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2. Der Unterricht, erzählt von einer ersten „Unterrichtsnovelle“

2.0.1. Zu den Entstehungsbedingungen des Unterrichts in einer
„Lehrwerkstatt“


Und wie wird das unterrichtet? Der im Kapitel 2.1. abgedruckte Unterrichtsbericht, will einen Versuch zeigen. Die Umsetzung in den Unterricht bringt aber immer Veränderungen mit sich. Schon die didaktische Analyse resultiert in einem beschränkten Blick auf den Gegenstand - von der Altarausstattung und den Glasfenstern war soeben z.B. so gut wie nicht die Rede. Das ist vertretbar, wenn von dem gewählten Zugang her auch diese Elemente erschließbar wären oder wenn der Gegenstand damit nicht entstellt wird. Anschließend verkürzt der Unterricht den Gegenstand dann aber weiter. Ein Teil der vorgelegten Betrachtungen spielt nämlich expressis verbis im Unterricht gar keine Rolle. Er ist sachlich und didaktisch nur Prägung des Unterrichtshintergrunds geblieben, ob notwendigerweise, sei dahingestellt. Der vorgestellte Unterricht führt aber auch Gehalte breit und exemplarisch aus, die in der soeben dargestellten Gegenstandsanalyse viel abstrakter auftreten. Der Grund dürfte sein: Unterrichtshandeln hat eigene Gesetze, orientiert sich an eigentümlichen Chancen, das Didaktische am Gegenstand vergrößert sich auf Kosten anderer, spröderer Seiten. Dies alles soll also sagen: Der Leser soll sich nicht wundern, wenn Gegenstandsanalyse und Unterricht sich nicht wie unverpackter und verpackter Paketinhalt zueinander verhalten.
So wie oben vorgestellt, war die Lorenzkirche mir zunächst bei einigen Unterrichtsversuchen noch gar nicht erschlossen. Dennoch rückten die vorgetragenen Gedanken der sachlichen Analyse im Verlaufe des wiederholten Unterrichtens immer weiter in Orientierungsfunktion. In der Praxis erfolgte bei den wiederholten Versuchen auch nicht sozusagen nach Plan zuerst die Analyse anthropogener und sozialkultureller Unterrichts-Voraussetzungen, nicht die Analyse des möglichen Medieneinsatzes, ja nicht einmal eine gründliche Klärung der Intention, d.h. der Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung dieses Gegenstands für die Schüler. (1) Solche Überlegungen spielten natürlich mit. Sie kamen aber erst nach und nach genauer zum Zuge, und das kann nie abgeschlossen sein. Die allgemein- und fachdidaktischen Kapitel dieser Arbeit äußern sich dazu genauer.

Wenn überhaupt intensiver reflektiert und planmäßig an den Unterricht herangegangen wurde, dann auf dem Gebiet der Methode. Im Hintergrund stand die Nürnberger Lehrkunstwerkstatt, geleitet von Hans Christoph Berg. Ein Dutzend Teilnehmer traf sich dort nachmittags im zwei bis vierwöchigen Turnus und machte Bekanntschaft mit Wagenschein, Willmann, Comenius und anderen Grundlagen des Lehrkunstansatzes von Professor Berg. Die Teilnehmer der Werkstatt betrachteten sich - das war das Kernstück - in wachsendem Vertrauen zueinander, als Lehrer und Schüler.
Eine Wagenscheinsche Lehrkunstwerkstatt quält sich also nicht bereits von Anfang an mit den Fragen, wie ein Lehrplanstoff bestimmten Schülern in einem bestimmten Umfeld vermittelt werden kann. Sie lebt dagegen von dem Interesse an der Sache und dem Interesse an ihrer Lehrbarkeit an sich, ihren klassischen, immanenten didaktischen Potentialen. Verstehen-Wollen prägt diese Werkstätten. Im günstigen Fall tanken die Teilnehmer dort so viele differenzierte, ganzheitliche, fächerübergreifende Erlebnisse, Berührungen, daß sie die wesentliche Voraussetzung besitzen, in den Grenzen und Widrigkeiten des Unterrichtsalltags etwas gestalten zu können, nämlich ihr vertieftes Lehrerinteresse.
Die Maxime war deshalb auch bei uns in Nürnberg, zuerst einmal dem Kollegen etwas vorzuführen, erst einmal sich und die anderen etwas zu lehren. ehe es vor die Schüler geht. Zwischendurch kam auch einmal anderer Besuch aus Marburg, mit Wagenscheinschen Etüden. Dabei kam nach und nach immer mehr die echte, sachliche Neugierde auf das Fach des Kollegen durch, und die vorgestellten kleineren Etüden der jeweiligen Unterrichtssequenz zogen einen heilsam vom Druck des Tagesgeschäfts ab, hin zu den interessanten Themen des Kollegen. Für den Geisteswissenschaftler zum Beispiel war es ein Blick über den Zaun auf die Geometrie des regelmäßigen Sechsecks, auf die Platonischen Körper, auf den „Pythagoras“, das Fallgesetz, die Infinitesimalrechnung und Kegelschnitte, auf Leben und Verwesung im Teich, aber auch in die Arbeit von Fachkollegen, auf Fabeln nach Lessing, auf Chagalls Bibelbilder und eben auch auf die Lorenzkirche. Die Nürnberger Ergebnisse der ersten Phase dieser Werkstatt wurden dann auch nach Erprobung im Unterricht und teils sehr anstrengender Umgießung in einen lesbaren Unterrichtsessay vom Comenius-Institut in Münster veröffentlicht. (2)
Es war anfangs schon eine mächtig befremdliche Aufgabe, „eine Kirche zu lehren“, eine Kirche als solche und ganze. Und mit Wagenschein im Gemüt und viel von dort losgeeister Wut auf den im Studienseminar vermittelten Unterrichtsstil im besonderen, auf die Schule und ihr frustrierendes Getriebe im allgemeinen, entstand nach und nach eine erste Unterrichtssequenz. Man spürt an der nachstehenden „Unterrichtsnovelle“ diese Frische, man sieht unter Umständen aber auch „Fehler“ durch eine starre Auffassung der Didaktik Wagenscheins.
Da sich im Lauf der Zeit, durch einen alljährlichen Neuanlauf doch bedeutsame Veränderungen ergaben, kam es 1992 zu einer entsprechenden Neufassung des Unterrichts und seines Berichts. Auf die Unterschiede wird unten noch eingegangen. Auch diese zweite Fassung wird später vorgestellt. Dadurch ergeben sich kleinere Wiederholungen und Überschneidungen. Aber die erste Fassung dokumentiert besonders, welche Wagenscheintexte ursprünglich beim Verfasser das Eis gebrochen haben, und die erneuten Betrachtungen zur Lorenzkirche werden diese dem Leser hoffentlich noch plastischer machen.

2.0.2. Was ist eine Unterrichtsnovelle?


Das Berichten von Unterricht wirft Stilfragen auf. Zu den Noten einer Zusammenfassung, eines sachlichen Precis, hört der erfahrene Lehrer im Glücksfall ohne Hilfe die didaktische Musik. Wo das erschwert ist oder nicht erwartet werden kann, brauchen wir Unterrichtserzählungen. Auf der dürren Wiese der didaktischen Literatur treten sie oft ganz unvermutet auf. Hier ein Beispiel aus einem fremden Gegenstandsbereich, ein kleiner Auszug aus einem Aufsatz in der GWU:

