtige, bewegliche und wortmächtige deutsche Sprache dieser Dichtung zu bezeichnen. Nur ein Beispiel: „ ... hier hemmend, dort lockernd, mit Hand und Auge. Dabei fiel sein gleitender Blick auf einen tiefroten Apfel, der, vordem nicht dagewesen, in der Hand eines seiner Knaben erschienen war.“ Diese Sprache umfaßt wie eine Haut, wie ein hilfreiches und doch nach eigenen Gesetzen funktionierendes Organ den erzählten Vorgang.
Zurück zum Thema: Kurz gesagt, Martin Wagenschein versteht die Welt religiös, weil er im Verstehen, Lehren und Lernen dem Mitwirken der Dingwelt ebenso vertraut wie den mitwirkenden Menschen, beiden, den Menschen und den Natur-Dingen dieser Welt, dabei in ehrlichem Respekt zugetan. Wagenschein hat zum Beispiel im Zusammenhang mit seiner Freude über ein bestimmtes Erwachsenenbildungsprojekt in Mittelamerika von „Lehren mit Respekt“ gesprochen. (26) Damit ist vor allem der Respekt vor den Lernenden gemeint. Wagenschein sieht, daß ein Mensch, der zu seinem Lehrer Zutrauen gefaßt hat, eine verschüttete Provinz vieler echter Fragen öffnet. Der Vorsatz, „die Menschen der ‘Entwicklungsvölker’ in die moderne Welt unbeschädigt hinüberzugeleiten“, setzt natürlich keine konfessionelle Frömmigkeit voraus, deutet aber auf humane Weltfrömmigkeit. Und das Bild einer Reparatur an den Folgen des Kolonialismus, der ja alte Orientierungen verschüttet hat, um fertiges Wissen aufzupfropfen, ist auch wieder ein Unterrichtsgleichnis, ein Gleichnis auf die Situation Heranwachsender, deren einfache, eigentliche und drängende Fragen von den Angeboten der Schule oft eher überwältigt, überdeckt als gepflegt werden.
Und damit auch zurück zur Frage: Was haben christliche Schulen an Martin Wagenschein?
Zunächst: Auch ein Christ könnte die weltanschaulich-religiöse Zurückhaltung Wagenscheins sympathisch, sensibel und zeitgemäß finden. In vielem wirkt Wagenschein wie jene großen humorvollen Realisten unter den epischen Dichtern des vorigen Jahrhunderts, die, der Welt der Ideale verpflichtet, dennoch den Blick nicht von der Realität, von den Realien der Wissenschaft lösten. Mit einer bekannten Wendung hat Jean Paul Humor als ein „umgekehrt Erhabenes“ definiert: Der Humor „...gleicht dem Vogel Merops, welcher zwar dem Himmel den Schwanz zukehrt, aber doch in dieser Richtung in den Himmel auffliegt.“ (27)
Und trotzdem sind dagegen große Vorbehalte seitens christlicher Religionsskeptiker denkbar, denn es ist bei aller verbaler Enthaltsamkeit eine weit aufzufassende Religiosität, die Wagenscheins Lehrstücke atmen läßt, nicht das Christentum. Der konsequente Protestant - siehe Karl Barth - mahnt angesichts religiöser Empfindungen zur Vorsicht. Das Evangelium sei mehr als Religion, es besitze für den Christen eine „enorme religionskritische Kraft“, befreit ihn also aus den Fesseln des Pharisäertums oder den Fallstricken lauer religiöser Erbauung. Staunen, Andacht, Verehrung, eben religiöse Erfahrung konnte auch Karl Ernst Nipkow trotz grundsätzlicher Offenheit im Sinne der von ihm befürworteten Entsprechungsformel schon einmal mündlich als „katholisch“ bezeichnen. Das zeigt: Diplomatische Kompromißformeln der Entsprechung von Humanität aus dem Evangelium und Humanität der weltlichen Fächer mit ihrer religiösen Dimension besagen noch nicht viel über das Ausmaß der Rehabilitation von Welt-Frömmigkeit und Religiostät. Nipkow ruft zum Dialog mit den neuen Frömmigkeitstendenzen auf, warnt aber in bekannter Weise, gut protestantisch, davor, die süße Frucht der Religion für den Kern des Evangeliums zu halten.
Gleichwohl ist es auch schwer, sich ein „Christentum ohne Religion“ zu denken. Gerhard Ebeling geht sogar soweit, die Religion zu seiner geschichtlichen - gewissermaßen nachösterlichen - Lebensbedingung zu erklären:

