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0. Vorbemerkungen zum Umfeld dieser Studie:

0.1. Anstöße zur Idee der „Lehrkunstdidaktik“


Die Didaktik hat sich als Wissenschaft vom Unterricht, als analytische Erfahrungswissenschaft, ja sogar in geisteswissenschaftlicher Reflexion und kritischer Intention ausgerechnet einem ihrer wirkungsvollsten gedanklichen Brennpunkte mehr und mehr entfremdet, dem Begriff der Bildung des Menschen. Spätestens seit dem Heidelberger Allgemeinbildungs-Kongreß (1986), ist aber der lange als zu diffus, zu elitär, zu abstrakt verurteilte Bildungsbegriff von der deutschen Unterrichtswissenschaft wieder „heimgeholt“ worden, wie u.a. Hans Christoph Berg befriedigt feststellt.
Und doch stellt Bergs eigenes Konzept einer „Lehrkunst“-Didaktik in dieser begrüßenswerten Situation schon wieder eine Mahnung dar. Berg mahnt nämlich an, dabei nicht doch wieder zu kurz zu springen: Wir dürfen uns aus dem Bildungsgedanken nicht die bequem in die Zeit übersetzbaren Aspekte aussuchen, sondern sollten die Didaktik aus dem vollen Bildungsbegriff ihrer Tradition leben lassen. Berg erinnert an Lennerts „200-jähriges“ „Drama der Bildungsworte“: „Bildung war Religion. Bildung war Natur. Bildung war Kunst.“(1)
Didaktik hat fortwährend mit einem In- und Gegeneinander der drei Phänomene Erziehung, Bildung, Unterricht zu tun. Diese behaupten jeweils ihr relatives Eigenrecht gegenüber konzeptionell einseitigen Betonungen von nur einer der drei Wirklichkeiten, denn im Unterrichtsgeschehen verschmelzen die Komponenten des Erziehens, Sich-Bildens und schulischen Lernens und sie suchen beständig ihr rechtes Verhältnis zueinander herzustellen. Im Hinblick auf Konzepte der Unterrichtserneuerung ist es deshalb ein Ärgernis, wenn sich aus der Erziehungslehre soziologisch oder psychologisch inspirierte Ansätze als Hauptanliegen in den Vordergrund rücken, wenn zum Beispiel die Bedeutung des sozialen Miteinanders den thematischen Aspekt des Unterrichts überwuchert. Diesen Anschein können einige der neuen radikalkritischen, unterrichtsskeptischen Bestrebungen der Didaktik erwecken, indem sie institutionalisierte Schule tendenziell verlassen und überspielen. Gegen solche Einseitigkeit wendet sich Lehrkunst-Didaktik. Sie würdigt Lehrgegenstand, Bildungsgut und Bildungsziel, aber in unterrichtlicher Konkretion, um darin notwendigerweise soziales und praktisches Lernen eingeschlossen zu sehen.
Die traditionelle, anthropologisch fundierte Bildungsdidaktik hat auf der anderen Seite offensichtlich zu wenig Wirksamkeit in den Unterricht hinein entfaltet. Theodor Schulze hat von Seiten der Bergschen Lehrkunstdidaktik zum Beispiel Wolfgang Klafki vorgeworfen, er habe seine Kategorien der wechselseitigen Weltaneignung und Subjekterschließung durch Unterricht noch nicht überzeugend praktisch darlegen können, da der Anspruch zu hoch gesteckt sei. (2) Dabei betrifft die Kritik also weniger die theoretischen Klärungen Klafkis als sein zu hoch angesetztes Programm. Die würdigste Aufgabe der Didaktik bleibt es eben doch nach wie vor, Kompetenz zu entwickeln im Aufweis von bildenden Themen und Lehrstoffen, die aus autonom didaktisch verantworteten Gründen wert sind, unterrichtet zu werden. Deshalb nimmt Hans Christoph Bergs Lehrkunst-Ansatz hier eine vermittelnde Stellung ein. (3) Dieser will Bildungsdidaktik sein, sich aber vornehmlich der Pflege des Unterrichts widmen.
„Lehrkunst“ dürfte für nicht wenige Ohren elitär klingen. Richtig ist: Der Begriff will einerseits wirklich Mut machen zum Qualitätsanspruch. In der Hauptsache ist er aber sachlich in der Analogie zur Institution „Kunst“ begründet. Wer in dieser Institution und nach ihren Regeln sein Brot verdient, ist Künstler, genauer: wirkt am Ganzen der Kunst mit, egal ob als Altmeister oder Lehrling.
Entstanden ist der aktuelle Begriff der Lehrkunst erstens aus der Wiederaufnahme der von Johann Amos Comenius 1657 geprägten Übersetzung von „Didaktik“ ins Deutsche, welche bis in unser Jahrhundert hinein in Gebrauch war, aber immer blasser und schemenhafter wurde, angesichts der Erschütterung von scheinbar allen Sicherheiten, was eine solche Kunst ausmachen könnte, etwa in der Auseinandersetzung der Reformpädagogen mit der Regelschule zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.
Zum zweiten nötigten Hans Christoph Berg die klaren, wie ein Verjüngungselixier oder eine wohltuende Umkehrpredigt wirkenden Unterrichtsdichtungen des Physikdidaktikers und Reformpädagogen Martin Wagenschein zu dem Urteil: „Es gibt sie doch noch, Lehrkunst“.
Der eigentliche Wert dieser Wiederbelebung erweist sich drittens dann aber im Disput darüber, ob für die Didaktik die Unterrichtslehre oder die Curriculumdiskussion, ob die Methodenlehre oder die Bildungstheorie den Vorrang habe beziehungsweise wie andernfalls diese überzeugend zu verbinden seien. Der Lehrkunstansatz sagt nämlich: Beides zugleich! Diskutiert Allgemeindidaktik immer am Unterrichtsbeispiel!
Dazu wäre ein entsprechender Fundus an erprobten, gediegenen Unterrichtsbeispielen nützlich. Nun wird zwar täglich millionenfach unterrichtet, das aber fällt dem Vergessen anheim. Auf der anderen Seite gibt es Stundenbilder, Unterrichtsentwürfe samt Tafelbild und Kopiervorlage, nur lassen diese den Durchblick auf die Konzeption der didaktischen Griffe des Unterrichts nur selten zu, stellen also bestenfalls brauchbare Unterrichtsanstöße dar, weniger wirkliche und wirksame Unterrichtsberichte. Ebenso fehlt es in diesen Fällen meist an der umsichtigen allgemeindidaktischen Durchdringung.
„Lehrkunst“ ist also zum einen die im einzelnen „Lehrstück“ konkretisierte Kunst und zum anderen die theoretisch-praktische Beförderung der Disziplin, der ganzen Lehr-Kunst. Ein viertes Motiv für den Lehrkunstansatz, nicht das unwichtigste, stellt nun die Entdeckung klassischer Unterrichtssequenzen dar, zum großen Teil vermittelt über Wagenschein. Diese können helfen, Unterricht, über die Scheuklappen des institutionalisierten Schullebens hinaussehend, wieder aus alten „Quellen der Lehrkunst“ zu schöpfen.