„Ein Teil der Klasse war entsetzt über die Brutalität der (heutigen) Tierhetzen (und der Stierkämpfe im besonderen)!; ein anderer Teil meinte dagegen. daß man nicht so einfach die Gewohnheiten fremder Völker verurteilen dürfe. Dieser Unterrichtsverlauf war für mich einigermaßen überraschend. Ich hatte nicht erwartet, daß die Schüler so schnell zur Erkenntnis der Relativität unserer Werturteile und Normen vordringen können ...
Dabei ergab sich allerdings eine bedeutsame Schwierigkeit. Ich war nämlich aufgrund der oben beschriebenen Diskussion in Zeitnot geraten und mußte für den zweiten Teil der Stunde neu disponieren. Nach meiner ursprünglichen Planung sollten sich die Schüler im Anschluß an die Lehrererzählung zunächst ein eigenes Urteil über die Gladiatorenkämpfe bilden. Dann sollten sie versuchsweise die Einstellung der Römer erklären und die Grundlagen ihres Werturteils reflektieren ...
Dieser Plan ließ sich nicht mehr in seiner ganzen Breite durchhalten. Ich stand vor folgender Alternative. Entweder fand ich mich bereit, die Lehrererzählung stark zu reduzieren - dann hätte ich die anschließende Reflexionsphase mit einiger Sicherheit in der Stunde unterbringen können. Unter diesen Umständen wäre jedoch der Vortrag nicht mehr als Materialbasis für die Hausaufgabe geeignet gewesen ... Oder aber ich behielt meine Lehrererzählung bei - dann hätte ich eben weitgehend auf die anschließende Reflexionsphase verzichten müssen. Ich entschied mich nach Abwägung aller Vor- und Nachteile für den zweiten Lösungsweg ...
Die Schüler lauschten bis zum Schluß mit gespannter Aufmerksamkeit ... Dann begannen die Schüler, Informationsfragen zu stellen (‘Was passierte eigentlich, wenn sich die Gladiatoren keine Mühe gaben?’) Einige Schüler zeigten sich bereits sehr informiert und konnten deshalb noch weitere Details zum Unterrichtsthema beisteuern. So erzählte etwa Cornelia von dem römischen Brauch, ausgehungerte Raubtiere auf wehrlose Menschen loszulassen. Und Heike, die sich sonst eher in Schweigen hüllt, konnte von besonders grausamen und abstoßenden Hinrichtungsarten berichten.“ (3)

Hier sind lesende Lehrer rasch involviert. Wir sehen den Kollegen Günter Ulrich inmitten seines Unterrichts, inmitten seiner Entscheidungen. Die Schüler haben Namen, beinahe ein Gesicht. Wir bekommen didaktische Erwägungen und stoffliche Erschließungen, sehen Gelingen und Mißlingen. Später kommen noch curriculare Bezüge. Vorher gab es fachdidaktische Gedanken und entwicklungspsychologische. Das bietet zwar die gängige schriftliche Unterrichtsplanung auch, aber meist doch separiert, statt ineinander gesehen und als Plan, nicht als Bericht.
Involviert sind wir auch, weil Günter Ulrich sich beinahe entschuldigt, mit den Zwängen der Kurzstunde zusammengestoßen zu sein. Die Schüler haben ihm heilsam seine Kurzstunden-Dramaturgie durcheinandergebracht. Dafür sollte er dankbar sein!
Wir sind also in Ulrichs Unterrichts-Werkstatt zugegen, können mitverfolgen und erwägen, wie Lehrstückthema und Leitfrage neu geboren werden. Ein Verdacht, der nur auf den ersten Blick wenig schmeichelhaft ist, darf, hat man den ganzen Aufsatz gelesen, aufkommen: Günter Ulrich hatte offensichtlich noch nicht genügend Zeit - wer wird es ihm vorwerfen? - über den Bildungsgehalt seines Stoffes nachzudenken. In der europäischen Bildung hat die Erinnerung an die „Zustände wie im alten Rom“ eine bestimmte, herkömmliche Bedeutung. Dieser muß nicht gefolgt werden, aber sie müßte offensichtlich vor dem Unterricht bedacht werden. Und sie wäre bestimmt auch für den Unterricht fruchtbar geworden.
Was fehlt in diesem Sinn noch? Wir würden gern den ausgearbeiteten Lehrervortrag lesen, dem der Verfasser seine ganze Liebe angedeihen ließ. Überhaupt wollen auch wir lernen, nicht nur die Schüler. Wir wollen unseren Schuß Wissenschaft. Jerome Carcopinos „Rom, Leben und Kultur in der Kaiserzeit“ können wir doch dem, der es noch nicht kennt, nicht vorenthalten. Wie sollen wir am Literaturverzeichnis erkennen, daß Carcopino der Klassiker zum Thema ist?
Leider muß auch das moniert werden: Ausgerechnet der Didaktiker vernachlässigt die Motivation seiner Leser. Das gilt für Ulrich auf das Ganze gesehen trotz allem genauso. Er beginnt: „Der menschliche Alltag zählt seit einigen Jahren zu den bevorzugten Gegenständen der wissenschaftlichen Forschung ...“ Ehe die spannende Unterrichtserzählung folgt, ist der Besucher seines Theaters nach fünf Seiten Fachdidakik bereits eingeschlafen. Frisch sind dann aber wieder nahrhafte Seitenblicke zur Gegenwart: Tribüne damals und Bildschirm heute, otium/negotium damals und Freizeit/Arbeit heute! Vernachlässigen wir also nicht, den Appetit anzuregen.
Das Gespräch unter Kollegen wäre für die didaktische Literatur eine fruchtbare Fiktion. Erzähl’ mir doch einmal von Unterricht, der Dir gefallen hat. Kennst Du etwas Neues von gutem Unterricht? Schreib mir das als Brief, als Neuigkeit, als Novelle. Ich möchte mich anstecken lassen. Man könnte wie folgt definieren: Eine Unterrichtsnovelle ist ein Unterrichtsbericht von Lehrern für Lehrer, der für mitteilenswert, also interessant oder gelungen erachteten, Unterricht in einer anregenden, ansprechenden Form darstellt, und das vor allem, indem das konkrete In- und Miteinander der didaktischen Entscheidungen, Vollzüge und Wirklichkeitsebenen vor, während und nach dem Unterricht plastisch wird.
Schreiben benutzt Formen. Die verschiedenen sachlichen, komprimierenden Stile verdecken dabei ebenso leicht, wie schildernd-dramatisierende zu Überzeichnung und Ungenauigkeit verführen. Eine Lösung dieses Konflikts könnte in der sachgemäßen, nicht prätentiösen Collage gesucht werden. Der Erfolg wäre entscheidend. Ein wichtiges Kriterium ist: Immer dann, wenn der lesende Kollege an einer Gelenkstelle des Unterrichts feststellen muß, daß er sich das nun doch nicht vorstellen kann, haben Unterrichtsberichte versagt. Neben genaueren Schilderungen von Unterrichtsklima und Unterrichtssituation, neben authentischeren Dokumenten, etwa dem wörtlichen Konzept eines Lehrervortrags, dürfte das Einschalten einer zweiten Lehrerstimme einen entsprechenden Durchbruch fördern. Ein zweiter Lehrer als teilnehmender Beobachter des Unterrichts wäre schon deshalb wünschenswert.
Die beiden in dieser Studie vorgestellten Novellen zu einem Unterricht mit der St.Lorenzkirche erfüllen diese Ansprüche sicher nur zum Teil. Sie wollen aber von ihnen her verstanden werden. Von daher sind auch ihre Unterschiede zu beachten.
Ob sich der Begriff Novelle ernsthaft einbürgern läßt? Man sehe doch einmal, wie unbeirrt vom allgemeinen amusischen Befriffsgeschmack Juristen von Gesetzesnovellen sprechen. Trotzdem gibt es auch anregende Alternativen zum Begriff Unterrichtsnovelle: Bildungsnovelle, Lehrbrief, Unterrichtsdichtung, Unterrichtserzählung, Unterrichtsessay, Unterrichtsreportage ... Das soll dem einzelnen Fall sich anpassen. Entscheidend aber ist der Paradigmenwechsel von den - journalistisch gesprochen - harten Textsorten (Nachricht, Bericht) zu den weichen, durch Stilmischungen geprägten(Reportage, Interview, Feature ...)

2.1. Die St.Lorenzkirche in Nürnberg (1989)
Aus: Berg u.a. (Hg), Unterrichtserneuerung mit Wagenschein und
Comenius, Versuche evangelischer Schulen 1985-1989, Münster 1990


