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1. Was ist die Nürnberger Lorenzkirche?

1.0. Zum Problem der didaktischen Analyse bildender Gegenstände


Man kann nicht unterrichten, was man nicht kennt. Leider finden sich auf die Frage nach dem erforderlichen Grad fachlicher Kompetenz keine Antworten, die einfach oder für den Lehrer bequem sind. Lehrer „unterrichten“ sich selbst aus Veröffentlichungen der Wissenschaft und aus von Kollegen verfaßten Lehrbüchern. Auf der anderen Seite gibt es die eigene, aus dem Umgang mit dem Gegenstand gewonnene persönliche Erfahrung.
Durch das Informiertsein im Diskurs der Wissenschaft oder durch den subjektiven Niederschlag eigener (Unterrichts)-Erfahrung, vielleicht eigenen Erlebens, ist die Frage nach dem „Was“ des Gegenstandes jedoch in seiner bildenden, objektiven, das junge Leben fördernden Bedeutung jeweils auf unterschiedliche - erwachsene - Weise ausgeklammert.
Mit seiner Frage „Wozu brauche ich das eigentlich ?“ zielt der Schüler nämlich genau auf dieses bildende „Was“ des Gegenstands. Der Schüler sucht nach dem Platz des Unterrichtsstoffes auf jener Landkarte, auf der sein späteres Leben Pfade finden muß. Wir Lehrer müssen uns aber oft damit bescheiden, daß wir eigentlich nur unterschiedliche, je anders konsensfähige Weisen über einen Gegenstand zu sprechen, eine wissenschaftliche oder eine subjektiv-interpretatorische, kennenlernen, ja sogar lehren und nicht sozusagen den „Gegenstand selbst“.
Dabei ist es nicht so einfach, intellektuell die Zukunftsbedeutung für spätere Generationen zu antizipieren und von daher den Gegenstand ergänzend in das richtige, vom Schüler gebrauchte Licht zu rücken. In der Regel muß man Acht geben, daß ein solches Funktionalisieren der Gegenstände den Unterricht nicht abmagert und austrocknet, im Sinne der Abweisung: „Das brauchen wir hier nicht. Das ist nicht so wichtig für euch.“ Die genaue, diese besonderen Schüler angehende bildende Bedeutung erschließt sich nämlich antizipatorisch dem ordnenden und organisierenden Lehrplandenken prinzipiell nicht. Wie finden wir aber im unersetzlichen Vorfeld der Planungstätigkeit wenigstens einen annähernden Zugang dorthin?
Ich denke, einen entscheidenden Fortschritt in dieser Frage stellt folgende Blickrichtung dar: Der Schüler sollte am fruchtbaren Vertrautsein des Lehrers mit seinem Gegenstand in einem ersten Schritt aufnehmen können, daß diese Sache wenigstens in der Gegenwart, hier, für den vor ihm stehenden erwachsenen Menschen ersprießlich ist.
So ausgerüstet sollten Lehrer ohne Resignation sich auf dieses Problem der sachgemaßen Antizipation der Schüler-Gegenstand-Relation wirklich einlassen. Wissen wir nämlich nicht sozusagen inwendig, was das ist, was wir unterrichten, sondern nur, wie man vertretbar darüber reden kann, so werden uns das die Schüler stets abspüren, und der Unterricht ist in ein fundamentales Defizitempfinden getaucht. Dabei ist die Rede vom Gegenstand an sich natürlich vorwiegend eine didaktische Orientierung. Genauer müßte man sagen: Das Studium des Gegenstands müßte beim Lehrer einen solchen Grad erreicht haben, daß seine Vermittlungs-Aktivität sich nicht mehr zerstreuend zwischen Gegenstand und Schüler stellt, sondern den Gegenstand freigibt. Dazu muß man nicht unschlagbarer Experte sein, aber man muß so gut mit dem Gegenstand bekannt sein, daß man das eigene Nichtwissen gründlich kennt. Wenigstens für uns als Lehrer selbst müssen wir über den Zustand der Aufgesetztheit der Stoffe und Themen hinausgekommen sein.
Es geht darum, im Unterricht durch Lehrkunst Wirklichkeit anzubahnen oder auch nur zuzulassen. Das ist aber das Schwerste, und es ist leicht gesagt, wenn uns Karl Ernst Nipkow mit Comenius mahnt: „Der Lehrer soll mit seinen Schülern stets drei Fragen verfolgen: Was ist? (quod oder quid?), durch was ist es? (per quid?), und wozu ist es gedacht, bestimmt, soll es gebraucht werden? (ad quid adhibendum?).“ (1) Genau auf diese Fragen nämlich nach der bildenden Substanz der Dinge gibt uns die Wissenschaft meist keine Antwort. Gerade mit der Frage nach dem Bildungsgehalt einer Sache ist der Lehrer im Alltagsgeschäft meist mutterseelenallein.
Gesamtdeutungen des Symbols Lorenzkirche, die menschliche Bedeutsamkeit beanspruchen, gibt es seit den Dreißiger Jahren nicht mehr. Die damalige Tendenz zur Empfindelei wirkt heute auch unglaubwürdig, aufgeblasen. (2) Der Fachmann, der Kunsthistoriker hält sich da heute entsprechend gerne zurück, hält sich an seine fachlich begrenzte Kompetenz und überläßt das Feld menschlicher Vermittlung dem Theologen, der nun allerdings wieder ganz frei ist und nicht die Lorenzkirche „predigt“, sondern mit der Lorenzkirche sein Evangelium.
Schon die von bedeutenden Unterrichtsdidaktikern dem Lehrer ans Herz gelegte vorgängige thematische Analyse (3) stürzt also in zeitraubende Probleme. Dabei stehen nach Modellvorstellungen der Unterrichtswissenschaft schwere Entscheidungen der Unterrichtsplanung und Vorbereitung im Anschluß daran erst noch bevor!
Es ist nicht zu ändern: Die thematische, didaktische Analyse des Gegenstands bleibt eine unentbehrliche Leistung des Lehrers (der Lehrergruppe), die ihm (ihnen) niemand abnehmen kann. Suchen wir also mutig nach dem „Was“ des Gegenstandes, auch wenn wir keine Gewißheit und letzte Klarheit finden werden, einfach weil der Lehrer einem andersartigen, vielleicht größeren Anspruch ausgesetzt ist als die sich an den spezialisierten Erwachsenen wendende Wissenschaft und der an den Unterhaltungsbedürftigen sich wendende Kulturbetrieb, denn er muß sagen, was die Wissenschaft als zu spekulativ nicht zu sagen wagt und wohin die Meinungs- und Freizeitindustrie nicht vordringt. Zahlreich sind die Quellen und Hilfsmittel, doch den Akt des Verstehens muß der Lehrer allein auf sich gestellt leisten, so wie es im glücklichen Fall auch die Schüler tun werden, wenn auch anders. Die spekulative Synthese des „Lehrers“ mag sogar kühn sein, mitunter auch das Lächerliche streifen oder doch nur oft Gesagtes wiederholen. Es bleibt nichts anderes: Hic Rhodus ... In diesem Sinn, als Beispiel der Aneignung der Lorenzkirche durch den Verfasser, sollen die folgenden Ausführungen verstanden werden, nicht als fachmännische Instruktionen.
Noch etwas Wichtiges muß vorausgeschickt werden: Der wissenschaftliche Diskurs verlangt nüchterne Klarheit, Präzision vor allem auch im Weglassen des sachlich nicht unbedingt Gebotenen, ein Höchstmaß an Transparenz durch ruhige Ausbreitung und stets deutliche funktionale und logische Schlüssigkeit. Ziel dieser Orientierung sind die Qualitäten der Sachlichkeit und der Begrifflichkeit.
Andere sprachliche Gestalten spielen akademisch, wo sie zweckmäßig sind, aber durchaus auch ihre Rolle. Der Historiker, der sich an sein Publikum wendet, erzählt streckenweise. Der Didaktiker, der dem Lehrer bessere Darbietungsmöglichkeiten demonstrieren will, bietet selbst streckenweise dar. Gerade in der Didaktik ist der Stilebenenwechsel eine leicht einsehbare Hilfe. Ähnlich dem Methodenwechsel im Unterricht intensiviert er die Vermittlung. Gerade Lehrkunst-Didaktik wird ein Stück weit literarisch werden müssen. Wissenschaftlich bleibt dies, solange es eingefügt ist in die Argumentierbarkeit des nachvollziehbaren begrifflichen Rahmens. Auch in dieser Arbeit treten mindestens drei eher literarische Phänomene in dienender Funktion auf: Die Verdichtung, die allzu volle Prägnanz, andererseits der Exkurs, das funktional nicht unbedingt unentbehrliche Detail, zuletzt vor allem Bildlichkeit, Anschaulichkeit, sogar Versuche der Dramatisierung. Wenn im folgenden Abschnitt also gelegentlich dem Leser das Tempo zu rasch, die Sprünge für den Sachfremden zu schwierig erscheinen, so erkläre er sich das mit der besonderen Bedeutung dieses Textes. Dieser stellt eben eine verdichtete Rechenschaft dar, eine persönliche Gegenstandsanalyse auf wenigen Seiten, privat, emotional mitunter zugespitzt.
Dabei ist der Autor nicht im entferntesten ein umfassender Kenner, ein Fachmann wie lokale Kunsthistoriker oder Kirchenbaumeister, aber er ist eben doch vertrauter mit dieser Kirche als der durchschnittliche Leser. Dennoch wird hoffentlich gerade die Dichte des Durchgangs zwar vielleicht nicht jede Einzelheit dem Leser nahebringen, aber doch den Kern dieses persönlichen Aufschlusses zur kulturellen, menschlichen Bedeutung dieses Bauwerks.