„Eine Geschichte der Unterrichtsstoffe könnte auch für Didaktiker und Unterrichtswissenschaftler ähnlich hilfreich sein wie die Geschichte der Dichtungsstoffe für Literaten und Literaturwissenschaftler. So wie man in der Literatur den zweitausendjährigen Entwicklungsgang beispielsweise des Amphitryonstoffes von Sophokles bis zu seiner 38. Fassung durch Giraudoux überblicken und dann als Dichter und Regisseur weiterführen kann, so sollte man in der Didaktik den Entwicklungsgang des Pythagorasstoffes von Euklid bis hin zu Wagenschein überblicken und weiterführen können. Solch ein Überblick über ein paar Dutzend jahrhundertelang perennierender Unterrichtsstoffe und ihre Gestaltung in den paar Dutzend Schulen unserer pädagogischen Klassiker würde die Bildungsdidakik zweifach fördern: Erstens gewönnen wir ein gesundes Corpus Didacticum, eine Sammlung von Lehrwerken - hoffentlich Lehrmeisterwerken -, an denen die Didaktik die "Regeln der Lehrkunst" (vgl. Herbart 1809; Willmann 1898 ...) in ähnlicher Weise ausarbeiten könnte wie die Ästhetik ihre Regeln an den Kunstwerken. Zweitens würde der autonome Gang der Didaktik ersichtlicher und kulturdirigistische Übergriffe kenntlicher.“ (4)