2.1.1. Die St.Lorenzkirche - das Sakrale in der Stadt

Man betritt St.Lorenz nicht durch das Hauptportal. Am Südturm durch die „Apothekertür“ eingetreten, muß man erst ein gutes Dutzend Schritte tun, ehe man an einem Verkaufsstand vorbei das Mittelschiff erreicht. Umständlich ist in jedem Fall unser Zugang zum späten Mittelalter, zur spätgotischen „Bürgerkathedrale“. Dort, wo sie liegt, am Ende der Karolinenstraße, wo diese Hauptader der Altstadt in die andere, die Königstraße, mündet, hasten heute noch so viele Menschen vorbei wie in den Jahrhunderten zuvor. Blickfang und Sog ist sie wie eh und je durch ihre herrschaftliche Portalfassade. Die gestaltreiche Durchdachtheit des Figurenportals kündet von vergangenem Ernst, von Energie, Bewußtsein, souverän abstechend von der architektonisch untergeordneten Umgebung. Eine Drehung des Kopfes, eine Verbiegung der Bahn des Laufenden, bei Mutigen ein rätselndes Hinaufstarren mit Genickproblemen, endlich bei manchen nach mehrmaligem Vorsatz ein gespanntes Betreten durch die erwähnte Seitentür, wo dann eventuell noch ein dicker Vorhang überwunden wird, das sind Wirkungen, die diese eitle Schöne auch jederzeit heute noch am vorbeigetriebenen Menschen erzielt.
Dem Lehrer, der dem Vorsatz gefolgt ist, die Lorenzkirche zu „lehren“, steht wie jedem dieser täglich zu Hunderten zählenden Betretern ein überkomplexes, gleichzeitig emotional zupackendes wie gerade dadurch auch wieder abstoßendes Monstrum bevor. Unverständlich ist ihm die raunende Sicherheit der Führenden. Gerne würde der Lehrer wissen, was diese Führer wissen. Näher hinzugetreten, hört er vielleicht die Stichworte und Namen, die er, wenn er schon länger ortsansässig ist, nicht das erste Mal hört. Soll er es auch so anfangen? Führen, dabei informieren, erklären, unterhalten? Der Lehrer bewundert die methodische Ökonomie der Führenden, wie sie im straffen Zirkel der Anekdoten innerhalb des zur Verfügung stehenden, knappen Aufmerksamkeitsquantums alles Wesentliche berühren. Gibt es eine Didaktik der Kirchenführung? Erst später, wenn er sich bereits wie bei uns in der Lehrerwerkstatt und bei Führungsversuchen die ersten Enttäuschungen eingehandelt hat, wenn er auch schon in der Sache belesener ist, wird ihm klar, daß jener allererste, ahnungsvolle Zugang nicht der schlechteste war. Diesem Zugang sollte auch im Unterricht Raum gegeben werden. Wir beginnen also nicht mit Vorbereitungen im Klassenzimmer und streben auch keine hergebrachte Führung an.
Die staufischen Könige legten die Lorenzer Südstadt planmäßig so an, daß sich im Brennpunkt des elliptischen Straßennetzes Kirche und Friedhof als Ende einer via imperialis, als Zielpunkt des königlichen Einzuges befanden. Kein Zufall scheint es, daß dicht vor dem Portal dann über die Pegnitzsenke hinweg auf der anderen Seite die Sebalduskirche, die ältere Zwillings- und Konkurrenzkirche, sowie die Kaiserburg in den Blick kommen. Ein Unterrichtsgang, der die Unterrichtseinheit eröffnet, beginnt also am Weißen Turm, dem Stadttor der älteren, schon um das Jahr Vierzehnhundert zu eng gewordenen Ummauerung, und nähert sich, gewissermaßen auf der Bahn der Könige, der Westfassade. Es muß genügen, den Schülern den Auftrag zu geben, die Fassade der Kirche nur immer, wo es geht, dabei ins Auge zu fassen. Im Sinne Martin Wagenscheins lassen wir so Zeit zur Einstellung auf das Thema, hoffen, daß dabei vielleicht schon Fragen „zünden“. Schaufenster, Baustellenlärm, die zahlreichen, in Fußgängerzonen doppelt gefährlichen Lieferfahrzeuge machen aus der erhebenden Annäherung ohnehin einen verdrießlichen Slalom. Wenn sich nun noch eine zeitgenössische Rundplastik in den Weg stellt, löst sich schon einmal die Spannung in Heiterkeit auf. Wir können getrost sein. Wenn man nicht gerade als König einzog, hatte das Mittelalter von solchen Hindernissen und Illusionsdurchbrechungen ein Mehrfaches zu bieten. Gotischer Kirchenbau, das ist das Sakrale in der Stadt. Beide führen miteinander einen Machtkampf, auch heute noch.
Vor dem Portal dann sehen sich die Schüler um, empfinden und entdecken den Charakter des Bauortes, die programmatischen Bezugspunkte in der Nürnberger Altstadt: Empfangsstraße, Stadttore, Straßennetz, St.Sebald, Burg, Handel. Auf den letzteren muß etwas stärker hingeführt werden im Unterrichtsgespräch durch Einbeziehung der Mauthalle. Wir „führen“ also nach einiger Zeit ein knappes Unterrichtsgespräch: „Wie lebte die Kirche davon?“ „Wie vom Handel, vom Straßennetz?“ „Wie vom König?“ “Inwiefern auch von der älteren Sebalduskirche?“
Nun möchte der Lehrer auch noch gleich fortfahren mit Erklärung oder gar Erarbeitung des die Heilsgeschichte erzählenden Figurenportals. Die Kathedrale als Biblia Pauperum, das Portal als Christussymbol, Heilsgeschichte als Weltgeschichte, das will er jetzt abhaken. Es ist mittlerweile fast immer zu kalt, wenn nicht, dann ist es zu heiß, immer zugig, laut, viel zu laut, die Schüler kommen sich „komisch“ vor. Herumhängende Punker machen sich schon einen Fez mit der Gruppe. Man glotzt mal hierhin, mal dahin. Ermahnungen tun so, als wäre es Schule, was auf der Straße stattfindet. Glücklicherweise hat der Lehrer aber eine sachgerechtere Einstellung. Irgendwo hat er nämlich gelesen, und es hat ihn überzeugt, daß die Stadtseite der Kathedrale nicht zufällig so viel Figurengewimmel und schreiende Signale enthält. Sie schreit gegen den fulminanten Lärm mittelalterlichen Stadtgetriebes an, lenkt ab, zerstreut, lenkt vorbei. Wie die wasserspeienden Chimären oben bannt sie die materielle Welt draußen weg vom Sakralen, speist durch volkstümliche, drastische Mittel die noch niedrig gestimmte Seele ab, denn das Eigentliche ist hier ja noch gar nicht sichtbar, das Licht. Irgendwo hat der Lehrer auch gelesen, daß gotische Außenansichten nur die Außenhaut der Innenwelt sind, daß der gotische Bau von innen her konzipiert und aufgezogen wurde, und deshalb eilt er guten Gewissens mit seiner Gruppe, auch alle anderen obligaten Hinweise auf kaiserliche Wappen, Rosette, durchbrochenen Giebel, Turmhöhe unterdrückend, gleich in die Kirche.
Die Schüler - gut, wenn es nicht mehr als zwanzig sind - bilden am unteren Ende des Mittelschiffs, zwischen dem ersten Pfeilerpaar, einen Halbkreis, blicken in Richtung Osten und verstummen. Der Lehrer hat dazu sehr wahrscheinlich nichts getan, als den Halbkreis zu erbitten. So können lange Sekunden, auch Minuten vergehen. Wieder gibt es Gelegenheit, das Thema individuell zünden zu lassen. Die Gegebenheiten, vor allem die Akustik erlauben allerdings anschließend keinen befriedigenden, offenen Austausch. Deshalb setzt der Lehrer ruhig leitende Impulse: „Die Kirche ist ein Weg.“ „Wohin führt er?“ „Zum Kreuz, zum Altar ...“ „Auf diesem Weg gibt es Stationen.“ „Wer befindet sich an den Stationen?“ „Die Heiligen an den Säulen.“ „Am Ende des Weges, den unser Blick mit den nach vorne zu immer würdiger werdenden Heiligen geht, von den Heiligen Drei Königen bis zu den schon nicht mehr deutlich sichtbaren Petrus und Paulus, am Ende des Weges ist das Kreuz, ist ein Altar.“ „Dort ist es anders, wir sehen es hier schon.“ „Dort ist Licht. Dort ist Farbe." „Eine Schatzkammer“, so stellt eine Schülerin fest.
Diese spirituelle Gedankenbahn scheinbar aufgebend, gehen wir, wie es der Ort verlangt, ein wenig vor ins Mittelschiff, blicken hinauf und umher. Welche Fragen sind nun virulent? Wie das gebaut wurde. Wo wurde offenbar begonnen, damals vor knapp mehr als siebenhundert Jahren? „Wir beginnen heute mit dem Keller, Zwischenwände, vor allem aber die Außenwände tragen Stockwerke und Dach!“ Hier ist es anders: Mit den Pfeilern des Mittelschiffs, mit einem Stab im Inneren, nicht mit einer Mauer, mit den Gurtbögen von Pfeiler zu Pfeiler. Man mauert über diesen hoch, läßt dabei Fenster frei - die Blicke der Schüler verfolgen es mit -, zieht zwischen zwei gegenüberliegenden Pfeilern von dort oben einen Bogen über die Mitte des Schiffs. Wie eigentlich? Wie kommt man auch über diese Bögen? Auf den Pfeilern befestigt man Balkengerüste, die unter die Bögen gespannt sind. Holzgerüste formen den Bogen vor, die Steine werden „daraufgelegt“. Den Anfang muß der Schlußstein auf der Spitze machen. Und von den höchsten Punkten der ausgemauerten Obergadenfenster werden weitere Balkengerüste hochgerichtet und in luftiger Höhe hinübergespannt. Darauf ein nicht gerade kleiner Tretkran, von Menschenkraft bedient, der hilft, die auf die Holzbögen zu legenden Steine einzuschwenken. „Wie eigentlich bleiben die Steine oben, wenn das Traggerüst weg ist?“ Der Mittelstein drückt durch sein Gewicht die Bogensteine nach außen und damit auf die Pfeiler. Die Bogensteine könnten nur fallen, würden sie nach innen zu Platz haben, um sich abzulösen. Dort aber steckt der Schlußstein. „Der Schlußstein, warum nennt man ihn so?“ Er ist Schluß und Schloß. Er leistet den schlüssigen Zusammenschluß. Man vergegenwärtige sich das Drama des Kirchenbaus - jetzt faßt der Lehrer das Unterrichtsgespräch noch einmal dramatisch zusammen: Auf zwei Seiten hochgemauert, darin Bögen und trotz der Schlankheit lange Fenster, einsam über der Stadt. Noch wirkt alles wie eine bald einstürzende Ruine. Nun werden noch waghalsiger die beiden Seiten verbunden, auch noch durch zwei weitere Bögen über Kreuz, wo der Schlußstein eingesetzt ist. Wird man alles gut einpassen können? Wird der Schlußstein halten? Was passiert, wenn das Gerüst abgenommen wird?