Was ist die Lorenzkirche?


1.1. Bamberger Kappelle

Bischof Ekbert, der im deutschen Thronstreit von 1208 zwielichtig engagierte, entscheidende Bauherr des Bamberger Domes wird 1235 in einem anderen Zusammenhang vom Papst der Besitz einer „ecclesiam quoque in Vuerte (Fürth) cum capella sancti laurentii in Nürenberc dependente ab ipsa“ bestätigt. (4) Noch in dieser Zeit wird also auf diesem Boden um den Bambergischen Einfluß gerungen, nachdem einst Kaiser Heinrich dieses noch weitgehend unerschlossene, waldreiche Reichsgut kirchlich aus dem Eichstättischen Einfluß gelöst hatte und Bamberg unterstellte und das benachbarte Fürth dabei der Bamberger Kirche überhaupt zu Lehen gab. Die angrenzende, heute deutlich kleinere, aber ältere Stadt Fürth, deren verwaltungstechnisch vielleicht vernünftige Einvernahme durch die Großstadt Nürnberg noch im zwanzigsten Jahrhundert an den tumultuarischen Protesten der Fürther Bürger scheiterte, sollte aber bald die Kirchenhoheit über Nürnberg verlieren und als fürstlicher Markt gegenüber der im reichsunmittelbaren Königsschutz verbliebenen Ansiedlung im Osten ins Hintertreffen geraten.
Daß diese Nürnberger Ansiedlung am Südhang eines befestigten Sandsteinfelsens am Unterlauf der Pegnitz einst seine in fruchtbareren und verkehrsgünstigeren Lagen gelegenen, nachbarlichen markgräflichen und bischöflichen Residenzstädte weit überflügeln konnte, verdankt es ausschließlich der Landesausbaupolitik der deutschen Könige, wie schon die Anfänge unter Kaiser Heinrich dem Heiligen bezeugen. Noch Friedrich, der in Sizilien residierte und Nürnberg besonders privilegierte, begründete dies an Ort und Stelle mit der besonderen Erbarmungswürdigkeit dieses Ortes (in durissimo fundo situs), der obendrein nicht einmal Schiffahrtswege oder Weingärten zuließe. (5)
Als die Staufer gegen Ende des 12. Jahrhunderts auch am Südufer der Pegnitz, am Rande ihres Königshofes eine planmäßig um ein Seitenbächlein angelegte Stadt gründeten, ist das Patrozinium der dazugehörigen Kirche noch unentschieden. Man findet der Kreuzzugsepoche entsprechend Hinweise auf eine Stiftung zu Ehren des Heiligen Grabes; noch die Rosette an der Westfassade wird einer geistreichen Interpretation zufolge als Hinweis auf die Architektur der Grabeskirche gedeutet. Man wollte an diesem Ort auch Kunigunde, die volkstümliche, ebenfalls heilig gesprochene Gemahlin Heinrichs verehrt wissen.
Aber wie es scheint, war die Erinnerung an die großen, in Bamberg begrabenen Kirchenstifter eher Sache der anderen Pfarrkirche auf dem nördlichen Pegnitzufer, wo man überdies die Grabstätte des Lokalheiligen St. Sebald barg. Weshalb also „St.Lorenz“?