Lehrer könnten also solche Lehrstücke gewissermaßen zur Arbeit aus einem Lehrkunst-Archiv holen oder auch solche Stücke wie in einem Museum betrachten. In der Lehrwerkstatt kann dann den Meistern gefolgt werden, oder es entstehen zeitgemäße, begründete Adaptionen. Es geht also nicht nur um die Anregung durch die Vorlage, um das brauchbare Detail. Es geht um das Ganze eines „Lehrstücks“. Dieses „bewahrt“ man am besten, wenn man zum Beispiel zunächst den ganzen Gang von Faradays Vorlesungen und Demonstrationen zur Kerze „nachspielt“. Und wirklich! Was im Kopf bloß vorgestellt noch unscheinbar wirkte, ist in der Unterrichtspraxis nachgestellt auf einmal eine überraschende Quelle didaktischer Phantasie!
Heute ist aber den Vertretern des Lehrkunstansatzes auch klar geworden, daß man zuviel an Möglichkeiten vergeben würde, ließe man es nicht zu, daß Lehrstücke zunächst auch sozusagen „ganz neu“ komponiert werden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Exempeln aus der Marburger Lehrkunstwerkstatt Hans Christoph Bergs ist auch im Falle des hier vorgestellten Kirchenunterrichts der Weg zu den Quellen mangels kompakter Vorlagen dieser Art (noch) nicht gegangen worden. Vermutlich lägen die Quellen hier in vielen unerkannten Menschen, die täglich irgendwo ihre persönliche „Kunst“ der Kirchenführung pflegen. Nur schreiben diese in der Regel nicht ihre Lehrstücke.
Die Kunst gedeiht nur in Freiheit. Freiheit zeigt sich einmal in einsichtiger Bestätigung herrschender Regeln und zeigt sich dann auch wieder in Kühnheit und Anstößigkeit. Lehrkunst ist solide und konservativ im beharrlichen Insistieren auf dem Erprobten, auf ausgewiesenen Unterrichtsprinzipien usw., trotzdem ist ihr Angebot an Lehrstücken vor allem aber ihr Argumentations-, ja Denkstil auch kühn und für manche auch anstößig.
Einleuchtend und tolerabel ist für viele Didaktiker vermutlich die Vorstellung, Didaktik und Unterrichtskultur aus ihrem engen Miteinander heraus zu entwickeln. Dies ist auch nicht neu. Der deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen hat 1964 in seinen Empfehlungen Unterrichtsbeispiele miteinander konfrontiert, z.B. Unterrichtssequenzen zur Russischen Revolution, aber er hat sie doch nicht aufeinander bezogen. (5) Jetzt wird diese Zusammenschau von Hans Christoph Berg aber dezidiert zur Kardinalmethode der Entwicklung von Didaktik und Unterrichtsentwicklung gemacht. (6)
Eine andere Entscheidung von Berg ist offensichtlich viel gewöhnungsbedürftiger. Es ist die Entscheidung, Modelle der Didaktik nicht aus der Sprache und den Theoremen der Technik, der Naturwissenschaft, der Psychologie oder auch der hermeneutischen Geisteswissenschaft zu gewinnen, sondern aus der Kunstwissenschaft, vor allem aus der Analogie zu Drama und Theater. Gottfried Hausmann ist dem schon einmal intensiv nachgegangen. Auch er sah sich veranlaßt, den Gebrauch der Kunst-Analogien sorgsam zu verteidigen.
Dabei ist gängiges Didaktik-Vokabular ja nicht weniger bildhaft. Die zum Beispiel organisationstheoretische Herkunft der Bilder ist in der gewohnten technizistischen Kultur nur weniger fragwürdig. Es waren und sind beispielsweise Unterrichtsplanung, Stoffverteilung, Lernzielorientierung selbstredende, selbstverständliche Konzepte. Begriffe wie Fabel, Exposition, Situation, Szene werden als Begriffe der Unterrichtsanalyse dagegen als randständig, illustrativ oder abwegig empfunden. Hausmann betonte daher, daß der heuristische Nutzen von solchen bildlichen Analogien lange bekannt sei, daß seit Lessing das Hin- und Hervergleichen, das Prüfen des Vergleichs als Intelligenzschulung gilt. Zu erinnern sei da auch an Comenius, der davon ohne Hemmung Gebrauch machte, Goethe habe dann die Notwendigkeit einer „allgemeinen Vergleichungslehre“ erkannt, da unerfahrener, unkritischer Gebrauch des Erkennens durch Analogien gefährlich sei. (7)
Ganz besonders bedeutsam erscheint aber Hausmanns aus dem Durchgang durch die Geschichte der Didaktikwissenschaft gewonnene Einsicht. daß oft gerade die bildhaften, der Definition wenig zugänglichen Begriffe - wie zum Beispiel der Begriff der „Begegnung“ - sehr fruchtbar wurden, die Diskussion eine Zeitlang bestimmten, weil diese geeignet waren, das Zentrum des Unterrichtsgeschehens wachzurufen. Auf der anderen Seite stellen wir immer wieder fest, daß engere, logisch abstrakt bestimmte, konstruierte Begriffe der Lern- und Unterrichtswirklichkeit gegenüber steril bleiben. Hausmann hat nun die Kategorien der Dichtungswissenschaft, die sich ja Berührungsängste gegenüber bildhafter Sprache noch weniger leisten kann und will, für die Didaktikwissenschaft nutzbar machen wollen und sprach von der „Dramaturgie des Unterrichts“.
Berg greift das auf, seine praktischen Perspektiven führen hier aber zu einer bedeutsamen Erweiterung, zum Blick auf das Unterrichts-Drama. Es wird also Unterrichten nicht nur dramaturgisch begriffen, analysiert, der Unterricht wird auch als ein kunstmäßig komponierter angegangen. Akzeptiert man auf diese Weise eine prinzipiell unbegrenzte Geltung solcher Kunst-Analogien, so ergibt sich eine Fülle von in Bildern sich ankündigenden didaktischen Anregungen und Modellen, die hier in bewußt loser Folge ohne Vollständigkeitsanspruch einmal aufgeblättert werden sollen:
Da gibt es den Lehrstückdichter, den Lehrstückkritiker, Rezensionen, die Unterrichtsannonce, die Unterrichtsnovelle, Unterrichtsvorführungen, Inszenierungen, Skizzen, Fragmente, Regeln, Stil. Da gibt es Akte, Zwischenspiele, Höhepunkte, spannungssteigernde Momente, Stauungen, Kunstgriffe, retardierende Momente, Exkurse, Einblendungen, Expositionen, Eröffnungen, Ouvertüren, Rondos, Übungen, Arien, Symphonien, Solos, Proben, Lehrbriefe, Meisterstücke, Kurse, Applaus. Da wird gemeißelt, gefeilt und illustriert, beleuchtet und coloriert. Da wird redigiert, komponiert, improvisiert und durchgespielt. Da gibt es eine Spielertruppe, Meister, Gesellen, Lehrlinge, Lehrstückteilnehmer, die Lehrstückmitspieler, zuletzt ein Repertoire, ein Museum, ein Archiv. Und der Inbegriff des Archivinhalts wäre wohl noch besser „Werke der Lehrkunst“ als „Stücke der Lehrkunst“
Doch die Wortwahl „Lehrstück“ bedeutet zugleich auch einen Hinweis auf die zentrale Stellung der Bühnenmetapher. Da gibt es Bühnenbilder, einen Fundus, Kostüme, Requisiten, ein Inventar, da gibt es Gastspiele, Einladungen, Wettbewerbe, Vorträge, Materialbeschaffungen, Exkursionen, Recherchen. Ja und das Theater ist die Schule, und wie das Theater einen Stil hat und seine Kultur, so gehört ein bestimmtes Lehrstückrepertoire zur Schulkultur. Und Kultur braucht Vielfalt, wir brauchen also viele verschiedene Bühnen. Nun machen die Kultur einer großen Bühne ja nicht nur seine Aufführungen aus. Dazu gehört natürlich auch das Klima an den Proben, die Ausstattung, die Architektur, die Öffentlichkeitsarbeit, die Bälle, der Intendant und der Stadtkämmerer, die Mäzene und die ehemaligen großen Hausregisseure, also die Stücke aus dem Fundus und die Neuinszenierungen ...
Kein Gutwilliger wird bezweifeln, daß zumindest ein Teil dieser Einfälle heuristischen Wert hat. Und es sind auch nicht alle dieser didaktisch-künstlerischen Analogien innerhalb der Lehrkunst zu Kernbegriffen geworden. Ob und wie diese für Unterricht wirksam werden können, ist inzwischen von Theodor Schulze näher dargestellt und erläutert worden. (8) Die vorliegende Arbeit wird unter anderem bei der Erläuterung des vorzustellenden Kirchen-Unterrichts davon noch Einiges zur Sprache bringen. Ein paar Dinge sollen aber hier bereits einladend zugunsten der Lehrkunst als Lehrstück-Didaktik bekräftigt werden: Zuerst die Angemessenheit gegenüber der Künstlichkeit der Schule, die wie die Bühne viel Mühe dafür aufwendet, Wirklichkeit in didaktischer Reduktion zu simulieren. Dem kommt die Theatermetapher erheblich näher als beispielsweise die Vermittlungsmetapher. Der Lehrer ist viel mehr Dichter, Schöpfer als Vermittlungsagent. Will er nämlich als Mittler hinter sich greifen nach seinen Auftraggebern, nach Zielbestimmungen, greift er vergleichsweise ins Dunkle und hört das abgehobene Murmeln von Lehrplänen und vernünftigen Präambeln. Daß er aber einen „Stoff“ hier und heute übel oder wohl zu inszenieren hat, das ist für ihn durchaus plastisch, ist sein tägliches Handwerk.