Schüler auf dem Dachboden mit einem alten Schlußstein

Schüler auf dem Dachboden mit einem alten Schlußstein

Sicher, wir wissen, gleichzeitig wurden die äußeren Seitenschiffpfeiler hochgezogen, und die darauf gesetzten Strebepfeiler können mittlerweile schon helfen, das Mittelschiff zu stützen. Aber erstens sieht man sie nicht von innen, und zweitens ändert dieser Umstand nichts an der prinzipiellen Richtigkeit unserer Erklärung.

Das Strebewerk von außen

Das Strebewerk von außen

Nächster Einwand: Könnte man das aber alles nicht bequemer, klarer, physikalisch anschaulicher mit Kreide an der Tafel erklären? Bis jetzt haben wir versucht, genetisch zu verfahren. Wir wollen den Gegenstand von seinen Grundlagen her erarbeiten, von den natürlichen Anfängen seiner Entstehung und der Entstehung unserer Fragen und unseres Wissens her. Wir wollen ihn ganz, allseitig und daher auch phänografisch unterrichten. Wir bleiben also hier im Gegenstand. Wer unter dem Schlußstein stehend von dessen Größe erfährt, von dessen zentnerschwerem Gewicht und eingeplanter Neigung herabzustürzen, zieht den Kopf ein, ihn berührt die Kühnheit der Erbauer, er späht auf die zahlreichen Bögen ringsum.
Ein Wechsel: Jetzt soll sich die Klasse auf die neuzeitlichen Stuhlreihen setzen. Damit setzt sich auch für einige weitere Momente der Stille das Wissen. Der Apostel schreibt an die Epheser:


So seid ihr nun Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen,
erbaut auf dem Grunde der Apostel und Propheten,
da Jesus Christus der Eckstein ist,
welcher die Wände von beiden Seiten eint,
in dem jedes Bauwerk wächst
zu einem heiligen Tempel des Herrn.

Die Schüler, die diese Anrede und Feststellung einem nun ausgegebenen, gut aufgemachten Textblatt entnommen haben, werden hoffentlich jetzt von selbst die Bezüge herstellen zu Pfeilern und Schlußsteinen, werden im besten Fall das Christussymbol - wir haben uns zwischen das erste und zweite Pfeilerpaar gesetzt - auf dem Schlußstein dieses Joches entschlüsseln. Der Lehrer ergänzt: Ekklesia bedeutet auch Gemeinde. Wenn gebaut wird, wie der Apostel die Gemeinde sieht, so ist die entstehende Kirche ganz sichtbar der Ort der Gemeinschaft mit den Heiligen im Haus Gottes, so taucht dahinter die Idee der Kirche als Abbild des Himmlischen Jerusalem auf. Man kann je nach erreichtem Bewußtsein und je nach vorhandener Konzentration noch dazufügen, wie beim Bau der Kathedralen bereits bei Absteckung des Grundrisses die Pfeiler und Teile des Chores mit entsprechenden Messen dem Schutz der jeweiligen Propheten und Apostel anvertraut und geweiht wurden.
Die Gruppe will sich jetzt auflösen zu dem von der gotischen Kirche herausgeforderten Herumgehen. Die Schüler erhalten dazu nur den Auftrag, sich über die Bildsymbole der Schlußsteine zu informieren. Dieser Weg führt den einzelnen dann auch endlich nach vorn in den wunderbar sich auftuenden Hallenchor, wo es nicht nur ganz eminente Gewölbe zu besichtigen gibt. Nach einer Viertelstunde sammelt man sich dort im Chor, wo die Entdeckungen über Schlußsteine ausgetauscht werden. Geklärt wird nur, was sich mit wenigen Hinweisen klären läßt. Unklares oder Erstaunliches - Wilhelm Löhe auf einem Schlußstein! - wird als solches festgehalten. Der anschließende gemeinsame Gang zur westlichen Stirnwand des südlichen Chorumganges dient der Rekapitulation und der Anwendung. Die monumentale Schrift dort oben lockt Entzifferer. Eine Jahreszahl: 1439 wurde der Hallenchor begonnen. Ebenso verlangt der mitten in die senkrechte Wand eingemauerte Schlußstein mit dem Auferstandenen nach Aufklärung. Unter den Abrißsteinen des alten Chores konnte, wie nun wirklich verständlich ist, der Eckstein und Schlußstein nicht einfach von den Bauleuten verworfen werden. Ähnlich können wir rekapitulieren, wenn wir vor dem Hinausgehen uns einem besonders imposanten Pfeiler nahe des Ausgangs zuwenden. Zehn bis fünfzehn Schüler müssen sich, an den Händen genommen, fest an den Pfeiler drücken, um ihn gemeinsam umfassen zu können. Die Gesichter berühren die Wülste und Streben, man riecht den Stein. Warum mußte dieser Pfeiler und sein Partner nebenan so gewaltig sein? Im Dunkel der Eingangshalle stehend dämmert uns: Sie tragen die Last der Türme! Es sind Bündelpfeiler. Woher dieser Name? War es nötig, kleine Pfeilerchen quasi außen anzubündeln? Hätte eine runde Säule nicht das gleich geleistet? Waren die Dienste also wirklich Diener? Noch einmal sehen wir das Rippenwerk der Decke sich in Kraftlinien in den Boden stützen, sehen wir die sichtbare Statik, die diaphane Struktur gotischen Bauens.
Wir verlassen damit für heute St.Lorenz. Ein Anfang ist gemacht. Draußen darf bei geeignetem Wetter eine achte Klasse vor dem Portal noch einmal knapp wiederholen, warum die Kirche an dieser Stelle errichtet wurde. Auf jeden Fall wird die Gruppe hier noch einmal versammelt, zu einem Rundblick auf Kirche und Ort herausgefordert, fürs erste verabschiedet. Im Arbeitsraum wird der Tag noch eine handfeste Begegnung mit mittelalterlicher Ästhetik bringen.


Der folgende Abschnitt wurde vom damaligen Teamgefährten Helmut Bullemer verfaßt.