„Wie das Patrozinium zustande kam, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit zu rekonstruieren. Dem hl. Laurentius wurde der entscheidende Anteil am Sieg über die Ungarn in der Schlacht auf dem Lechfeld zugeschrieben. Seit dieser Zeit ist sein Kult, der in Rom schon seit frühester Zeit höchsten Rang besaß, auch in Deutschland populär. Der unmittelbare Anlaß für das Nürnberger Patrozinium dürfte die legendäre Einführung des Heiligen Laurentius in die Vita Kaiser Heinrich II. gewesen sein. Dessen Seligkeit rettete Laurentius, indem er bei der Seelenwägung auf die Waage einen von Kaiser Heinrich dem Laurentius nach Merseburg (Eichstätt?) gestifteten Kelch warf.“ (6)

Nun wird allerdings beispielsweise 1472 der Hauptaltar des spätgotischen Hallenchores zu Ehren von nicht weniger als 28 Heiligen errichtet (7), unter denen zwar Lorenz an vorderster Stelle rangiert, von denen aber zumindest Stephan in der Ausstattung der gesamten Kirche ebenfalls ein auffallend großes Gewicht erhielt. Wenn beides auch nichts Ungewöhnliches im Mittelalter ist, so bezeugt es doch auch, wie wenig sich für diese Kirche ein überzeugendes, klar konturiertes Patrozinium anbot. Stets stand die projektierte Größe und Bedeutung der Kirche im Widerspruch zu dieser Unentschiedenheit.
Von dem romanischen Vorgängerbau, der 1140 begonnen wurde, findet man nur noch Fundamente am einstigen Ostchor der heutigen Kirche und etliche Reliefsteine, die unsichtbar in der Obergadenwand des Langhauses Verwendung fanden. Bereits diese Vorgeschichte aber intoniert die beiden Themen der Entfaltung des Hauses zu St. Lorenz:
Eine Bürgerschaft, die in günstiger Grenzlage und Entfernung zu lokalen Potentaten im Blick auf Rom und in enger Loyalität zum Kaiser für sich ihre Freiheit suchte, indem sie für ihre Kirche Anerkennung und Freiheit erstrebte.


1.2. Pfarrkirche: Die hochgotische Basilika und ihr Stadtteil

Dennoch können wir mit einem Bewohner jener älteren Kirche auch jetzt noch Zwiesprache halten. Haben wir die Kirche betreten und uns am unteren Ende zu einem Blick das Langhaus hinauf eingefunden, so prägt unser Empfinden für den angetroffenen Figurenschmuck die Silhouette einer Marienfigur, kraftvoll, elegant mit aufragender Krone, lächelnd, nicht nur dem schönen, aber bezähmten Schwunge nach dem Naumburger Stil ähnlich. Diese Zeugin spätstaufischer, romanischer Nostalgie entstand merkwürdigerweise zur gleichen Zeit für die alte Kirche, als man mit der neuen bereits begann. Sie allein wurde in den Neubau übernommen und fast hundert Jahre später mit drei Königen zu einer Anbetungsszene vereinigt.

Madonna mit König

Man möchte dem Stil nach fast glauben, daß sich darin der nahe böhmische König und deutsche Kaiser Karl IV. im Stile einer Marienkathedrale zur Sprache bringen will. Doch damit hätte man ein Dreivierteljahrhundert Bauzeit übersprungen, denn dem König „gehört“ stilistisch erst die auf die Mitte des 14. Jahrhunderts datierbare Westfassade.
In dieser Zeit der allmählichen Fertigstellung der hochgotischen Basilika kommen sich dann aber romanischer Adelsstolz und die spätere Marienfreude der Parlerzeit nahe. Die so übernommene Figur ist deshalb im neuen Haus „zu Hause“, wie es nur wenige seiner Plastiken sind. Sie ist dort zu Hause ,wie man in seinem neuen Hause wohnt, etwas fremd und doch bewußt heimisch. Denn die Erbauer hatten überhaupt keinen Raum im Sinn, der zum Aufhalten und Verweilen, zur Steigerung mit Figurenschmuck einlädt. Sie gestalteten den „Raumzwang“ einer mächtigen „Raumstraße“.

Die zahlreichen Runddienste der Pfeiler der acht Joche treten so sehr von der Wandung zurück, gliedern sie so streng und dezent, daß heute die dort sitzende Gemeinde vor dem entfernten Chor wie in einem zu stiller Selbstüberwindung mahnenden Vorraum ausblickt auf das bezwingend Andere des Chores, von dem man - sitzend jedenfalls - weit getrennt ist.

"Im Vergleich mit der spätstaufischen Sebalduskirche setzt sich die Neigung zu asketischer Strenge durch. Das Mittelschiff, über Arkaden wandhaft geschlossen, wird lediglich in der Gewölbezone durch kleine Obergadenfenster spärlich aufgelichtet. Die straffe Zucht des steilproportionierten Raumes und der kantige Gleichtakt der enggereihten kreuzgewölbten Joche stehen deutlich unter der Einwirkung des mystischen Zeitgeistes nach dem Vorbild der von ihm inspirierten Bettelordenskirchen." (8)

Dieser Gedanke erweist sich bei der Suche nach dem Wesen dieser Kirche als fruchtbarer, als es auf dem ersten Blick erscheint. Die Lorenzkirche liegt nicht an einer Straße oder einem Platz, sie schließt eine Straße als deren Zielpunkt ab, noch mehr: sie setzt in ihrem Inneren, ihrem Innen-“Raum“ eine Straße in veränderter Weise fort. Sie steht im Brennpunkt des ellipitischen Straßennetzes der staufischen Plansiedlung. Nicht durch Prunk, sondern durch Ernst und Größe wollte man der milden, angenehm festlichen, älteren Schwesterkirche auf dem anderen Pegnitzufer erwidern.
Die ernste Demonstration des Bettelordensgeistes ist auch eine Geste des sich bildenden Bürgerstolzes, der zur Kenntnis nahm, daß Ordensarbeit und Nachfolge Christi in den Städten, auf den Straßen bei den Menschen, in Nächstenliebe und praktischem Realismus erfolgt, dabei an theologischer Gewißheit gewinnend, die Dome der Herren beschämend. So ist gerade diese erste, so sehr in Dunkel liegende Bauzeit durch ihre ans Düstere grenzende Klarheit und Innerlichkeit zu dem festen Kern geworden, dem bescheidenen, aber ergiebigen Motiv, mit dem die Komposition einsetzt. Maria, die spätromanisch edle und die spätgotisch mütterliche, fühlt sich wohl an dieser Straße, die der Bürger als sein Leben erkannte.