Ein weiteres Streiflicht:
"das lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird. prinzipiell ist für das lehrstück kein zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden. es liegt dem lehrstück die erwartung zugrunde, daß der spielende durch die durchführung bestimmter handlungsweisen, einnahme bestimmter haltungen, wiedergabe bestimmter reden usw. gesellschaftlich beeinflußt werden kann." (9)

Das ist nicht Berg, sondern Brecht. Es bestehen hier zwar keine Zusammenhänge, doch auch wieder erkennbare Analogien. Der bedeutendste deutsche Dramatiker dieses Jahrhunderts kann zu jenen gerechnet werden, die es nicht aufgegeben haben, die in der Kunst eingefrorene konkrete Utopie nicht nur dem Genuß, der Gemütsstärkung vorzubehalten, sondern ihr gesellschaftlich unbequemes Potential, ihre dauernde Anklage gegen die Verhältnisse in konkrete, politisch-geschichtliche Bewegungen einzufügen. Im Hintergrund will auch Bergs Lehrkunstansatz letztlich gesellschaftlich unbequem sein. Aber wir seien, wie Berg einmal anmerkte, in der Schulreform noch gar nicht inmitten der Reformation angelangt, wir stünden irgendwo im vierzehnten Jahrhundert bei den Waldensern. Bei aller Unterschiedlichkeit von Thema und Zielsetzung sind die Parallelen Berg - Brecht hin und wieder frappierend. So wenn man bei Brecht liest: „Auch in der Dramatik ist die Fußnote und das vergleichende Blättern einzuführen.“ (10) Zweitens spricht für die Lehrstückmetapher also, daß sie mit dem emanzipatorischen Gehalt von Kunst- „Produktion“ in der Moderne korrespondiert.
Mit der Kunstwerkmetapher für Unterricht gewinnen wir drittens auch einen zentralen Zugang zum Bildungsthema. Kunst ist ebenso wie Unterricht angenehm und doch unbequem, weil in ihr Utopie wohnt. Schule ist unter anderem für alle den Menschen mißbrauchenden gesellschaftlichen Kräfte unbequem, wenn in ihr auf angenehme Weise Bildung geschieht. Der Freiraum der Schule rechtfertigt sich durch die vorzüglich in solchen Freiräumen mögliche Entwicklung von Maßstäben für das Humane.

„Was ist das Leben der Menschen, wenn ihr ihm nehmet, was die Kunst ihm gegeben hat? Ein ewiger aufgedeckter Anblick der Zerstörung ... denn wenn man aus unserem Leben herausdenkt, was der Schönheit dient, so bleibt nur das Bedürfniß; und was ist das Bedürfniß anders, als eine Verwahrung vor dem immer drohenden Untergang."(11)

0.2. Der Stand der Lehrkunstdidaktik im Umriß


Die Lehrbuchveröffentlichung 1995 (12) markiert einen vorläufigen Endpunkt der Entwicklung der Lehrkunstdidaktik. In dem Lehrbuch treiben die Beiträge von Berg und Schulze durchaus auch unterschiedliche Konturen des Lehrkunstansatzes hervor. In der folgenden Zusammenfassung sind diese Theoreme aber verschmolzen. Ich lehne mich dabei zwar stark an die Lehrbuchvorlage an, komme aber nicht umhin, auch Interpretation einfließen zu lassen, vor allem weil das „Lehrbuch“ eine abgeklärte Systematik noch nicht bieten wollte.

Was ist Lehrkunstdidaktik?