„Der Glaube ist das Kriterium der Religion. (...) Religion ist jedoch die Lebensbedingung des Glaubens. Für die Existenz des heutigen Christentums zwischen Religion und Religionslosigkeit ist die Tatsache von schwerwiegender Bedeutung, daß das Evangelium ohne Religion nicht verkündbar ist. Das Christliche selbst läßt sich in seiner geschichtlichen Existenz nicht auf bloßes Evangelium reduzieren.“ (28)

Im Sinne einer Lebensbedingung des Glaubens benötigen wir also die Rekultivierung von Religion, d.h. wie Ebeling an anderer Stelle ausführt, u.a. die Fähigkeit zu Andacht, Ehrfurcht, Scheu vor dem Heiligen. (29) Der im christlichen Glauben stehende Mensch wird diese Fähigkeiten als eine der Lebensbedingungen von Glauben in der Welt dann auch bewahren müssen.

Und in diesem Fall dürfen wir feststellen:

Martin Wagenscheins Genetisches Lehren birgt eine Chance der schulischen Rekultivierung der religiösen Empfänglichkeit des Menschens.
Wenn nämlich Unterrichtserneuerung mit Martin Wagenschein und seinem geistigen Traditionsrahmen auch ein Beitrag zur Orientierung in den Propriumsfragen einer Evangelischen Schule sein könnte, dann in dem Sinn, daß der weiter ausholende Weg einer religiösen Propädeutik überhaupt begangen wird. Es geht eher um Vorbereitung, Öffnung, Empfänglichkeit. Dieser religiöse Erfahrungsbereich ist letztlich auch nur mit Glück aufzurichten, er ist nicht verfügbar, seine Wirkung ist nicht dogmatische Lähmung, er läßt dem Schüler Freiheit, auf seine Weise darauf zu reagieren. Staunen z.B. kann nicht eingetrichtert werden, es kommt aus den autonomen Kräften der Seele des Schülers, es fesselt ihn nicht, es befreit seine geistigen Kräfte. Es geht um die Pflege des religiösen Berührtwerdens und Berührtseins, wo dies sachgerecht geboten und möglich ist. Bestimmte Unterrichtsstile wirken deutlich, übertragbar, wiederholbar, mitteilbar in eine solche Richtung, und so ist „Religiöse Propädeutik“ mehr als nur ein schwer verifizierbares Lernziel.
Denn möchte man es sich mit der religiösen Bildung in den einzelnen Fächern einfacher machen, sie gewissermaßen thematisch operationalisierbar, verifizierbar anlegen, so kann das auch typisch mißlingen. Ist in einem Physikunterricht über die Kernspaltung sehr deutlich von Schöpfung, von Gott, von Schuld, von christlicher Verantwortung und Freiheit die Rede, die gemeinte Dimension muß deshalb in diesem Unterricht noch lange nicht wirksam sein. Durchbricht der Unterricht nicht die herkömmlichen Stile und Sachzwänge, wird vielleicht nur eine ärgerliche Lernstofferweiterung wahrgenommen.
Umgekehrt kann eine Stunde mit und über den „Dorfteich“ den Schöpfungsgedanken zur Wirkung kommen lassen, ohne daß dieser auch nur ein einziges Mal ausgesprochen wird. Und wenn - um ein Wagenschein-Beispiel zu nennen - das Staunen über die ruhig erschlossene, an der Wurfbahn oder am Wasserstrahl des Brunnens gemessene Fallparabel gediehen ist (30), kann man vor dem Fenster offener Erwägungen über die Herkunft der Naturgesetze stehen; man darf hindurchsehen oder kann es auch lassen. Zu erwarten ist, daß jemand, der sich auf diese Weise der Natur und ihren Gesetzen und zugleich dem Erfahrungsbereich der Religion genähert hat, bei anderer Gelegenheit expliziten religiösen Fragen fundierter und dem Evangelium offener gegenübersteht. Schleiermacher hat diesen Gedanken bekanntlich bereits sehr überzeugend formuliert:
„Es gibt in dem Verhältnis des Menschen zu dieser Welt gewisse Übergänge ins Unendliche, durchgehauene Aussichten, vor denen jeder vorübergeführt wird, damit sein Sinn den Weg finde zum Ganzen, und bei deren Anblick wenn auch nicht unmittelbar Gefühle von bestimmtem Gehalt hervorgebracht werden, so doch eine allgemeine Erregbarkeit für alle religiösen Gefühle.“ (31)