Das hochgotische Langhaus

Das hochgotische Langhaus

1.3. Königskathedrale: Nürnberg-Prag


Eine repräsentative, dicht gestaltete, bannende Westfassade hat im Kathedralenbauprogramm Berechtigung, wenn ihre steinernen Massen ausgeglichen werden von der noch kühneren Glasglocke, vom Überirdischen des entfernten Chorraumes. Wir können uns heute - nachdem der monumentale östliche Hallenchor den Eindruck bestimmt - nur schwer vorstellen, wie der gegen Ende des 14. Jahrhunderts fertiggestellte Bau mit dem bescheidenen Chorabschluß die Balance zu der Westfassade hielt. Man muß aber auch sehen, daß die attraktiven, festlichen Elemente der Schmuckfassade gedämpft werden von den nur spärlich mit vertikalen Akzenten ausgestatteten, in kubischen Stockwerken sich aufrichtenden Türmen. Diese bilden mit ihren abschließenden Maßwerkumgängen für die Feuerwache ein Element bürgerlicher Zweckmäßigkeit und transparenter Bauleistung.
Und dennoch entfalten das Figurenportal mit dem weit hochgezogenen, plastisch erzählenden Tympanon, die Maßwerkgalerie darüber mit den königlichen Wappen, die einzigartig dynamisch angelegte Rosette und zuletzt darüber das reich durchbrochene Blendwerk des Ziergiebels ungezwungen, überzeugend das Fassadenprogramm der Kathedrale, verdichtet auf den zentralen Blickfang und die Eingangszone der Kirche.
Der in Frankreich aufgewachsene, von den dortigen Kathedralen und ihren Fachleuten sicherlich beeindruckte böhmische König, aus dem Geschlecht der Luxemburger, der seit 1349 endgültig als Karl IV. gewählter deutscher König ist, schuf sich am Ende einer städtischen via imperialis diese Portaldemonstration. Ein luxemburgischer König dotierte Nürnberg zuletzt vor allem mit den heilspendenden Reichsinsignien und Karl dann noch mit dem Vorrecht des ersten Reichstages aller deutschen Könige in dieser Reichsstadt. Das Reichsgesetz der Goldenen Bulle ist seither untrennbar mit Nürnberg verbunden.
Das von Touristen amüsiert aufgenommene technische Spielwerk des Männleinlaufens der sieben Kurfürsten vor dem König an der Frauenkirche am Hauptmarkt wollte über hundert Jahre später diesen Sachverhalt erneut manifestieren. In der katastrophalen Pestzeit betreibt Karl IV. die Politik abendländischer Universalität erstaunlich unbeirrt. In der Zeit, in der man Universitäten gründete, läßt dieser König an der Hauptkirche seiner geförderten Reichskapitale durch Sonne und Mond, durch Kubus und gleichseitigem Dreieck, durch Kreis und Bogen die in der Geometrie transparent gewordenen kosmische Ordnung höfisch elegant in die Grenzen einer städtischen Bürgerkirche ein. Es ist eine Arbeit der Konzentration und Harmonisierung königlicher und bürgerlicher Signale, die hier in den 50er Jahren des 14.Jahrhunderts stattfindet.

Westfassade

Die in den Bann ziehende Schauseite der Kathedrale darf sich nicht über die Türme der Bürgerkirche breiten. Es gibt auch nur ein Portal, das in den strengen. sicher und regelmäßig gegliederten Innenraum des Mittelschiffs der asketischen Basilika führt. So bleibt der nach außen in die Welt gerichtete Geist wissenschaftlicher Universalität gebunden an die weltabgewandte steinerne Innerlichkeit der Langhausarchitektur. Die Kirche bleibt im Maß der Bürgersiedlung. Die Pretiosen der Westfassade bleiben trotz Monumentalität leicht faßlich, und eine davon, die Rosette, kann heute überzeugend als Symbol eines eleganten „Weltstadtkaufhauses“ in der Nachbarschaft Verwendung finden. Sollte die kathedralenhafte Westfassade aber dennoch eine geistige Korrespondenz im Ostchor gebraucht haben? Wenn diese Funktion dem jüngeren Hallenchor zukommt, so ist dazu festzustellen, daß dieser hundert Jahre später nicht mehr die Mitwirkung königlicher Sponsoren benötigte, sondern das Werk ist der weit über die Rolle von Protegés hinausgewachsenen Bürgerschaft allein.
Der Umgang mit großen Herren hatte nämlich auch für Nürnberg zweischneidige Folgen. Die taktisch-politische Einspannung in die Kalküle des Imperators hat in Nürnberg und an dieser Kirche auch eine blutige Spur hinterlassen:
Die Handwerker waren nicht zum Rat zugelassen. Sie opponierten gegen die halbadelige königstreue patrizische Oberschicht und nutzten den Thronstreit von 1348 zum Aufstand, indem sie sich die Unterstützung des brandenburgischen Gegenkandidaten Karls sicherten. Mit Karls Hilfe wurde der Aufstand niedergeschlagen und in Nürnberg das patrizische Regiment sowie das Zunftverbot endgültig besiegelt.

"In Prag wieder angekommen, gestattete der König auf Bitte des wieder eingesetzten Rates am 16. November 1349 den Abbruch des Judenviertels, damit die Reichsstadt einen geräumigen Marktplatz schaffen könnte, und verzieh der Stadt im voraus, falls dabei die unter seinem Schutz stehenden Juden zu Schaden kommen sollten. Hatte schon der Aufrührerrat von den Juden Geld erpreßt, das der König am 28. Mai 1349 dem Burggrafen überlassen hatte, so machte dieses Privileg den Weg frei zu einem förmlichen Pogrom ... Da ... die Pest in Nürnberg erst zwei Jahre später auftrat, kann sie nicht Anlaß der Judenverfolgung gewesen sein. Der neue Rat öffnete dem Pöbel ein Ventil für seinen Unmut über den Zusammenbruch der 'Volksregierung’ ... " (9)

An der Stelle der Synagoge entsteht die Karl IV. in Stil und Botschaft gewidmete Marienkirche am Hauptmarkt. Auch an St.Lorenz tritt man an der Treppe des Nordturmes auf zu Stiegen mißbrauchte Synagogensteine.

