Beweisen verstehen. Bildung durch Lehrkunst im Mathematikunterricht. Komposition, Inszenierung und Interpretation dreier Lehrstücke frei nach Wagenscheins Euklid-Exempeln: Entdeckung der Axiomatik am Sechsstern, Satz des Pythagoras, Nichtabbrechen der Primzahlfolge. Ein Beitrag zur Allgemeinen Didaktik aus fachdidaktischer Perspektive.

Die Möglichkeit, Aussagen ein für allemal beweisen zu können, ist ein Alleinstellungsmerkmal, das der Mathematik vorbehalten ist. Die Sätze, die Euklid von Alexandria (um 300 v. Chr.) vor über 2000 Jahren in seinen „Elementen“ bewies, gelten noch heute – und sie werden auch in 2000 Jahren noch gelte...

Ausführliche Beschreibung

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Bibliographische Detailangaben
1. Verfasser: Gerwig, Mario
Beteiligte: Berg, Hans Christoph (Prof. Dr., Dipl. Psych.) (BetreuerIn (Doktorarbeit))
Format: Dissertation
Sprache:Deutsch
Veröffentlicht: Philipps-Universität Marburg 2014
Schlagworte:
Online Zugang:PDF-Volltext
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Beschreibung
Zusammenfassung:Die Möglichkeit, Aussagen ein für allemal beweisen zu können, ist ein Alleinstellungsmerkmal, das der Mathematik vorbehalten ist. Die Sätze, die Euklid von Alexandria (um 300 v. Chr.) vor über 2000 Jahren in seinen „Elementen“ bewies, gelten noch heute – und sie werden auch in 2000 Jahren noch gelten. Das Entdecken und Hervorbringen unumstößlicher Wahrheiten ist das Charakteristikum der Mathematik, und „Beweisen“ ist einer ihrer Zentralbegriffe. Doch dessen angemessene unterrichtliche Umsetzung stellt eines der mathematikdidaktischen Zentralprobleme dar, weil meist eine Vielzahl formal-deduktiver Beweise die Entdeckung des Beweisprozesses von Beginn an und systematisch verhindert, weil in den fertigen Beweisprodukten die dem Beweisprozess zugrundeliegenden, fundamentalen Leitideen nicht mehr erkennbar sind. So entsteht eine paradoxe Situation: Das Charakteristikum der Wissenschaft Mathematik führt im Unterricht ein Schattendasein, und ein Ausweg scheint nicht in Sicht. Die vorliegende Arbeit möchte mit den Mitteln der Lehrkunstdidaktik (nach Berg/Schulze/Wildhirt u.a.) Entscheidendes zur Lösung dieses Zentralproblems beitragen. Die Lehrkunstdidaktik unternimmt es, ästhetisch faszinierende und philosophisch tiefgründige Unterrichtsexempel zu Errungenschaften, Durchbrüchen und Leitlinien der europäischen Kulturen ernsthaft, tiefgehend und mit Muße in den Unterricht sämtlicher Fächer zu bringen – Lehrstücke heißen die resultierenden Unterrichtseinheiten. Es ist die bildungspolitische und didaktische Aktualität der Lehrkunstdidaktik, welche sie hier zu einem vielversprechenden Partner bei der Lösung des Problems werden lässt: Schon seit einigen Jahren setzt die Lehrkunstdidaktik durch die Entwicklung von Lehrstücken genau das erfolgreich um, was vor allem in jüngster Zeit durch den von PISA 2003 eingeleiteten Umschwung zur Output-Orientierung zunehmend notwendig zu werden scheint: ein Neuansatz der Input-Orientierung. Denn statt dem zumeist herrschenden Entweder-oder sollte doch eher ein Sowohl-als-auch dominieren. Input und Output – beides! Im ersten Teil der Arbeit wird der Frage nachgegangen, wie sich das Beweisen ausgehend von Euklid von Alexandria bis in die Gegenwart entwickelt hat und inwieweit diese Entwicklung in der Mathematikdidaktik berücksichtigt wird. Darüber hinaus wird, ausgehend von Martin Wagenscheins genetisch-sokratisch-exemplarischem Lehren („Verstehen lehren“, 1968) und Wolfgang Klafkis „Theorie der Kategorialen Bildung“ (1959) – inzwischen sind beide als Klassiker der Pädagogik anerkannt – das Konzept der Lehrkunstdidaktik historisch entwickelt und ausführlich dargestellt. Im zweiten Teil werden drei Exempel Martin Wagenscheins – Entdeckung der Axiomatik am Sechsstern, Satz des Pythagoras, Nichtabbrechen der Primzahlfolge – zu Lehrstücken weiterentwickelt, mehrfach unterrichtet, reflektiert, ausgewertet und interpretiert. Dabei wird die Entwicklung didaktischer Werke in einem kumulativen Optimierungsprozess besonders deutlich. Eine komprimierte Fassung der drei Lehrstücke findet sich im MU-Schwerpunktheft „Lehrkunstdidaktik“ (MU – der Mathematikunterricht, Friedrich-Verlag, Heft 6/2013). Im dritten Teil werden die Ergebnisse zusammengefasst und ausgewertet. Dabei stellt sich heraus, dass die drei Lehrstücke zum Beweisen jeweils den individualgenetischen Mitvollzug einer kulturgenetischen Leistung ermöglichen, was das Wesen des Bildungsprozesses im Sinne Klafkis und Heymanns („Allgemeinbildung und Mathematik“, 1996/2013) darstellt. Darüber hinaus zeigt sich, dass formal-deduktives Beweisen immer nur Ziel des schulischen Mathematikunterrichts sein und über die Vorstufen eines alltagsnahen bzw. mathematischen Argumentierens erreicht werden kann (vgl. Brunner 2013). Und nicht zuletzt belegen die rund ein Dutzend Mal unterrichteten Lehrstücke, dass Beweisen (Prozess) und Beweise (Produkt) nicht von einander zu trennen sind und dass insgesamt eine tiefgründige, spiralförmige Behandlung der Thematik im Unterricht möglich ist. Beweisen kann und sollte eine Leitidee des Mathematikunterrichts im Sinne Heymanns sein, weshalb die Bildungsstandards Mathematik (2003 und 2012) diesbzgl. unbedingt zu ergänzen sind.
DOI:10.17192/z2014.0383