Man hat Hans Christoph Berg voreiligen Gebrauch des Begriffs „spirituelle Dimension“ vorgeworfen. (32) Berg sprach auch von „spirituellem Spürsinn“ (33) als einer unabdingbaren Qualität von Lehrkunst. Überzogen wäre dieser Begriff, würde er vermischt mit der Bitte von Christen um eine neue Spiritualität, um eine Pfingsterneuerung der Kirche. Eine solche Verwechslung ist im Zusammenhang der weder christlich noch unchristlich zu nennenden Wagenschein- oder Lehrkunstdidaktik unwahrscheinlich. Berg meint vielmehr den oben zitierten Schleiermacherschen Sinn für „Übergänge ins Unendliche“. Ich denke, in besonderer Kürze und Plastizität trifft der Begriff eines „Unterrichtens mit spirituellem Spürsinn“ den Gegenstand dieses Kapitels: Wozu Wagenschein an christlichen Schulen?
Ich denke auch, daß jene „allgemeine Erregbarkeit für alle religiösen Gefühle“, von denen Schleiermacher spricht, nicht wenig ist. Eine religionspropädeutische Mitwirkung der weltlichen Fächer am Auftrag einer christlichen Schule ist im Gegenteil bezüglich des Proprium-Dilemmas eine große Chance, sich plausibel und unverwechselbar auszuweisen: Eine staatliche Schule mag zwar neben ihrem vielfältigen säkularen Angebot manches entschieden Christliche übernehmen, sie wird sich aber heute kaum zu einer religiösen Grundlagenbildung in allen Fächern bekennen können. Aus der Sicht einer christlichen Schule steht aber fest, daß auch in der Welt der weltlichen Fächer Gott regiert.
Die dogmatische und rituelle Seite des Christentums kann von kirchenfernen Schülern und Eltern an christlichen Schulen als Vergewaltigung empfunden werden. Aber es ist doch kaum eine Vergewaltigung, wenn der Schüler im Fach-Unterricht, wo dies sachlich geboten ist, in den Gedanken- und Erfahrungsraum der Religion gerät, denn dies ist aus christlicher Sicht und nach Lage der zu vermittelnden Gegenstände überhaupt nicht zu vermeiden. Das Verschweigen der sachgemäßen religiösen Dimension von Unterrichtsgegenständen ist an einer staatlichen Schule zum Beispiel nur eine sachliche Fehlentscheidung. An christlichen Schulen ist sie darüber hinaus eine schwere Dummheit, die die eigene Glaubwürdigkeit beschädigt.
Vor allem aber hilft ein religionspropädeutischer Unterrichtsstil, wie wir ihn an Martin Wagenscheins Exempeln haben, den karstigen Boden bewässern, auf dem dann eine christliche Schule in Gemeinschaft und Verkündigung leben kann. Schüler suchen oft und dringend in ihrem Alltag nach dem kleinen Trost des gelingenden Lebens, dem gelingenden Lernen, ihrer gelingenden Selbstfindung und Bildung. Schüler suchen gar nicht so selten und sehr ernsthaft nach dem großen Trost des Evangeliums. Eine christliche Schule sollte beides bieten wollen. Und vom kleinen Trost führt oft ein Weg zum großen.
Ich werfe noch einen letzten Blick auf die Propriumsfrage: Sicher wird man einwenden können. All das steht einer gut geführten staatlichen Schule ebenso an, die sich heute freiwillig spirituellen, meditativen Formen und Inhalten öffnet. Das trägt also nicht garantiert zur Unverwechselbarkeit Evangelischer Schulen bei. Ich denke, es wird immer so sein: Verlangt man eine geradezu gegenständlich greifbare Unverwechselbarkeit, schickt man alle Beteiligten in ein hoffnungsloses Rennen. Nipkow dazu:
„Evangelische Schulen wahren nach unseren Vorstellungen das evangelische Proprium auch dort, wo das eigene Schulehalten mit der Praxis staatlicher Schulen verwechselt werden kann; ausschlaggebend ist, daß es sich wirklich um eine gute Schule handelt; denn es ist Gottes Wille, daß Kindern geholfen wird und Menschen menschlich heranwachsen.“ (34)