1.4. Bürgerkirche - Patrizische Erweiterungen und Stiftungen


In der Zeit von 1385 bis 1430 werden die Außenwände der Seitenschiffe nach außen zwischen die äußeren Abschlüsse der Strebepfeiler verlagert. Gleichzeitig vergrößert man die Fenster. Aus dreibahnigen, stark architektonisch geprägten Fenstern, die wie eine lichte Bekrönung der von der Pfeilerbasis aufstrebenden Bogenarchitektur wirken - an der Tugendbrunnentüre heute noch zu sehen - werden flächig wirkende, sechsbahnige Fenster. Im Inneren ergibt dies die Möglichkeit zu Seitenschiffkapellen und Portalvorhallen mit darüberliegenden Emporen. Diese Veränderung „... trug(en) dem gesteigerten Repräsentations- und Raumbedürfnis des Patriziats, das hier einzelne Kapellen erhielt, Rechnung.“ (10)
Nimmt man beim Rundgang auf, wie diese Nischen von einzelnen Geschlechtern mit deren Stiftungen, ihren Wappen und Totentafeln gefüllt wurden und nimmt noch die aus dem 17. Jahrhundert stammenden Handwerkerstühle dazu, wo die Handwerkschaften für ihre Versorgungsempfänger Almosen erbitten durften, so verfestigt sich der Eindruck, als hätte gerade das alte Langhaus mit Beginn des 15. Jahrhunderts eine Umfunktionierung für private, weltliche Belange erfahren; als seien querliegend zur hochgotischen Spiritualität aus den Arkaden der Raumstraße hell beleuchtete Arkaden bürgerlicher Geschäfte geworden. Zu einer wesentlichen Störung der Raumwirkung kommt es, genau besehen, allerdings nicht. Das nüchtern klare Kirchenschiff wird erst viel später durch eine neugotische Kanzel beeinträchtigt.
Deuten wir also nicht zu bereitwillig die bürgerliche Geschichte des Baus als Umfunktionierung, als Bruch in der sakral-gotischen Konzeption. Und was heißt es eigentlich, wenn wir Kathedralgotik gegen Bürgerkirche stellen? Zuerst doch nur: Die Bürger trugen selbst die Verantwortung und die Last des Bauens, genauer gesagt der innere Rat, jenes Dutzend ratsfähiger Familien, die sich wechselnd die Macht und den Einfluß in der Stadtrepublik teilten. Dieser Rat legte offensichtlich großen Wert auf Begrenzung der Kosten, auf genaue Abrechnungen und Verträge mit den Auftragnehmern. Ihm gelang es, die Kirche allein aus Spenden zu finanzieren und die allgemeinen Steuern zu schonen. Dem wäre die kirchenamtliche, pastorale Kirche von Bischof oder Abt gegenüberzustellen, die im Dienst an den Gläubigen und den beherbergten Glaubenszeugnissen aus Steuergeldern der Kirche finanziert wird und die mit Hilfe von Ablässen und anderen Einwirkungsmöglichkeiten finanziell eindeutig erheblich flexibler ist.
Die marxistische Sicht der frühbürgerlichen, frühkapitalistischen Emanzipation aus kirchlichen Allmachtansprüchen in einem solchen Bauwerk sollten wir also mitdenken. Wir dürfen uns aber nicht von ihr gefangennehmen lassen, denn wenn wir von einem derartigen frühbürgerlichen Umbruch ausgehen, können wir die großen gestalterischen Leistungen der Zeit um 1500 nicht ausreichend würdigen, weil diese vor allem glänzen als Fortführung der alten Kathedralentradition. Es ist sogar schon eine Fehlhaltung, wenn wir in bürgerlicher Mentalität fragen: Wer hat das geplant, wann ist der Plan ausgeführt worden? Wie wurde dann mit dem Fertigen umgegangen? Nach unseren Vorstellungen baut man sein Haus, um anschließend darin zu wohnen. In der Nutzung hat sich der Zweck des Bauens erfüllt.
Mögen wir auch Schwierigkeiten haben mit Heideggers Vorstellung, wer nicht schon wohne, könne auch nicht bauen, so können wir trotzdem spüren, wie unsere modernen Rationalisierungen gegenüber dem Mittelalter hier irren. Eine Aussage wie die, man habe an einer Kirche dreihundert Jahre gebaut, ehe sie fertig war, will mit dem Falschen beeindrucken. Die historische Wirklichkeit ist nämlich noch viel eindrucksvoller: Indem irgendwo eine befestigte „Statt“ „gegründet“ wird, in der der Bürger Wohnung hat, wird dort auch eine Kirche „gegründet“. So wie das eine nicht einfach in jedermanns Belieben stand, sondern durch Privilegien Zug um Zug ausgestattet und erworben werden mußte, so wenig beliebig war das andere. Der Bau von Kirchen und deren Ausstattung war der beständige Nachweis, im Heilsgeschehen der einen ganzen Kirche einen nicht austauschbaren Platz einzunehmen, an der einen Kirche mitzubauen. Sagen wir nicht, der Bau und seine Ausstattung hätten einer Verehrung gedient, die man auch anders hätte zeigen können, um so Objektivation und bürgerliche Subjektivität auseinanderzureißen. Daß die Bürgerschaft wohnt, heißt, daß sie an der Kirche baut. Nur indem sie daran baut, rechtfertigt sie ihre Stadt, insofern das Gelingen des Hauses fortwährend die Wohnung in diesem christlich verstandenen Diesseits bezeugt. Man kann das Bauen nicht einfach für eine gewisse Zeit lassen. Man würde dann das Wohnen aufgeben und zu jenen Heiden (lehnübersetzt von paganus) absinken, die wohl irgendwo ein Bleiben haben, aber nicht Wohnung. Dem Bürger bedeutete seine Stadt die Gewißheit der Teilnahme an den irdischen Möglichkeiten des Heils. Der spirituelle und materielle Ertrag der Unternehmungen des Bürgers, der Geschäfte und der Pilgerfahrten, floß deshalb so oder so in die Kirche der Vaterstadt. Bettler und Patrizier, alle die in der Ordnung dieser Stadt wohnten, alle Schichten haben nachweislich diese Kirche finanziert. „Zu St. Lorenz zu wohnen“, kann für jene Zeit also so wörtlich genommen werden, wie es heute nicht mehr gehört wird, wenn wir von dem Stadtteil sprechen.
Noch vor Fertigstellung der östlichen Teile des Langhauses, muß die Entscheidung gefallen sein zur Seitenschifferweiterung, wie die Maueranschlüsse dort zeigen. Der Bürger richtet sich nun bauend immer persönlicher, privater (Privatgottesdienste?) in seiner Kirche ein. Die Zugehörigkeit zur Stadt wird offenbar wie die Glaubensgewißheit überhaupt in dieser Epoche intensiviert, vielleicht schon problematischer, der Drang nach greifbaren, unübersehbaren Zeugnissen wird stärker.
Nie verliert der Bürger dabei aber die Proportionen aus den Augen. Seine Wappen und Selbstbildnisse überflügeln nicht die Heiligen und ihre Symbole, sie lenken ernsthaft keine Sekunde vom Gekreuzigten auf dem Triumphbogen ab. In Adam Krafts Selbstbildnis als gebückter Träger des Sakramentshäuschens kann sogar ein wenig Selbstironie liegen. Die ganz kleine, kniende Dame in Nonnentracht aus dem Hause Haller am rechten Predellenflügel des Gottliebaltars soll Ausruck gestiegenen bürgerlichen Selbstbewußtseins sein? Alle Bilder und Bildnisse sind und bleiben nichts anderes als die Reliquien: Zeugnisse der Kirche als christlicher Wohnstatt!