2.1.2. Etüde zur mittelalterlichen Ästhetik

Wie wäre es, wenn wir selber eine Kirche bauen? Wenn wir wenigstens einmal daraufhin Material betrachten, betasten, prüfen, was uns denn „schön“ genug vorkommt? Der Gedanke kommt heutigen Schülern nicht so spontan wie dem Knaben Johann Wolfgang (von Goethe) (4) , der sich zu Hause eines Tages aus einer „Naturaliensammlung“ eine Art Altar baut. Im Gegenteil, man geniert sich ein wenig, sich auf womöglich Kindliches einzulassen. Aber es ist reizvoll, aus einem Plastikbeutel alle möglichen Bruchstücke vor sich auszubreiten: Sandstein, Granitpflaster, Ziegel, Korkeiche, Holz, Porzellan, Glas in mehreren Variationen - ja und Plastik. An Plastik entzünden sich die heftigsten Diskussionen. Plastik ist der diakritische Punkt, zum Teil der „articulus stantis et cadentis ecclesiae“, einer Kirche, die „steht und fällt“ vor den kritischen Erwartungen der Zeitgenossen.
Und dann schaut man, genau - zweimal - dreimal. Und dann nimmt man in die Hand und wägt und wendet. Bei geschlossenen Augen wird betastet, erfühlt, gestreichelt und sortiert, bis alles entweder in den „Topf“ oder in den „Kropf“ gewandert ist. Um den bloßen Geschmack noch auf den Begriff zu bringen, schreibt man zu jedem Material auf einem Kärtchen ein Adjektiv, ein Wort, eine Assoziation und hat sich so mit Hand und Kopf schon der Ästhetik genähert. Man geht zu den anderen Kirchenbaumeister/innen, läßt sich deren Entscheidung erläutern und findet viel Übereinstimmung, speziell darin, daß alle künstlich-modernen Materialien wie Styropor, PVC und Bakelit doch eher abzulehnen sind. Sind sie nicht „schön“? Nicht schön genug? Was prädestiniert ein Material zur Schönheit? Welche Kategorien sind bestimmend? Oberfläche, Gewicht oder Natürlichkeit? Glätte, Glanz oder Glitzern? Jemand stellt erstaunt fest: „Granit riecht ja!“
Die mittelalterliche Ästhetik hat von ihren platonischen Grundlagen her klare Kriterien, was denn nun „schön“ sei: Je mehr etwas teilhat am Licht, das heißt an Gott, desto höher steht es in der Hierarchie des Schönen. Auf einem ausgeteilten Arbeitsblatt vertiefen sich die Schüler/innen in den Text: „Eine Materie ... ist umso schöner, je farbiger und leuchtender sie ist“, „je lichtdurchlässiger sie ist und je leichter sie geformt ... werden kann.“ (5)
Der Betrachter soll auf diesem Weg nach oben in immer lichtere Sphären geführt werden. „Die objektive Schönheit der Dinge, die in ihrer Leuchtkraft, Farbe und ihrem Aussehen besteht, wird per delectationem - (durch Genuß) wahrgenommen und hilft die Unermeßlichkeit der Macht und der göttlichen Güte erkennen, die so viele Dinge aus dem Nichts zu schaffen wußte.“ (6)
Bei Abt Suger von Saint Denis lesen wir: „Als die Lieblichkeit der vielen farbigen Steine mich von den äußeren Sorgen weggerufen, indem ich das, was materiell ist, auf das nicht Materielle übertrug: da schien es mir, als sähe ich mich verweilen in einer seltsamen Region des Weltalls, die weder ganz in dem Schlamm der Erde existiert noch in der Reinheit des Himmels.“ (7) Von daher versteht sich die schablonenhafte Aufteilung:

häßlich - schön
rauh, hart, schwer - hell, glänzend, formbar
dunkel, erdfarben - lichtdurchlässig, bunt

Am Beispiel einer Lorenzer Glasmalerei, dem „Volckamer-Fenster“ - jeder bekommt eine Ansichtskarte zum Betrachten - ist die entsprechende Hierarchie des Schönen zu erkennen: aus mehr dunklen, erdigen Farben wird immer helleres, duftigeres Filigran. Bis in der obersten Krone auch noch die Starrheit des Sandsteins in geschwungene Formen aufgelöst wird. Gerade so stellte man sich auch die Stufenfolge vom plumpen menschlichen Körper zur Leichtigkeit und Geistigkeit der Seele vor.
Reizvoll sich vorzustellen, wie eine andere Chemie womöglich den gotischen Kirchenbau verändert hätte. Oder doch nicht? Ist Plastik sakral überhaupt integrierbar? Wieviel vom modernen Leben kann Platz finden in einer Kirche? Muß nicht auch die ganze Fülle des Lebens, das Pralle, Farbige, ja Erotische mit hineingenommen werden, damit sich Menschen in der Kirche wiederfinden? Die mittelalterliche Kirche hatte jedenfalls den Mut, eine ungeheure Farbenpracht, das Schöne und das Häßliche, das Durchgeistigte und Banales in den Strom des Glaubens und Gestaltens mit hineinzunehmen.
Wir machen am Schluß noch einen Versuch, mit unseren Bausteinen ein „Werk der Versöhnung“ zu bauen, in dem alle Materialien ihren Platz bekommen.

2.1.3. Die St.Lorenzkirche - ein spätmittelalterliches Bild des Heils

Unsere zweite Begegnung mit der Lorenzkirche gilt den sich vordrängenden Auffälligkeiten der Ausstattung. Der bourgeoise Bezug zur kunsthistorisch bedeutsamen Kirche war der des Sammlers. Das Gebäude hat ähnlich einem Museum angesammelt. Der Reisende seinerseits kann Eindrücke sammeln. Er klaubt die Rosette, den Engelsgruß und einiges mehr heraus. Dieser Einstellung kommt die spätmittelalterliche Bürgerkirche durch Tendenzen der Besonderung und der patrizischen Selbstdarstellung entgegen. Die spätere Zeit, weithin ganz auf einen Bildungsbegriff heruntergekommen, der lediglich Kennerschaft der membra disjecta einer vieldimensionalen Welt meinte, erspürt in einer solch reich ausgestatteten Kirche deshalb einen ihr gemäßen Stil. St.Lorenz, die „Weihnachtskirche“, ist schön wie ein reicher, glänzender Gabentisch. Belauschen wir etwas ironisch die happy few, die auf ihrem Weg zu Erlesenheiten unseres Landes auch hier Station gemacht haben, so können wir mitfühlen mit der tiefsten Zustimmung zur hier abstrahlenden Utopie der Verknüpfung von Reichtum, gegenständlicher Fülle einerseits und innerer Erhebung andererseits. Nichts ersehnt unsere von glänzenden Dingen lebende Wohlstandswelt ähnlich wie die Utopie, man könne auch ohne Askese Tiefe haben. Wir hoffen, um den Verdruß herumzukommen, den uns unsere Spielzeuge immer wieder bereiten, wenn über ihren Surrogatcharakter und ihre letztliche Banalität keine Täuschung mehr möglich ist. So gesehen ist es verständlich, daß St.Lorenz die Funktion erhielt, ein zuverlässiger Hort des Glücks zu sein, das im programmgemäßen Zauber des Nürnberger Christkindlesmarktes stets gesucht, aber nicht immer gefunden wird.
Worin liegt diese Kraft, die die Schönheiten der Lorenzkirche über das Schmucklager des Weihnachtsmarktes qualitativ hinaushebt? Man muß in diesem Zusammenhang Stellung beziehen in dem immer wieder aufkommenden Deutungskonflikt zwischen pluralistischer Bürgerkirche und monistischer, an ein Bau- uns Ausstattungsprogramm gebundener Kathedrale. Ich meine, der Reiz dieser Kirche liegt zum großen Teil im nochmaligen Triumph einer uns fremden, mittelalterlichen Kraft der Integration. An der Schwelle zur neuen Zeit siegt die Kraft der Eingliederung neuer Impulse in das mittelalterliche Weltbild. So sind auch Rosette und Engelsgruß, aus unterschiedlichem Stiftungskontext zwar, doch nur recht zugänglich von einem ungeteilten Kirchenganzen her. Daß dies empfunden wird, das beweist jeder Besucher, der, wie oben angedeutet, mehr aufnimmt als die Aura eines Museums.
Wie wollen wir das nun unterrichten? Didaktisch und methodisch sind unsere Antworten aus dem Verdruß der alltäglichen Unterrichtspraxis gewachsen, sie sind in der Lehrkunstwerkstatt „Comenianische Unterrichtserneuerung“ gewendet, bekrittelt, geprägt worden: Es wurde gesagt, wir wollen meditativ gesammelt unterrichten, mit spirituellem Spürsinn, phänografisch den Gegenständen Platz machend und vor allem nach Wagenschein genetisch, sokratisch, exemplarisch. Haben wir das gestern schon getan? Wir glauben, in nahezu allen Punkten wenigstens eine solche Richtung eingeschlagen zu haben. In einem aber haben wir zumindest vor Wagenschein versagt: Sokratisch war es kaum. Hören wir dazu Martin Wagenschein selbst:

„Streng sokratisch kann man nie dozieren und auch nicht programmieren. Und damit auch nicht genetisch, da in ihm das Sokratische konstitutiv ist. Insofern ist der genetische Lehrgang grundsätzlich nicht programmierbar, er hat immer Dunkelheit vor sich: Ein Programm kann sich zwar auf mehrere vorgeplante Wege verzweigen, aber es kann nie die unvorhersehbare und fließende, kontinuierliche Fülle der Möglichkeiten vorsehen, die ein streng sokratisches Gespräch in einer wachen und in sich koordinierten Gruppe zutage bringt. Auch an welchen Wegwendungen der Lehrer etwas sagen wird, kann er nicht wissen. Denn Kinder, wenn ihr Denken erwacht ist, denken überraschend und meist auch überraschend gut.“ (8)