Damit habe ich die Frage beantwortet, wieviel christlich verantworteter Unterricht meines Erachtens von Martin Wagenschein erwarten kann. Ehrlicherweise muß einer solchen Veteidigung von Wagenschein-Didaktik als Religionspropädeutik an einer Evangelischen Schule aber nachgeschickt werden, daß Lehrkunst, die sich ja nicht in Wagenscheindidaktik erschöpft, nicht so viele Skrupel im Umgang mit religiöser Emotionalität, mit Ritual, Symbolik, sinnlichen Sinn-Manifestationen hat, wie der rationale und asketische Wagenschein. Auch vertieft sich ja gerade der hier vorgestellte Lorenzkirchenunterricht in die (katholische?) Symbol- und Frömmigkeitswelt des späten Mittelalters.
Kurz ist an dieser Stelle auch dazu noch Position zu beziehen: Wir stehen am Ende unseres Jahrhunderts vor der Aufgabe, den Weg zugleich zu gehen mit den emanzipatorischen, identitätsstiftenden Kräften der Aufklärung und dem Wissen um die Fruchtbarkeit von Symbolen und mythischen Elementen, die durch Aufklärung nie wirklich eingeholt oder ersetzt werden können. Die Vergegenständlichung unseres Glaubens oder unserer Sinnprovinzen im allgemeinen durch Symbole und Mythen ist offensichtlich bei gleichzeitiger Distanzierungsmöglichkeit und kritischer Flexibilität heute nötig und möglich. Trutz Rendtorff entwirft in Auslegung von Paul Tillich ein sehr überzeugendes Modell, das diese Schwierigkeit berührt und sich wie ein modernes systemtheoretisches Fluktuationsmodell ausnimmt:
„Die Erlösung der Religion vom Verhängnis der Objektivierung erfolgt aber nicht durch die Negation des Bedingten, in dem die Religion auftritt. Wenn Tillich hier Offenbarung als ‘das Durchbrechen des Unbedingten in seiner Unbedingtheit’ auslegt, so ist der Protest gegen die Vergegenständlichung der Pulsschlag der Religion’.“ (35)

Der Protest gegen falsche Vergegenständlichung geschieht also im Medium religiöser Vergegenständlichung. Religion hat an diesem Wechsel ihren Puls. Ähnlich erleben wir heute eine wachsende Fähigkeit zur symbolischen Manifestation und Kommunikation, eine Hingabe an Gefühle, an Bilder, die ihre Rituale und Mythen dann wieder aufzehrt. Eine gotische, mittelalterliche Kathedrale ist für ähnliche Strukturen exemplarisch und uns deshalb sozusagen verwandt. Alles Gegenständliche, Bedingte, Begrenzte, alles, was wir unter den Verdacht religiöser Selbsterlösung stellen, ist dort beständig eingeschmolzen und „vernichtet“ im Form gebenden und auflösenden Unbedingten. Die mittelalterlichen Baumeister wollten Gott nicht durch Magie von Zahlen, Maßen und Hierarchien einfangen, wie uns Rilke in dem schon zitierten Sonett nahelegen will. Der protestantische Religionskritiker unterstellt in seinem Abscheu vor religiösem Götzendienst zu selbstverständlich, daß man beispielsweise beim Schnitzen an einem Lindenholz zu einer Marienfigur in religiösen Selbstgenuß gerät und darin verharrt. Im Gegenteil, die religiöse Erfahrung des Künstlers ist in der Regel ganz anders die der Autonomie des Werks und nicht die seiner eigenen. Die Beschreibung von Rendtorff läßt uns hören, daß erst in der Hingabe an die Objektivierungen unserer Religiosität, im Umgang mit Ehrfurcht auslösenden Realien die nach evangelischem Verständnis unselige „bloße Religion“ durch sich selbst überwunden werden kann.



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