„Die ‘Erfindung’ der Wandelaltäre ist genetisch eine Weiterentwicklung mittelalterlicher Realitätsvorstellungen. Im hohen Mittelalter wurden (weitgehend ohne ‘Erläuterung’ durch Bilder) die Heiligen in ihren Reliquien auf den Altären als tatsächlich anwesend gedacht. Zeitgenössische Schriften bezeichnen die Altäre als ‘lumina’, als Lichter, die Bilder der Heiligen erschienen überwirklich ‘selbstleuchtend’ in den Glasfenstern. Der mit Bildern ‘illustrierte’ Flügelaltar bedeutet dagegen eine Abschwächung dieses Prinzips in Richtung auf eine bildlich ‘dargestellte’ Realität. Die Tafelgemälde sind ‘objektiv’ auf den Betrachter und seine Wahrnehmung bezogene Abbi1dungen ... Um bei dieser dieseitigeren Bildauffassung aber dennoch etwas von der ursprünglich ‘überwirklichen’ Realität der Heiligen zu erhalten, die sie in Reliquiar und Glasfenster besaßen, wird der Altar nun die meisten Tage verschlossen gehalten, um so ihre Erscheinung an den Festtagen um so realer empfinden zu lassen.“ (11)

Die Gemeinde zu St.Lorenz dürfte den Mangel an zugkräftigen, hochrangigen Reliquien sehr schmerzlich empfunden haben, steht damit doch in Frage, ob hier eine bedeutende christlicheWohnstatt ist oder nicht - und dies in der Stadt der ersten Reichstage eines jeden deutschen Königs und römischen Kaisers.
Die fünfzehn Altäre in St.Lorenz und die Altäre in der Hornschen Annakapelle sowie in der Kunigundenkapelle, die von den circa dreißig Lorenzer geistlichen Pfründnern versorgt wurden, indem z.B. täglich in St.Lorenz sieben Messen abgehalten wurden, scheinen durch Masse ein wenig von diesem Mangel ausgleichen zu wollen. (12) Auch die Unruhe, derzufolge manche Altäre einfach nicht ihren endgültigen Platz finden wollen, deutet in diese Richtung. Die Heiltümer des Reiches, die Reichsinsignien, konnten in der Kirche sicherheitstechnisch nicht aufbewahrt werden, sie waren politisch zu brisant. Durch militärische Unterstützung Ludwigs des Bayern, der von Rom gebannt war, entreißt man dem Kloster Herrieden bei Ansbach die Gebeine des Heiligen Gottlieb, des Beichtvaters Karls des Großen; Teile der heiligen Überreste kommen nun in einen kostbaren Schrein, der ab 1406 den Mittelpunkt eines neu geschaffenen, großen Deocarusaltars bildet, für den sich in der Kirche aber wieder einfach kein überzeugender Platz anbietet. Beinahe wäre durch solche Stifterüberaktivität wirklich die bürgerlich-plurale Musealität entstanden, die die Kunstgenießer des 19. Jahrhunderts in dieser „Weihnachtskirche“, die so voll ist mit leuchtenden Gaben, so beeindruckte. Die Bedeutung dieser Kirche liegt aber doch gerade in der noch einmal genial gelungenen Integration von bürgerlicher Vielfalt und universal-theologischem Kirchenbauprogramm. Der 1438 begonnene spätgotische Hallenchor ist Nürnbergs Antwort auf die defizitären spirituellen Kirchenbaubedingungen einer abseits der großen Dome neu gegründeten bürgerlichen Stadt. Hier zeigt sich, wie der Bürger eine kühnere Bausymbolik entwickelt und einen neuen Abschnitt des Kirchenbaus einleitet, der über die Reformation eigentlich hinausweist.


1.5. Spätgotischer Hallenchor: Eine Reichs- und Weltstadt erschafft sich ihr
Kirchensymbol


Die vielfältig sich gliedernde Realität war im Mittelalter hierarchisch geordnet. Historische, soziale, physikalische und theologische Wissens- und Erfahrungsbestände wurden bestimmt durch ihren Platz in der Bewegung von Gott her zu Gott hin, und zwar innerhalb der Schöpfungsordnung in einer von unten nach oben reichenden Kette und innerhalb der Geschichte als Wanderung vom Sündenfall zur Überwindung der Welt am jüngsten Tag. Die Kathedrale ist das Symbol dieser Welt.
In den Rippengewölben, in den Chören der Hochaltäre und in den Farbverglasungen müssen wir dabei die eigentlichen, letztgültigen Lösungen einer solchen Versinnlichung des Unsichtbaren, des die Fassungskraft Übersteigenden sehen. Diese Elemente erzeugen im Gegensatz zu den faßlichen, literarischen Symbolen Portal, Mauer, Pfeiler, Altar nicht den Eindruck manifester Gegenwart, sondern den Schein unendlicher Offenheit. So wie die Farbfenster täglich anders sprechen und die entrückten Handlungen der Geistlichen im Chor täglich neu dem Wunder der Fleischwerdung Christi gewidmet sind, so entziehen sich die Gewölbe durch ihre Gitterhaftigkeit der Eindeutigkeit. Einesteils sind sie Dach und Decke, das heißt sie begrenzen, bergen und schützen, andererseits sind sie in der Ferne und durch undurchschaubare Überfunktionalität derart entrückt, daß sie wie das Himmelszelt nicht wirklich ein Zelt sind, sondern Vision, optischer Schein, Geist. Bezieht man in diese Spekulation das Klima mit ein, denkt man an die Kälte im Winter und an die sich bald bei Nachlässigkeit in den Reparaturarbeiten sich einstellenden Vögel als Teilnehmer am Kirchenkonzert, so wird noch deutlicher, daß man sich in der Kathedrale in gewisser Weise weder unter freiem Himmel noch in einem gedeckten Raum befand.
Andere, herkömmliche Unendlichkeitssymbole wie ein Labyrinth im Eingangsbereich, die Gold- und Juwelenfarben mußten noch als abbildende, in gewisser Weise arbiträre Zeichen innerhalb einer Deutungskonvention auf den Glaubensinhalt bezogen werden. Erst der ästhetische Schein der Gewölbe konnte anschauend ohne mythische Deutungshilfen in eine Bewegung ziehen, die dem inneren Geschehen des Glaubens auch strukturell entsprach:
Wird der Glaube zum Wissen, ist er keiner mehr, da er dem Zweifel ausgesetzt ist, andererseits begegnet er als höchste Form des Wissens, die den Zweifel überwunden hat, nur in Gestalt von Wissensaussagen. Die Gewölbe zeigen entsprechend den unendlichen Himmel, behaupten Unendlichkeit, dementieren diesen Zeicheninhalt sogleich wieder als waghalsig gebautes steinernes Deckenzelt, setzen sich durch ihre Erhabenheit und Grazie erneut als Zeichen, und so fort in einem unendlichen Deutungsprozeß, der nicht unähnlich ist der späteren romantischen Idee des Kunstwerks. Der endlose Konstitutionsprozeß des Symbols befreit das Symbol aus unbefriedigender Zweideutigkeit: Es heißt dann nicht: Wir sehen zwar dieses, es bedeutet aber jenes. Hier „bedeutet“ es weder bloß jenes, noch „ist“ es bloß dieses. Erst die Hin-und Herbewegung zwischen beiden Sichtweisen gewährt die intendierte Erfahrung der vom Symbol gemeinten Unendlichkeit, zeigt uns Leben im Glauben, der weiß, was man nicht wissen kann, sieht, was man nicht sehen kann.
Abt Suger von Saint Denis, der geistige Vordenker des gotischen Stils, seiner Strebearchitektur und seiner Lichtmetaphysik, nannte dieses Hinübergleiten in den symbolisch evozierten Sinn „anagogisch“, hinaufziehend. Er sieht, daß ich mich durch Materielles, durch gezielte Ästhetik, soweit aus der Versunkenheit erheben kann, daß die Gnade Gottes mich aufnehmen und verwandeln kann, um mich „anagogisch“ „in jene höhere Welt“ zu versetzen. (13) Der Begriff stammt aus der Sphäre der Textinterpretation und Textmeditation. Das Unterlegen eines überraschenden, höheren Sinnes führt so wirksam hinauf, daß die bedeutende Wirkung über die Skrupel vor dem manipulativen, spekulativen Absprung triumphiert.
Trotzdem ist dieser Erfolg der Kunst auch zutiefst problematisch und Suger definiert spürbar auch aus begründeten Zweifeln heraus sehr subtil. Die göttliche Unendlichkeit ist nicht negativ von der menschlichen Vorstellung eines Prozesses „ohne Ende“ her zu verstehen. Ewigkeit kann so weder begriffen, noch nachgeahmt werden. Die Seele des Betrachters darf sie höchstens, durch solche Gestaltung in Bewegung versetzt, gedanklich und emotional „ahnen“. Das bleibt eine ästhetische Manipulation, wie berechtigt oder angemessen sie auch immer sein mag. Es wird eben doch künstlerisch die Kommensurabilität, die Vergleichbarkeit eines Unvergleichlichen versucht, ein Umstand, den Rilke in seinem Gotik-Sonett tragisch sieht, vielleicht auch anprangert:

Gott im Mittelalter

Und Sie hatten Ihn in sich erspart,
und sie wollten, daß er sei und richte,
und sie hängten schließlich wie Gewichte
(zu verhindern seine Himmelfahrt)

an ihn ihrer großen Kathedralen
Last und Masse. Und er sollte nur
über seine grenzenlosen Zahlen
zeigend kreisen und wie eine Uhr

Zeichen geben ihrem Tun und Tagwerk.
Aber plötzlich kam er ganz in Gang,
und die Leute der entsetzten Stadt

ließen ihn, vor seiner Stimme bang,
weitergehn mit ausgehängtem Schlagwerk
und entflohn vor seinem Zifferblatt. (14)

Die fragile Gratwanderung enthält eben beides, Hochgestimmtheit, Hochmut, die Freiheitserfahrung des Evangeliums einerseits und die Bedrückung durch Zweifel andererseits, Bedrückung obendrein durch eine auf diese Weise ins Unermeßliche gesteigerte autoritäre Hierarchisierung, von der die Kirche ganz handfest profitierte. Die spätmittelalterlichen Frömmigkeitsauswüchse sind gläubige, nicht abergläubische, anrührende, nicht verwerfliche Beispiele von Menschen, die sich durch ihre Werke dem Absoluten annähern wollten.
Dem Stadtbürgertum, das rational, sparsam, nüchtern und in begrenzt egalisierender Tendenz den Menschen zwar als Teil einer ständisch gegliederten Gemeinschaft begriff, ihn aber dennoch in seiner vergleichbaren Bedürftigkeit scharf ins Auge faßte, mußte eine solche Kühnheit noch am ehesten als gefährlich nahe der Blasphemie erscheinen.
Und so ist im Zusammenhang mit dem herrlich überwölbten Hallenchor auch von einer anderen weniger ästhetisch-symbolischen als praktischen stilbildenden Kraft zu sprechen, die eigentlich revolutionäre, in die geschichtliche Zukunft weisende Bauidee. Es ist nicht so, daß der Lorenzer Hallenchor als stilistischer Umbruch ins Auge springt. Aber immerhin vermittelt die Gestalt des dreischiffigen Hallenchors bereits Breite und Räumlichkeit. Man hat dies als Ausdruck des Versammlungsbedürfnisses der zahlenmäßig angewachsenen Bürgerschaft gedeutet. Damit würden also die Bürger gewissermaßen durch ihr Versammeln eine ganz ungotische Mitte in sich selbst zum Ausdruck bringen. Aus dem unendlichen Weg wird ein umgrenzter Raum. Die Hochgotik erfand ebenso Räume und Raumempfindungen, allerdings Räume, die überbrückt werden mußten, überstiegen. Nun, da die Schiffe gleich hoch sind und aus den schlanken Säulen erst ganz zuletzt in vielen Strängen ein flaches, dichtes Netz von Rippen sich entbindet, entsteht ein Raum, der gefüllt werden muß. Schon das widerspricht der Gotik. Durch das Füllen dieses Raumes, wie es vierzig Jahre nach seiner Vollendung (1477) geschieht, ist die gotische Bauidee dann sogar genial überwunden und zugleich gefeiert.
Kein Hochaltar, kein Reliquienschrein, überhaupt kein Bildnis kann diesen Raum füllen, wie es der schwebende Engelsgruß dann leistet. Im Genie von Veit Stoß entsteht die Vision, er dürfe in diesen Raum nicht, wie es der Auftrag vorsieht, ein bloßes Marienbild anbringen. Er hängt eine dramatische Szene in die Raummitte, die der Empfängnis Mariä gewidmet ist, einem extrem menschlich anrührenden und zugleich extrem geistlichen Geschehen. Es ist ein Bild für Verkündigung, für das wirkende Wort. Die großen, menschlich-vollplastischen Figuren dieser Handlung wenden sich nicht völlig einander zu. Umso mehr dringt zu Maria, vor ihr inneres Auge, das Wort, dargestellt in einer sich auflösenden Spruchrolle, die sich zum Ohr Mariens neigt.

„Der Engel, es ist Gabriel, schreitet auf Maria zu. Als Vertreter Gottes trägt er das Priestergewand. Er ist, wie ein echter .Bote, nichts als ‘der Mund des Sendenden’. Blick und Geste sagen davon, daß er die Worte der Botschaft eben erst empfängt. Er gibt sie sogleich weiter. Die Linke trägt das Spruchband mit dem Botenwort; Ave Maria ... Es ist das Gebet, das die Gläubigen mit jeder Perle des Rosenkranzes aufnahmen. So drang die Botschaft durch Auge und Ohr in sie ein.“ (15)

Damit erreicht das Bauen und Ausstatten der Kirche ein vorläufiges Ende. In der Mitte der bürgerlichen Hallenkirche schwebt ein Sinnbild der tatsächlichen irdischen Unverfügbarkeit des Wirkens Gottes. Mit Maria kann sich jetzt aber umgekehrt auch jeder Bürger als potentielle Wohnung Gottes verstehen. Ist also diese Kirche nur noch ein Gotteshaus insofern diese Bürger sich selbst als potentielles Gotteshaus sehen und sich versammeln?
Am genauso berühmten Sakramentshäuschen wird dann erstmals auch sichtbar, daß der Schmuck sich nicht mehr dem Ausstattungssystem der Kirchentotale unterordnen will. Und noch unbekümmerter bauten dann noch spätere Zeiten an der Kirche in dieser neuen Freiheit. Das zeigt jeden Besucher besonders drastisch das frühbarocke Grabesmonument einer Markgräfin im südlichen Hallenchor. Solche Stilbrüche sind nun möglich, wenn die Stadtväter ihre Kirche nicht mehr als ein ganzes, als gelehrte Nachahmung der Kunst des Schöpfers sehen, sondern als für Menschen geschaffenen Raum der Begegnung mit Gott.
Daß dieser Umbruch aber auch in dialektischen Übersteigerungen des alten Stils vor sich gehen konnte, zeigt das eben genannte, fast gleichzeitig mit dem Engelsgruß entstandene Sakramentshäuschen von Adam Kraft (16) ganz in der Nähe.