Gewiß, heute wollen wir es besser machen. Die Erfahrung zeigt aber, daß Wagenscheins Wege in den naturwissenschaftlichen Fächern am fruchtbarsten anzuwenden und am überzeugendsten zu demonstrieren sind. Sie zeigt auch, daß eine Kirchenbegehung in der Großgruppe aus zahlreichen Gründen das offene sokratische Verfahren verhindert. Dennoch sind es Wagenscheinsche Mahnungen, die die Orientierung boten und das Fundament aus persönlicher Überzeugung schufen, als wir begannen, dem sperrigen Kirchenmonument in unserer Stadt pädagogische Überlegungen zu widmen. Deshalb noch einmal Wagenschein selbst:

„Ein (hergebrachter) Lehrgang hat für den Lernenden keinen Antrieb auf längere Zeit hin. Er enthält nur den sorgenvollen Aufblick auf kommende unbekannte, aber schon lastende Stockwerke (für den Lehrer bekannte, doch deshalb nicht weniger lastende). Der Schüler denkt: Was wird der Lehrer wohl heute vorhaben? Der Lehrer beginnt: Heute wollen wir mal folgendes machen! Ein solcher systematischer Lehrgang verführt zur Vollständigkeit (denn er will bereitstellen), damit zur Hast und also zur Ungründlichkeit. So baut er einen imposanten Schotterhaufen. Gerade indem er sich an die Systematik klammert, begräbt er sie, und verstopft den Durchblick ... (9)

"Man mag zuerst meinen, was wir ‘Arbeitsunterricht’ nennen, bedeute schon einen Schritt in ... (diese) Richtung. Denn er bemüht sich ja, die Fragehaltung des Schülers zu ermutigen und seine auf das ‘Ziel der Stunde’ hinarbeitende Selbsttätigkeit. Aber gerade dieser, gleichsam im Käfig der Kurzstunde ablaufende Arbeitsunterricht (so gewiß er, verglichen mit dem Dozieren, seine Vorteile hat) verhält sich zum Genetischen nicht wie eine Vorstufe zum Gipfel, sondern (gerade wegen einer gewissen Verwandtschaft ) wie eine Karikatur zum Original. Und zwar deshalb, weil er die Kurzstunde nicht nur erduldet, sondern sie respektiert, ja seine ganze Methodik und seinen Aufbau der ‘Stunde’ ihr widerspruchslos einfügt. Deshalb fehlt der über Wochen anhaltende Sog des sachlichen Motivs Im Epochenunterricht dagegen kommt er auf, weil ja für eine Periode immer nur einige der vielen Fächer (hier nun wirklich) ‘Zum Zuge kommen’. Ihr Vordringen gleicht einem beharrlichen Fließen im geräumigen Flußbett , angetrieben von jenem Sog. (Die übrigen Fächer ruhen indessen und sammeln gleichsam Kräfte, bis dann sie an die Reihe kommen.) Der konventionelle Stundenplan dagegen, der jedes Fach wenigstens einmal in der Woche bewegen will, erinnert an ein Pumpwerk, das den Stoff durch ebenso viel Kapillaren, wie es Fächer gibt, in mühsamen Stundenstößen hindurchpreßt, die Kraft des pumpenden Lehrers zermürbend, die Kräfte der Schüler nicht befreiend. Die Röhren sind zu eng, und es sind ihrer zu viele. Nichts kommt recht in Gang, mag das Pumpgeräusch auch manchmal munter klingen.“ (10)

Unsere zwei Vormittage beanspruchende Beschäftigung mit der Lorenzkirche kann nun keinesfalls Epochenunterricht genannt werden. Doch die „ ... durch den planlosen Kurzstundenwechsel bedingte ‘administrative Verstörung’ ... “ kann sich allmählich verflüchtigen. Und wir hoffen, er ist ein Anfang, der sich wie eine Etüde zum Epochenunterricht und zu genetischem Unterrichten verhält und nicht wie eine Karikatur.
Nach dem ersten Besuch kann unsere Gruppe also diesmal freier die Begegnung suchen. Schon das Eintreffen am Morgen vor der Kirche zeigt: Die Schüler finden sich ernst genommen, befreit zum Ernst des Lernens, wo man wiederkommt, zurückkehrt zum Gegenstand und nicht automatisch weitergeht. Wir lassen uns durch die Kirche selbst herumführen, finden einzeln unseren Platz zum Verweilen. Der Lehrer ermuntert zuvor dazu, auch einmal Hervorspringendes genau und fest aufzunehmen, von einem Sitzplatz aus, dann das Gesehene mit geschlossenen Augen als eigene Vorstellung zu reproduzieren.
Ein Glücksfall ist es, daß wir uns nach einer entsprechenden Frist in der Sakristei treffen dürfen. Durch die spitzbogige, eisenbeschlagene Tür betreten wir einen Raum, der seit der Überführung eines Schreinaltars aus der Marthakirche noch mehr zur räumlich geschützten, abgesonderten Andacht geeignet ist. Gleichzeitig dient er als Vorbereitungsraum der Pfarrer. Diese Umstände - der bunte Altar im Halbdunkeln (wieder die Heiligen Drei Könige), die Fülle der Portraits, die Glasmalereien, das Wissen um die Nähe der gewaltigen Kirche, von der uns nur eine Tür trennt - regen die Gruppe zu offenen Bekundungen und Fragen an. Es gibt Anlaß zum Rückblick auf den ersten Tag. Die Stühle des kleinen Gottesdienstraumes mußten nur um 90 Grad gedreht werden. Tische, Schreibzeug, das ist nicht nötig. Die Aura des Raumes darf hier unterrichten und für Bewegung sorgen. Diesen offenen, morgendlichen Ohren kann der Lehrer dann auch unverkrampft Grundwissen darbieten. So kann es möglich sein, das Patronat des Heiligen Lorenz zu begründen, eine amüsante, legendenhafte Angelegenheit, die treffend hineinführen kann in die Bedingungen für diese sich stets wieder emanzipierende Reichsstadt Nürnberg. Das kann und muß aber nicht geplant werden.
Ist diese für die Gruppe wichtige Phase zu einem natürlichen Ende gekommen, hat man sich gewissermaßen emotional in diesem ungewohnten Unterrichtsraum eingerichtet, kann nicht zweckgerichtet eingestiegen werden mit einem Abrufen der Eindrücke beim individuellen Betrachten der größeren Ausstattungsstücke zu Beginn dieses Tages. Hat ein Schüler den Drang, dem Eindruck Ausdruck zu verleihen, so konnte er das mittlerweile von sich aus schon tun. Zu einem angestrengten, gemeinsamen Sammeln, Klären und Ordnen der Eindrücke fehlen noch Grundlagen und vor allem das sachliche Motiv. Der Schüler würde zeigen, daß er doch nicht ganz weiß, warum er das jetzt tun sollte. Deshalb führt der Lehrer dieses angefangene Werk der Betrachtung von sich aus nur immer noch weiter fort. Die Frage nach dem Wozu legt der Schüler damit vertrauensvoll in die Hände des Lehrers, wie er sie, als er herumging, vertrauensvoll in die Hände seines eigenen Scharfsinns legte. Häufen wir also noch etwas, hoffen wir auf das Zünden des Themas durch Betrachtung der Vielfalt der Gegenstände. Versuchen wir im bloß Phänografischen das Gelingen einer Exposition. Manches ist ja nicht mehr neu. Es kommt wieder, was draußen im Kirchenschiff möglicherweise schon aufgefallen ist, und festigt sich so, nur erscheint es jetzt gewissermaßen unter Laborbedingungen, per Reproduktion.
Auf einer Ansichtskarte, die nun jeder Schüler in der Hand hält, ist das Triumphbogenkreuz abgebildet. Es wurde 1470 von der Familie Imhoff gestiftet. Die das Mittelschiff ganz überspannende Holzbogenbasis, die Farben, das Geäst bieten zum Urteilen und zur Spekulation Anlaß. Grundsatzfragen werden angespielt: Kitsch, überladen, warm, fröhlich, künstlich, Reichtum, damals ringsum aber Armut. Unsere Kategorien der Erledigung bleiben eigentümlich erledigend. Vielleicht kommt hier schon, wie bei uns geschehen, die Aufforderung: „Es gibt so vieles Einzelnes, das schön und interessant ist. Um aber wirklich etwas damit anfangen zu können, müßte man den Zusammenhang kennen.“ Genau diesen Hunger wollen wir ja stillen. Wir vertrösten aber noch einmal und machen das Problem durch weitere Häufung deutlich.
Die Auswahl der Teile, denen wir uns jetzt zuwenden, und die sachliche Interpretation, nicht aber das Verfahren stützen sich dabei, wie schon in einigen Teilen zuvor, auf einen kunstpädagogischen Versuch vom Ende der 70er Jahre, an den hier dankbar erinnert werden soll. Es ist das „Arbeitsheft für Schüler, Lehrer und interessierte Gruppen mit einem Beitrag ‘Die Lorenzkirche als Kunstwerk’“ unter dem Titel „Modell Bürgerkirche“, verfaßt und zum Einsatz gebracht durch das Kunstpädagogische Zentrum im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Ein eher nebenbei vorgestellter Deutungsversuch in diesem Heft hat uns zu der folgenden Sequenz angeregt.