1. Lehrkunstdidaktik versteht sich als Bildungsdidaktik.

Sie gründet auf einer Bildungsvorstellung, über die nicht abstrakt gehandelt wird, die aber von den „Lehrstücken“ implizit verdeutlicht wird. Besonders sichtbar wird das auch in der Anlehnung an den von Martin Wagenschein benutzten Begriff der Funktionsziele eines Faches (In den Wagenschein-Kapiteln unten dazu mehr). Ähnlich wie dort wird von der Lehrkunstdidaktik nach den fundamentalen stoff-, fach- oder thementypischen Erfahrungen gefragt, die ein Lehrstück arrangiert. In der vorliegenden Arbeit wird darüber hinaus der Versuch gemacht, das Verhältnis der Lehrkunstdidaktik zur Tradition des Bildungsbegriffs grundsätzlich und in einem persönlichen bildungsphilosophischen Exkurs zu bezeichnen.
Zusammenfassend heißt es im Lehrbuch:

„Es geht im Bildungsprozeß um individuelle Begegnung - betrachtend und handelnd mit originären welthaltigen Gestalten in freier unverschulter Atmosphäre. Denn das ‘Umschaffen der Welt in das Eigentum des Geistes’ (Humboldt) braucht das ‘freie Atmen des Geistes im rhythmischen Wechsel von Vertiefung und Besinnung’ (Herbart).“ (13)


2. Lehrkunstdidaktik begreift sich emphatisch als Inhaltsdidaktik.

Sie versucht nicht die Deduktionen einer traditionellen Bildungsdidaktik, die leicht im Abstrakten steckenbleiben. Sie stellt fest, daß Didaktik weitgehend Formaldidaktik geblieben ist. (14) Sie sieht jeden Unterricht als einzigartig an und betont, daß es auf die Praxis der Lehrstücke ankommt, nicht auf ihre Theorie. Sie denkt von gegebenen, bildenden Stoffen oder Themen her. Sie ist sich dabei einer gewissen Willkürlichkeit bewußt, verteidigt das aber mit dem Hinweis auf die Sterilität anderer Ansätze, die trotz oder wegen ihrer Systematik zu wenig bis in den Unterricht hinein wirksam wurden. Nach all den Erfahrungen mit den Begründungsproblemen von Lehrplänen oder den analytischen Strukturgittern der Unterrichtsplanung sei es an der Zeit, endlich einmal an bestimmten Themen anzusetzen, die als Lehrstückvorlagen gefunden werden und im kulturellen Kontext als große Themen ausgewiesen sind:
Galilei und das Fallgesetz, Rousseau und die Botanik, Aristoteles und die Ursachenlehre usw. Alle diese Themen liegen als große Menschheitsthemen gewissermaßen plausibel vor Augen. Als Schlüsselprobleme, Schlüsselphänomene „der Menschheit“ bedürfen sie zunächst einmal keiner weiteren Legitimierung für den Unterricht. An ihrer bildungsmächtigen Ausformung in einem Lehrstück bewähren sie sich zuerst. Mancher Fachwissenschaftler kennt heute solche Schlüsselthemen nur noch ganz privat (Primzahlen, das Herzstück der Zahlenlehre (15) , Fabeln, eine Urform der Verknüpfung von Kunst/Ästhetik und Moral/Didaktik (16) , die Kerze, der chemisch-physikalische Stoffkreislauf als mundus in gutta (17) usw. Kollegen anderer Fächer stutzen hier womöglich zuerst etwas, werden aber schnell einsichtig. Die Fächergrenzen haben diese großen Schlüsselthemen zum Teil aus dem Bildungshorizont entrückt. Zusammen bilden diese Lehrstückthemen einst den Fundus einer Schule, den Kernbestand eines Lehrplans, eventuell einen Unterrichts-Kanon.
Insofern immer von dem einzelnen Thema her gedacht wird, ist dieses auch der Nukleus der Lehrplanverknüpfung. Einem jeden Thema entspricht eine ihm gemäße „thematische Landkarte“, die die Berührungen mit anderen bedeutenden Stoffen festhält. Schädliche Ausblendungen sollen so vermieden werden. Der Gegenstand muß seine Ganzheit bewahren dürfen. Die Anrainerthemen oder die über das Fach hinausgehenden (Tiefen-)aspekte müssen gesehen werden. Der bloße „Fach“-Unterricht ist nämlich in der Gefahr, die Gegenstände zu amputieren, so daß sie ihre Frische, Faszination und Relevanz verlieren.
In der Lehrkunst sind damit tendenziell die Lehrer die Autoren der Lehrpläne, die sie in ihren Veröffentlichungen zur Debatte stellen, verantworten. Denn ihre Lehrstücke sind die Konkretion der verschiedenen didaktischen Ziele, Mittel und Prinzipien. Ist sonst der Unterricht die Variable, jeden Tag anders nach den Vorgaben an Lehrzielen, Themen und methodischen Entscheidungen zusammengestellt, so kristallisieren sich dieselben hier einmal in einem Lehrstück zu einer so konkreten, komplexen, lebendigen Gestalt zusammen, daß umgekehrt Lehrziele, Stoffe, Themen, Fragen des Umfangs, der Lehrplanung, der Methoden, Ratschläge zu Medien usw. aus den Lehrstücken heraus diskutiert werden können.