„Das Werk übt eine magische Anziehungskraft aus: In zartestem Filigran - ist das noch Stein? - schießt es dennoch kraftvoll den Pfeiler hoch, an den es angelehnt steht. Hier ist alles Steigerung, scheinbar alles Jubel! Der Blick gleitet an den köstlichen Einzelheiten vorbei: ein gleichsam tanzender Meißel schien hier am Werk gewesen zu sein! Und doch zieht es das Auge unwiderstehlich empor, bis es in der schneckenähnlichen Krümmung der letzten Fiale haften bleibt: Es ist, als wenn der gotische Höhenschwung, sich selbst übersteigend, in sich zurücksänke. Ein Ende ist erreicht.“ (17)

Außerhalb der zentralen Optik, an einem Pfeiler, rankt das Sakramentshäuschen sich erstaunlich halt- und bezugslos empor, um an seiner Spitze sich biegen zu müssen, gewissermaßen die Gewölbe durchbrechen wollend. Noch einmal zeigt die Gotik ihre ganze Fülle und transzendierende Widersprüchlichkeit. Die Passion Christi ist das Thema dieses stattlichen Meisterwerks, die Grenzenlosigkeit des Geschehens monumental festhaltend, den Sieg der Auferstehung. Aber sollte nicht die ganze Kirche dieses Heilsgeschehen zeigen? Merkwürdig ist es schon, daß eine Miniaturkathedrale in der Kathedrale an einem Seitenschiffpfeiler deren Bauidee konzentriert aufgreifen darf, um diese so der Reflexion zuzuführen. Otto von Simsons Bestimmung von Gotik ,in welcher im Gegensatz zur Romanik der Schmuck ganz dem System untergeordnet sei (18), ist damit zuletzt schon außer Kraft gesetzt.
Wie schon angedeutet, bedeutet das aber nicht das Ende des Bauens an dieser Kirche. Vielfältig geschieht es sogar heute noch. Das niemals abreißende Restaurieren unserer Tage ist ein genuiner Bau-Beitrag unserer Epoche, zwar nicht architektonisch, aber doch sozial-kommunikativ bedeutsam. Über Restaurierung und Forschung führen organisierte Bürger ihr aktuelles Zwiegespräch mit dem Gebäude. Das berührt sich mit dem Konzept einer bürgeroffenen Kirche (19), deren Gemeindeleben auch davon Impulse erhält. Und vergessen wir zum Beispiel auch nicht, wie die Kirche in schlechten Jahren, in einer handwerklich und menschlich großartigen Leistung nicht bloß konservatorisch, sondern in geistiger Besinnung und Neuorientierung nach den Zerstörungen des Krieges bis 1952 wieder aufgebaut wurde. (20)

1) Nipkow Karl Ernst, Evangelisches Erziehungsverständnis und Evangelische Schulen. in Korrespondenzblatt Evangelischer Schulen und Heime, Bielefeld 1985, 5.39f

2) Vgl. z.B. Dietz Otto, Die St.Lorenzkirche zu Nürnberg, Nürnberg o.J. 1940? Und
Lutze E., Die Nürnberger Pfarrkirchen St. Sebald und St.Lorenz, Berlin 1939 und
Schulze 0., Der Chorbau von St.Lorenz zu Nürnberg. und seine Baumeister,
in Zs.d.Dtsch.Ver. f. Kunstwissenschaft Bd.10 (1943), H. 1/2

3) Vgl. z.B. Schulz Wolfgang, Unterricht - Analyse und Planung, in Heimann, Otto, Schulz, Unterricht, Analyse und Planung, Hannover 1965, S. 13-47, 5. 28ff

4) Vgl. Stolz Georg, 750 Jahre St.Lorenz Nürnberg, Kirche auf festem Grund, in Verein zur Erhaltung der St.Lorenzkirehe in Nürnberg, Heft 30, 1985, 5. 3-35, 5. 3ff

5) Der große Freiheitsbrief von 1219, in Nürnberger Urkundenbuch, bearb. v. Stadtarchiv Nürnberg, Nürnberg 1959

6) Grießhammer, Grebe, Modell Bürgerkirche, Bau und Ausstattung der Lorenzkirche in Nürnberg, Nürnberg 1978, S. 2f

7) Vgl. Haas Walter, Der heilige Stephan in der Nürnberger Lorenzkirche, in Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg, 51, 1952, S. 433-440, S. 437

8) Eichhorn Ernst, Die St.-Lorenz-Kirche in Nürnberg, Nürnberg 1960, S. 2f

9) Schultheiss W., Der Handwerkeraufstand 1348/49, in Pfeiffer Gerhard (Hg), Nürnberg - Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971, S. 73-75, S.74f

10) Grießhammer u.a., Modell Bürgerkirche, S. 10

11) A.a.0., S. 27f

12) Vgl. Bauer Herbert, Zwischen Andrang und Entfremdung, Der Lorenzer Hallenchor und die Erfahrung der Gemeinde, in Bauer u.a. (Hg), 500 Jahre Hallenchor St.Lorenz zu Nürnberg 1477-1977, Nürnberg 1977, 5. 22-40

13) Vgl. Assunto Rosario, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1982, S. 194

14) Rilke Rainer Maria, Der ausgewählten Gedichte erster Teil, Wiesbaden 1951

15) Blendinger Christian, Advent, Engelsgruß des Veit Stoß, 1518, in Kunstwerke zur Sprache gebracht,
Heft 1, Verein zur Erhaltung der St.Lorenzkirche, Nr 22, 1979

16) Vgl. St.Lorenz, Ecce Panis Angelorum, Das Sakramentshaus des Adam Kraft, Verein zur Erhaltung der St.Lorenzkirche in Nürnberg, 1994

17) Blendinger Christian, Engelsgruß des Veit Stoß, 1518

18) Vgl. Simson Otto v., Die gotische Kathedrale, Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung, Darmstadt, 1968, S. 16

19) Vgl. u.a. Bauer Herbert, Zwischen Andrang und Entfremdung

20) Vgl. St.Lorenz, Erkennen, Erhalten, Erneuern, Julius Lincke 70 Jahre, Verein zur Erhaltung der St.Lorenzkirche in Nürnberg, 1979



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