Triumphbogenkreuz


Das Triumphbogenkreuz vor dem Gewölbe des Hallenchors

Zunächst benötigten wir einige Hilfsmittel. Glücklicherweise hat uns eine engagierte Kunsterzieherin unterstützt. Mittels Folien werden über den Overheadprojektor weitere über die Kirchenlänge verstreute, aber im Querschnitt die Mitte einnehmende Ausstattungselemente angespielt: Zuerst ein Marienleuchter aus dem Hallenchor, vergoldetes Eisengestänge, fünfundfünfzig Leuchterschüsseln, oben im Baldachinaufsatz eine Marienfigur aus Holz. Dann als zweite Folie der „Englische Gruß“, berühmtes Werk des Veit Stoß, Lindenholz, an einem Seil hängend, gefaßt und vergoldet, Wolkensockel, den ein Engel hält, darüber der Verkündigungsengel und Maria, über Gabriel ein Kreuz, über Maria die Taube, Gottvater alles ovalrund, eingerahmt durch Medaillons mit dem Marienleben und mit einem Rosenkranz; beides 1517, Stiftung Tucher. Wir legen außerdem noch eine schematische Zeichnung der Rose aus der Westfassade (1360) auf und ergänzen den ungeordneten Foliensatz durch Auflage einer vierten Folie mit der Zeichnung des bereits bekannten Triumphbogenkreuzes: Mit der Hand haben wir durch die Sakristeimauer jeweils die Richtung der Lage des Stückes gezeigt. Jetzt aber liegt dicht aufeinander, was im Raum weit auseinanderliegt. Zusammenhang, Ordnung unter diesen im Zeitraum von 150 Jahren hinzugefügten Stücken? Wie hängen sie eigentlich, wie stehen sie in der Höhe des Raumes? Hinausgehen ist nicht erlaubt. Die Folien werden nach Anweisung der Schüler wieder auseinandergezogen. Die Korrespondenz von Rose und Rund des Engelsgrußes wird gesehen. Verschiedene Vorschläge werden geprüft. Das ist schon spannend.

Zuletzt löst ein Schüler, wie so oft, schlagartig, mit der Plötzlichkeit des Scharfsinns die Frage der vertikalen Anordnung. Wir hoffen, er hat sich an das hierarchische Prinzip der mittelalterlichen Ästhetik vom gestrigen Vormittag erinnert. Auf jeden Fall legt er folgende Höhenfolge fest: Zuunterst der Marienleuchter, dann folgt, die Höhe der Maria im Baldachin des Leuchters noch berührend, der in Regenbogenfarben gestreifte Holzbogen, auf dem das Kreuz als Baum hochwächst. In den Schaftteil des Kreuzes fällt das Geschehen des Engelsgrußes, Mariä Verkündigung. Das Haupt des Gekreuzigten auf dem Triumphbogenkreuz überragt die Szene so wie Taube und Gottvater auf dem Engelsgruß. Letztere ragen schon hinein in den Höhenbereich der alles überragenden und oben abschließenden Rosette, in die der Lebensbaum des Kreuzes hineinwächst.
Die Begründung der Schüler ergänzen wir im Unterrichtsgespräch. Der Regenbogen nach der Sintflut unter dem Gekreuzigten, Zeichen des alten Bundes, Zeichen des neuen Bundes, der Baum des Paradieses und das Kreuz, beide Zeichen von Schuld und Sühne, bilden zusammen mit der oben abschließenden Darstellung der Dreifaltigkeit und der Rose das Denken in den drei Zeitaltern ab: ante legem, sub legem, sub gratia.
Erstaunen ruft es schon hervor, daß man sich über 150 Jahre Ausstattungsgeschichte diesem theologischen Plan einfügte, daß grobe Verstöße gegen diesen Gedanken undenkbar waren, daß dem mittelalterlichen Betrachter beispielsweise der Doppelsinn des lignum vitae, des Kreuzes als fruchtbringendem Lebensbaum und als Erinnerung an den Sündenfall, nicht nur sofort gegenwärtig, sondern auch einsichtig war. Nach dieser Erkenntnis haben wir den natürlichen Ort der Reflexion über das Wesen der Rose. Es ist ja eigentlich unklar. Wir dürfen ruhig daran erinnern, daß uns die Quellen darüber keine hinreichende Klarheit geben. Und auch das ist jetzt einsichtig, denn wo die Kraft der symbolischen Konzentration und der Tradition so stark ist, wozu benötigt man dort schriftliche Interpretationen und Hilfen. Was also legt unser Foliensatz, der jetzt säuberlich gerichtet die vier Teile in vertikaler Anordnung zeigt, nahe? Die Rose als Krone (corona!) vielleicht, der bekrönte Christus, Rose als Gewächs des lignum vitae, Rad (Achse schräg gestellt) als Erinnerung an das Fortlaufen des Heilsgeschehens, Sonne, Abendsonne (Westen), Abendrot, die Erinnerung an das Ende der Zeit und des Heilsplanes.