3. Die Lehrstückdidaktik lehnt sich methodisch an Wagenscheins Genetisches
Lehren an.

Bei Martin Wagenschein ist das gelassene Arbeiten mit den bildenden Potenzen eines Themas zu studieren. Wagenscheins Didaktik ist eine Unterrichtslehre, die auf das beharrliche Freilegen der Fragen, der ungeklärten Vorstellungen, der unverstellten Phänomene setzt. Sie ist daher der Lehrstück- oder Inhaltsdidaktik gemäß.
Die Genetisch-exemplarisch-sokratische Methode Wagenscheins, die in dieser Arbeit noch ausführlich bedacht wird, dient dabei als eine Leitgeste, besonders die Grundfigur des Fließenlassens des Unterrichts, der zuletzt dann in den anderen Aggregatszustand des Ankristallisierens von Stoffen und Einsichten übergeht. Dem entspricht in der Lehrkunstdidaktik eine bestimmte Vorstellung von der Lehrerrolle:

"Der Lehrer muß das Thema mögen, ja lieben; und diese Liebe muß sich zu einer gedanklichen Kennerschaft und praktischen Könnerschaft ausgewachsen haben. In diesem Thema muß er Profi geworden und Amateur geblieben sein, er will und kann es unterrichten,. und das muß zu spüren sein.
Ich spüre mich (dabei) außen als heutigen Erwachsenen, spüre darin meine studentischen Twenjahre, spüre noch weiter innen mich als Jugendlichen, und vielleicht sogar ganz innen noch als Kind. Der Geschmack akademischer und personaler Freiheit muß auch die Lehrerfortbildung bestimmen." (18)

Das ist aus dem Umgang mit Martin Wagenschein erwachsen. Trotzdem ist Lehrkunstdidaktik nicht identisch mit Wagenscheindidaktik. Sie baut darauf auf, will und muß sich dazu aber auch gelegentlich von einer zu dogmatischen Geltung dieser Grundlagen nicht fesseln lassen. Weitere Klassiker gliedern sich an: Comenius, Herder, Schleiermacher, Fröbel, Diesterweg, Willmann, Reichwein ...


4. Lehrkunst bedient sich der Theatermetapher, um Schule und Unterricht zu
reflektieren und um produktiv zu werden.

Es geht ihr um Lehrstücke als „improvisierten Mitspielstücken“, die in der Künstlichkeit der Schule, die ja ständig mit Inszenierungen zu tun hat, gezielt Arrangements herbeiführen, die in bildungsrelevante Handlungen verwickeln. Es geht um den sensiblen Umgang mit den „Schwellen der Umstrukturierung des Verhaltens“ (19) Man widmet sich in der Lehrkunst dem Urrätsel des Unterrichts, der etwas bewirken will und zuletzt auch kann, was man eigentlich doch nicht „bewirken“ kann. Lehrstücke setzen den Schüler inmitten von Weltaufschlüssen. Es geht, vergleichbar dem Drama, um eine Katharsis, ein kollektives Lernereignis. Die Stücke werden daher als Folgen von Szenen, eventuell gebündelt zu Akten, gesehen, die von einer durchgängigen Lehridee, einer didaktischen Fabel, verknüpft sind.


5. Der so zu einem Lehrstück komponierte Unterricht, in der Regel
eine Stundenfolge, ein mehrtägiges Ereignis, eine Unterrichtsepoche,
entsteht vorzüglich in Lehrkunstwerkstätten und wird dann literarisch notiert
in komplexen Unterrichtsberichten („Unterrichtsnovellen“),
um ihn weiterzugeben.

Die Lehrstücke fordern in dieser Form zum Nachspielen im Unterricht mit Schülern auf, regen dazu an, nachdem sie - genauso wie sie entstanden sind - auch wieder in Lehr(er)werkstätten erprobt wurden. Die Stücke können dabei nie starr übernommen werden. Aber in der erneuten Übernahme klärt sich oft immer deutlicher der eigentliche Kern des vorhandenen Lehrstücks, die produktive Lehridee. Lehrstücke können ständig neu geschaffen oder als bestehende weiterentwickelt werden. Die Lehrstückdidaktik hält aber der bisherigen Didaktik vor, daß sie sich nie um einen Vorrat an klassischen Lehrstücken gekümmert hat. Solche müßten vielmehr erst wieder ausgegraben, systematisch zusammengestellt, auch verglichen werden, wenn sie das gleiche Thema betreffen. Lehrkunst hat nichts gegen Kreativität - im Gegenteil - , wendet sich aber dagegen, das Rad immer noch einmal erfinden zu wollen, wenn es schon gediegene Vorlagen gibt.


6. Die Lehrkunstdidaktik versteht sich auch als Schuldidaktik.

Der Lehrkunstansatz mußte erkennen, daß Fragen der Schulverfassung, der Schulvielfalt und der Schulkultur für ihn entscheidende Bedeutung haben. Schulvielfalt ist ihre produktive Grundlage. Im Rahmen dieser Arbeit spielt diese Seite des Bergschen Lehrkunstansatzes kaum eine Rolle. Deshalb wird hier nicht näher darauf eingegangen.

Zusammengefaßt: Die Lehrstückdidaktik widmet sich der Menschenbildung und Schulreform, indem sie bedeutenden Stoffen und Themen der Menschheitsgeschichte einen genetisch konzentrierten, vertieften Unterricht angedeihen läßt, der dramaturgisch komponiert und in Lehrwerkstätten entstanden ist und dort weitergegeben wird.

0.3. Zu Entstehung und Plan dieser Arbeit


Im Winter 1985/86 löste Hans Christoph Berg nicht geringes Erstaunen aus, als er vor einer großen Gruppe von Lehrern der Wilhelm-Löhe-Schule in Nürnberg mit seinem Konzept „Religion auch in Physik und Deutsch? Überall wo sachgemäß! Zehn comenianische Unterrichtsbeispiele aus evangelischen Schulen hoffentlich 1989 vorzulegen“ (20) um Mit- und Zusammenarbeit warb. Vieles schien man nötig zu haben, aber das?
Der Versuch wurde trotzdem gemacht. Die Didaktik Martin Wagenscheins und die Fingerzeige des Johann Amos Comenius sind seither durch eine Reihe von Unterrichtsprojekten an der Löhe-Schule mit der Realität verschiedenster Fächer in Berührung gekommen. Haben wir dadurch auch etwas für die zeitgemäße Definition eines Unterrichtens an evangelischen Schulen getan?
Ein knappes Dutzend jüngerer Lehrkräfte hat damals in ihrer „Lehrerwerkstatt“ entsprechende Unterrichtsentwürfe und solche Fragen hin und her beraten und bewegt. Die Wirkungen gingen bald über die Projektwochen hinaus und waren auch im Alltagsgeschäft der Lehrer spürbar. Der Verfasser dieser Arbeit hat sich in dieser Zeit dabei der besonderen Herausforderung gestellt, eine christliche Schule sollte auch in einer ihr eigentümlichen Unterrichtssequenz den „heimatlichen Dom“, in diesem Fall die größere der beiden mittelalterlichen Nürnberger Pfarrkirchen, die Lorenzkirche, in ihren Unterricht einbeziehen. Zugleich bedeutete das die Herausforderung, die Wagenscheinsche Didaktik am kulturgeschichtlichen Gegenstand zu erproben. Von den gedanklichen Grundlagen, den Erfahrungen und Ergebnissen dieses Prozesses handelt diese Arbeit.
Seit im Herbst 1989 klar wurde, daß diese Ergebnisse und Gedanken zu einer umfangreicheren Studie verarbeitet werden sollen, sind nun acht Jahre vergangen. Kirchendidaktik hat seither zum Beispiel im Bereich der Religionspädagogik an Aufmerksamkeit gewonnen, und auch für den Verfasser lebt die Lorenzkirche im Unterricht in regelmäßigen Abständen weiter.
Die nachfolgenden theoretischen Ausführungen verlangten von mir, daß ich mich in Erziehungswissenschaft, in Theologie, in Kunstgeschichte, in Historie und Fachdidaktik umtat. In der Hauptsache bin ich aber mit vollem Stundendeputat Lehrer an einem Gymnasium mit der durch das Staatsexamen erworbenen Fakultas für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde.
Für jede am folgenden Tag zu haltende Schulstunde müssen (müßten) wir Lehrer eine Vielfalt von Fach- und Praxisaspekten bedenken. Die Kunst der Vorbereitung ist deshalb zum Teil auch die Kunst ihres vertretbaren Abbruchs. Immer wieder müssen wir uns entscheiden, es nun eben mit dem Studium des Gegenstands in diesem Stadium bewenden zu lassen. So oder so, morgen muß er unterrichtet werden. Nicht wenige Lehrer frustriert auch die Notwendigkeit, Tausenderlei aufgreifen zu müssen, aber nichts zufriedenstellend kompetent. Nun ist es bei der hier vorgestellten Projektwoche hoffentlich graduell doch anders. Doch im Prinzip ist das Dilemma auch hier das gleiche wie im Alltagsgeschäft. Daraus ergibt sich schon eine erste Absicht der Arbeit. Ein Katalog von Zielsetzungen dieser Studie könnte folgendermaßen aussehen:
Der Verfasser hofft, daß die Arbeit erstens Interesse findet gerade wegen der oben beklagten Vielfalt der Aspekte, insofern sie den vielstimmigen Chor von Fachwissenschaft, Allgemeiner Didaktik, Fachdidaktik und anderen Disziplinen im Hinblick auf konkrete Unterrichtsentscheidungen sichtbar macht.
Die Arbeit soll zweitens die Bestrebungen begleiten, die heute eine kirchendidaktisch professionelle Antwort auf das Phänomen suchen, daß alte, urbane Kirchen stets voller Menschen sind, Gottesdienste aber immer leerer.
Drittens möchte die Arbeit den Didaktiker Martin Wagenschein und seinen Traditionsstrom den Betroffenen und Interessierten an der Schule näherbringen.
Nicht zuletzt soll die Arbeit viertens ein Beitrag dazu sein, der von Hans Christoph Berg eröffneten Perspektive einer Fortentwicklung von Didaktik und Schule unter dem Konzept der „Lehrkunst“ an einem Beispiel konstruktiv und kritisch Kontur zu geben.


Der Aufbau der Arbeit:

Nur scheinbar übernehmen Lehrpläne für den Lehrer die Entscheidung für Lehrinhalte. Durch seine didaktische Analyse „erschafft“ der Lehrer erst den Unterrichtsgegenstand, von dem das Lehren und Lernen ausgeht. Sträflich oder wohlbedacht Ausgeblendetes schafft sich dann aber zum Teil sekundär Raum im Prozeß der konkreten Begegnung von Schülern mit „ihrem“ Gegenstand. Die Gegenstandsaufbereitung erfolgt also aus Lehrersicht in zwei Schritten, erstens in der Vorbereitung, zweitens im Unterricht.
Es steht also am Anfang die Strukturanalyse des Gegenstandes durch den Lehrer. Deshalb beginnt auch diese Arbeit damit, das Thema „Nürnberger Lorenzkirche“ von der Sache her, das heißt von der Sachkenntnis des Lehrers her, aufzufächern.
Anschließend wird eine erste Unterrichtserzählung vorgestellt.
Diese Fassung des Unterrichts lehnt sich besonders konsequent an Prinzipien Martin Wagenscheins an. Nachfolgend wird deshalb weiter ausholend der entsprechende allgemein- und fachdidaktische Rahmen des Unterrichts vorgelegt, eine breite Darstellung, die nicht nur den Unterricht erläutern soll, sondern auch eine eigenständige Auseinandersetzung beispielsweise mit der Didaktik Wagenscheins sein will. Die Fragen nach der Exemplarizität, dem Bildungswert des Themas kommen hier ebenso mit zum Zuge wie die Frage nach der Einordnung dieser Konzepte in das Proprium Evangelischer Schulen. Zuletzt ist das zusammengefaßt in einem von Johann Amos Comenius inspirierten Kapitel zum Geist einer Comenianischen Unterrichtserneuerung und damit zum von mir vertretenen Bildungsverständnis. Fachdidaktische Erwägungen, die den vorgestellten Unterricht im Rahmen geschichtsdidaktischer Positionen begründen, schließen den theoretischen Mittelteil ab.
Ein zweiter Unterrichtsbericht - der Lehrkunstansatz bevorzugt dafür Ausdrücke wie „Unterrichtserzählung“ oder „Unterrichtsnovelle“ - leitet dann nach dieser theoretischen Grundlagenbetrachtung allgemein- und fachdidaktischer Art die unterrichtsdidaktische Nachbetrachtung ein. Diese Unterrichtsnovelle gibt eine Vorstellung von der Fortentwicklung des Unterrichts mit der Nürnberger Lorenzkirche durch den Verfasser im Lauf der Jahre.
Das Theorie-Praxis-Kontinuum stellt für den unterrichtenden Lehrer immer schon ein schwer zu lösendes Problem dar. Dies gilt besonders, insofern Didaktiker dazu neigen, bei der Reflexion der Gegenstände und Ziele von Bildung stehenzubleiben. Vor dem Hintergrund der dargestellten allgemein- und fachdidaktischen Erwägungen und der beiden Unterrichtsberichte wird deshalb im letzten Abschnitt, der zugleich Resümee und Ausblick ist, das vorgestellte Konzept stärker im Bezug auf klassische unterrichtsdidaktische Prüfsteine einerseits und aktuelle unterrichtsdidaktische Tendenzen wie Handlungsorientierung oder Projektunterricht andererseits bewertet.
Nicht zuletzt wird hier auch der neuerdings durch ein Grundlagenwerk genauer greifbare Lehrkunstansatz von Berg/Schulze mit dem vorgelegten Unterricht in wechselseitige und kritische Beziehung gesetzt. Die beiden didaktischen Orientierungspunkte des Unterrichts, Wagenschein und Lehrkunst, stehen hier auf einem unterrichtspraktischen Prüfstand. Die Frage, wie zulänglich die Didaktik Martin Wagenscheins im widerspenstigen Alltag ist, ob auch Korrekturen angesichts der Besonderheit des kulturgeschichtlichen Gegenstandes an dem von Wagenschein hergeleiteten Konzept nötig sind, wird dabei immer wieder an verschiedenen Stellen der Arbeit angeschnitten. Zum bisher ausgeprägten Bergschen Lehrkunstansatz wird aber am Schluß der Arbeit in diesem Sinne noch einmal gesondert Stellung genommen.

1) Schaarschmidt Ilse, Der Bedeutungswandel der Begriffe „Bildung“ und „bilden“ in der Literaturepoche von Gottsched bis Herder (1931) in Klafki (Hg), Beiträge zur Geschichte des Bildungsbegriffs, Weinheim 1979, zit. nach Berg Hans Christoph, Suchlinien, Studien zur Lehrkunst und Schulvielfalt, Neuwied, Berlin, 1993, S. 86
2) Vgl. Schulze Theodor, Lehrstückdramaturgie, in Berg/Schulze, Lehrkunst, Lehrbuch der Didaktik, Neuwied, Berlin 1995, S. 361- 420, S. 363f
3) Vgl. z.B. Berg Hans Christoph, Suchlinien, S. 113 ff
4) A.a.0., S. 53
5) Vgl. Deutscher Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen, Zur Neuordnung der Höheren Schule (1964), Stuttgart 1966
6) Vgl. zum Beispiel die von Beate Nölle vorgestellte vielfältige Tradition, den Satz des Pythagoras zu unterrichten , in Berg/Schulze (Hg), Lehrkunstwerkstatt 1, Didaktik in Unterrichtsexempeln, Neuwied 1997
7) Vgl. Hausmann Gottfried, Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts, Heidelberg 1959, S. 60ff
8) Vgl. Schulze Theodor, Lehrstückdramaturgie (Anm.2)
9) Brecht Bertolt, Zur Theorie des Lehrstücks, in Steinweg (Hg), Brechts Modell der Lehrstücke, Frankfurt 1976, S.164
10) Ders., zit. nach Benjamin Walter, Versuche über Brecht, Frankfurt 1966, S.14
11) Schillers Briefe, Kritische Gesamtausgabe, Jonas (Hg), Stuttgart 1892, Bd.2, S. 210
12) Berg/Schulze, Lehrkunst, Lehrbuch der Didaktik, Neuwied 1995
13) Berg Hans Christoph, Mit Wagenschein zur Lehrkunst, in a.a.O., S. 35
14) A.a.O., S.12
15) Vgl. Werner Wilhelm, Primzahlen, nach Wagenschein, in a.a.0., S. 153-180
16) Vgl. Kesten Katrin, Fabeln, nach Lessing, in a.a.0., 5. 263-282
17) Vgl. Theophel Eberhard, Kerze, nach Faraday, in a.a.0., S. 283-304
18) Berg, a.a.0., S. 33
19) Schulze, a.a.O., S. 56
20) Berg Hans Christoph, Religion auch in Physik und Deutsch? Überall wo sachgemäß! Ein sechsseitiges Konzeptpapier, Marburg 1985



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[ Letzte Aktualisierung 02.05.98 Walter Dörfler ]