Einzelfolien

Die Einzelfolien, in der Mitte die Kombination


Das war kräftige Nahrung. Jetzt wollen wir aufstehen, nein, wir müssen aufstehen. Es wäre eigenartig, wenn jetzt nicht der skeptische und der gutgläubige Teil der Schüler gleichermaßen das Bedürfnis hätten, das nun auch mit eigenen Augen nachzuprüfen. Wir sollten aber diesen Drang zum Original ausnutzen, um die Bezüge gleichzeitig zu erweitern. Die Schüler werden also auf drei Vorhaben aufgeteilt. Natürlich soll sich der erste Teil der Frage widmen, ob unsere vertikale Anordnung zutrifft, und vor allem, von welchem Punkt der Kirche aus dieselbe ins Auge fällt. Die Zweiten aber sollen zum Vergleich das gestern ausgesparte Westportal besuchen; anschließend sollen sie es uns genau beschreiben. Die Dritten - es müssen acht Schüler sein - sollen sich noch etwas der Rose widmen. Ihre acht Teile haben wir in hüfthohen Kartons ausgeschnitten. Nun wird sie auf dem Bogen zusammengelegt. Man tüftelt. Mehrmals läuft man hin und her zwischen Sakristei und Kirchenschiff. Sind nach entsprechender Frist, Entspannung eingerechnet, alle zurück, wird diese Gruppe zuerst aktiv. Unseren vier Deutungen der Rose wird eine fünfte bekannte Spekulation zugefügt, die Rosette von St. Lorenz in Nürnberg als Grabeskirche in Jerusalem. Jeder der Acht möge seinen Teil nehmen und durch geeignetes Halten mit den anderen diesen Zentralbau darstellen. Nach einiger Ratlosigkeit übernimmt schon ein Schüler das Kommando, erkennt die Standflächen der vier äußeren Basisteile. Die vier Teile, die sich im Inneren darüber erheben, werden von den nach innen getretenen Schülern hochgehalten. Das ist an sich schon erstaunlich genug. Man könnte also auch nach etwas Betrachtung weitergehen zur nächsten Gruppe. Das ist aber auch eine gute Szene für Fragen, Zweifel, Fortführendes. Wir können anfügen, daß das Patrozinium bis Ende des 13. Jahrhunderts St. Lorenz zum Heiligen Grab lautete. Die Rose erinnert so an eine ältere Heilig-Grab-Kapelle an gleicher Stelle.
Die Portalanalyse der zweiten Gruppe ergibt zumindest die offenkundigen Parallelen zur Darstellung der Heilsgeschichte im Innenraum. Die Vergegenwärtigung der Figuren und Szenen aus der Vorstellung, von Adam und Eva, den an der Kopfbedeckung kenntlichen jüdischen Propheten, von den zum Teufel gehenden Verdammten und von vielem mehr, ist für Berichtende und Hörende gleichermaßen vorteilhaft. Vorstellung und Vergleich setzen Abstraktion und Begreifen voraus. Diese inwendige Reproduktion des Gesehenen ist für Vertrautheit und vertiefte Kenntnis genauso wichtig wie andererseits die Begegnung mit dem Original. Deshalb auch wurden vorher dürre Zeichnungen auf Folie verwendet. Dias hätten es auch bei technischer Machbarkeit nicht sein dürfen. Kein Bild soll so dicht neben dem Original den Ersatz für das Original mimen.
Und welches Ergebnis hat unsere erste Gruppe gebracht? Die vertikale Anordnung wird bestätigt. Aber was muß man tun, um sie mit einem Blick zu erfassen? Man müßte auf den Galeriegang des Chores hinauf. Zu hoch! Vielleicht hing der Engelsgruß doch tiefer, dann ginge es von unten im Chorhaupt mit schrägem Durchblick. Nein, an der Winde oben im Dachstuhl war genau diese Höhe am Seil markiert. Man müßte sich ganz dicht an den Eingang drücken, dann geht es fast, nur fehlt dann die Rose. Man müßte entfernt sein wie der in die Stadt einziehende König, nur dürfte er dann aus anderen Gründen nichts gesehen haben. Die Vorschläge können das Komische streifen. Es soll nicht verschwiegen werden, daß die Schüler energisch erkundend zuvor schon einmal versucht haben, die Kopflehnen der Sedilien des Chorgestühls zu besteigen. Es traf sich gut, daß sich dort, eher zufällig, der Lehrer postiert hatte. Ergebnis: Es gibt in der Kirche keinen Ort, nirgends, wo unser Foliensatzbild in den Blick kommt. Warum das aber dermaßen peinlich genau hängen und einrichten, wenn es so nicht gesehen wird? Da ruft ein Schüler gewissermaßen „Halt!“ in die Fahrt. „Doch! Hätte man die Augen des Gekreuzigten auf dem Altar, dann könnte man alles so sehen.“ Das schlägt ein. Einer der Beiträge, die blitzartig kommen und eher beschwiegen als besprochen werden sollten. Veit Stoßens Holzkruzifix auf dem Hauptaltar hatten wir zuvor als einziges größeres zentralräumliches Element in unsere Reihung der Ausstattungsstücke nicht aufgenommen. Können wir jetzt noch auf unserer Frage beharren? Vielleicht sollten wir es doch: Wie bemessen sich Wert und Schönheit eines Werkes, wenn es nicht von uns gesehen wird? Hinweise auf das in der Höhe entschwindende Figurengewimmel des Sakramentshäuschens von Adam Kraft belegen das. Und wie war das gestern bei der Etüde zur mittelalterlichen Ästhetik? Der objektiv festgelegte Wert von Farbe und Material! So rückt zum Schluß dieser Unterrichtseinheit die unaufhebbare Fremdheit des Mittelalters beunruhigend nahe. Die Gotik gliedert offenbar ausschließlich vertikal und nicht für einen Betrachter räumlich-perspektivisch. Es liegt eine Ästhetik der „Objektivität des Schönen“ (Assunto) vor, d.h. wichtig sind die Wahl des Materials, die Angemessenheit von Größe und Form und die Tatsache, daß alles am richtigen Ort ist (Vollkommenheit). Als Ensemble stellt eine solche Kirche einen Wert in sich dar, ein in sich stimmiges Abbild des Heils, unabhängig von einem gedachten menschlichen Betrachter. Wie anders sind wir!
Wahrscheinlich muß man jetzt nichts mehr reden. Vielleicht möchte man noch allein oder in kleinen Gruppen in der Kirche umherschweifen. Vorher wird möglicherweise noch ruhig und gründlich eine Legende vorgelesen. Wenn die künstliche Arbeitsbeleuchtung gelöscht ist, können wir im dämmrigen Oberlicht der alten Sakristeifenster auf die Geschichte vom Abendläuten hören. Sie erklärt die Besonderheit, warum in Nürnberg die Kirchenglocken um 21 Uhr läuten, und berührt zum Ausklang nochmals die fromm-nützliche Anhänglichkeit des früheren Stadtbürgers an seine Kirche. Und vielleicht erscheint so unsere arg analysierte Nürnberger „Weihnachtskirche“, in der so viel von der Ankunft des Herrn die Rede ist, wieder an ihrem Platz, im Herzen der Besucher. Viel haben wir eigentlich an den zwei Vormittagen gar nicht behandeln können. Wesentliches auf jeden Fall. Was könnte nicht alles noch angeschlossen werden, exemplifiziert werden an dieser Kirche etwa im Rahmen des Geschichtsunterrichts in der achten und elften Klasse an bayerischen Gymnasien!

Am Ende dieser Anregungen und Berichte noch etwas über Störungen. Wie sehr baut doch die Kälte den Elan ab! Fast möchte man sagen, eine derartige Kirchenbegehung nur im Sommer! Unsere Sakristei allerdings wurde freundlicherweise geheizt. Im Advent, einem von der Verteilung des lehrplanmäßigen Jahresstoffs und vom Thema her naheliegenden Zeitpunkt, wird die Kirche überdies von teilweise wenig eingestimmten Kurz- und Kürzestbesuchern überschwemmt. Vorbereitungsarbeiten für musikalische Aufführungen oder das Proben an der Orgel, die Tonbildschau in der Eingangshalle machen es uns nicht leicht. Kommt man, was ratsam ist, gleich nach Öffnung um neun Uhr, kann gerade, wie es uns geschah, noch gesäubert werden. Am ersten Tag zog eine junge Frau gewissermaßen mit unserem Blick ihren geräuschreichen Staubsauger von Pfeiler zu Pfeiler vor in den Chorraum. Man wird sich hier immer, wohl oder übel, den Möglichkeiten des Augenblicks anvertrauen müssen, genauso wie man sich der Gunst oder Ungunst der Lichtverhältnisse anvertrauen muß, die in einer solchen Kirche immer wieder andere Gesamteindrücke hervorbringen.
Diese Form des Unterrichtens ist aber robust genug für viele Widerwärtigkeiten. Der Weg zum Herzen geht hier zuverlässig im ruhig-gelassenen Ton über Kopf und Auge. Nicht nötig, mit verbissenem Nachdruck Ergriffenheit herstellen zu wollen. Robust genug scheint diese Form auch, um soziale, psychologische Probleme der Gruppe zu absorbieren, vielleicht sogar zu mindern. Jedenfalls fand gerade eine wegen Neuzusammensetzung und Übergröße stark mit inneren Konflikten belastete elfte Klasse trotz eher verhaltenem Echo in der Öffentlichkeit auf Papier fast nur gute, ja überschwengliche Worte für den Unterricht. Natürlich bilden in diesen Fällen solche Tage ein Ventil, längst fällige Interaktionen in der Problemgruppe werden ausgelöst. Dennoch war es möglich, die für die Schüler ungewohnte, strikte Sachorientierung weitestgehend durchzuhalten. Die zwischenmenschliche Dimension konnte sich in den Zwischenräumen entfalten, sie war Schülersache; anders als sonst, wo der Lehrer für gute Stimmung zuständig ist, durfte der Lehrer mehr für den Stoff zuständig sein.

1) Vgl. z.B. Heimann Paul, Didaktik als Theorie und Lehre, in Die Deutsche Schule 54, 1962

2) Berg Hans Christoph u.a. (Hg), Unterrichtserneuerung mit Wagenschein und Comenius, Versuche evangelischer Schulen 1985-1989, Münster 1990

3) Ulrich Günter, Die Entdeckung des Alltags in der Geschichte: Kultur- und Alltagsgeschichte als Quelle der Erkenntnis im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I, in Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (= GWU), 10/83, S. 623-643, 5.634

4) Dichtung und Wahrheit, erster Teil, Schluß des ersten Buches

5) Assunto Rosario, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1982, S. 103
6) A.a.0., S. 109
7) A.a.0., S. 194

8) Wagenschein Martin, Zum Problem des Genetischen Lehrens, in Ders., Verstehen lehren, Genetisch-Sokratisch-Exemplarisch, Weinheim und Basel, 1989 (8) (1968), S. 97 f

9) Ders., Zum Begriff des exemplarischen Lehrens, in Ders., Verstehen lehren, S. 29
10) Ders., Verstehen lehren, Anhang I, S. 115 f, 1962



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