"Freundschaft" bei Huftieren? - Soziopositive Beziehungen zwischen nicht-verwandten artgleichen Herdenmitgliedern

Die Ziele der Arbeit lagen im Nachweis und in der Quantifizierung von Freundschaften bei Pferden, Eseln, Schafen und Rindern. Weiterführende Analysen erfolgten bzgl. Situationsspezifität, Dynamik und Dauer der Bindungen, Asymmetrie innerhalb der Beziehungen, begünstigender Faktoren und Funktionen. Z...

Ausführliche Beschreibung

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Bibliographische Detailangaben
1. Verfasser: Wasilewski, Anja
Beteiligte: Beck, Lothar A. (PD Dr.) (BetreuerIn (Doktorarbeit))
Format: Dissertation
Sprache:Deutsch
Veröffentlicht: Philipps-Universität Marburg 2003
Schlagworte:
Online Zugang:PDF-Volltext
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Beschreibung
Zusammenfassung:Die Ziele der Arbeit lagen im Nachweis und in der Quantifizierung von Freundschaften bei Pferden, Eseln, Schafen und Rindern. Weiterführende Analysen erfolgten bzgl. Situationsspezifität, Dynamik und Dauer der Bindungen, Asymmetrie innerhalb der Beziehungen, begünstigender Faktoren und Funktionen. Zehn Nutztierherden (2-3 je Art) mit 11-60 Mitgliedern (insges. 234 Tiere) wurden zwei Jahre im Freiland (SO-England) untersucht (ca. 1500h). Die Rinder waren weiblich, die Schafe männlich, die Equiden lebten in gemischtgeschlechtlichen Herden (männl. Tiere kastriert). Außer den Rindern (subadult) waren die Tiere erwachsen. Gewählt wurde ein vergleichender, quantitativer, objektiver, systematischer und individuenbasierter Untersuchungsansatz mit Langzeitcharakter. Die Rahmenbedingungen schlossen Verwandtschaft und sexuelle Motivation als alternative Basis soziopositiver Bindungen aus. Die Erfassung des spontanen Verhaltens wurde um experimentelle Ansätze erweitert; verschiedene Sampling- und Recording-Methoden kamen zum Einsatz. Indikatoren für interindividuelle Präferenzen waren Nachbarschafts- (zwei nächste Nachbarn) und Partnerwahl-Häufigkeiten bei soziopositiven Interaktionen (soziale Fellpflege, Körperkontakte beim Ruhen, Futterteilen, Dokumentieren s.l.). Zur differenzierten Auswertung der Nachbarschaftsdaten wurde das Computerprogramm NENESYS entwickelt. Die abschließende statistische Bearbeitung erfolgte v.a. durch multivariate Verfahren (z.B. MDS, Clusteranalyse, Mantel-Test). Obwohl der Gesichtspunkt 'Freundschaft' der Humanpsychologie entliehen ist, bietet diese keine einheitliche Definition und Terminologie. Daher wurde eine eigene Definition anhand struktureller und inhaltlicher (nicht funktionaler) Kriterien erarbeitet. Der Nachweis von Freundschaften war bei allen vier Tierarten erfolgreich und erfordert eine Ausweitung des Freundschaftskonzepts über die Ordnung der Primaten hinaus. Bei allen Arten außer den Rindern konnte der Nachweis doppelt (beständige Nachbarschafts- und Interaktionspartnerpräferenzen) abgesichert werden. Die Quantifizierung der Bindungen ergab zwischen- und innerartliche Unterschiede. Ausmaß und Stärke der Nachbarschaftspräferenzen waren bei den Pferden am größten, den Schafen intermediär, den Rindern am geringsten. Bei den Eseln war das Ausmaß der Freundschaften am geringsten, die Stärke hingegen entsprach ca. der der Pferde. Der Vergleich der interindividuellen Präferenzen in bis zu vier verschiedenen Situationen (Nachbarschaft beim Grasen bzw. Ruhen, soz. Fellpflege, Futterteilen) ergab deutliche interspezifische Unterschiede. Die Pferde zeigten das geringste Ausmaß an Situationsspezifität (weitgehend dieselben Partner in allen Situationen), die Esel und Rinder das höchste, die Schafe ein intermediäres. Entgegen der bisherigen Ansicht, Schafe betrieben keine soziale Fellpflege, wurden zwei Verhaltensweisen identifiziert, die zumindest die psychosozialen Funktionen sozialer Fellpflege besitzen: Horn- bzw. Kopfreiben und Verweilen im Wangenkontakt. Während ersteres in der Literatur gelegentlich erwähnt und kontrovers interpretiert wird (agonistisch vs. respektanzeigend), wurde Verweilen im Wangenkontakt erstmals dokumentiert. Für beide wird eine Einordnung in den soziopositiven Verhaltenskontext vorgeschlagen. Die Untersuchungsspanne erlaubte, Freundschaften max. 18 Monate zu verfolgen. Die Dauer der Bindungen der Pferde und Schafe entsprach den Literaturangaben für Herden mit einem Sozialgefüge aus Freundschafts- und Verwandtschaftsanteilen, die der Rinder war kürzer, die der Esel zweimal so lang wie bisher bekannt. Präferenzen in verschiedenen Situationen scheinen in unterschiedlichen Phasen der Freundschaftsentwicklung verschieden häufig aufzutreten. Der Aspekt der Asymmetrie wird besonders bei der unilateralen sozialen Fellpflege der Boviden deutlich. Ähnlichkeit bzgl. des Alters (Rinder) und des Besitzes von Hörnern (Schafe) begünstigte Freundschaften signifikant. Die gängige Ansicht, Pferde ähnlicher Farbe bevorzugten einander, bestätigte sich nicht. Die Funktionen von Huftierfreundschaften äußern sich weniger in einem direkten, praktischen Nutzen, sondern treten als psychologischer Nutzen in Form von sozialer, emotionaler Unterstützung in Erscheinung. Emotionale Unterstützung und soziale Fellpflege reduzieren psychologische und physiologische Streßsymptome. Über diese gesundheitsfördernde Wirkung besitzen Tierfreundschaften einen indirekten praktischen Nutzen. Davon profitieren sowohl Tiere als auch Tierhalter (ethischer und anthropozentrischer Tierschutz). Voraussetzung für gesunde, effiziente Tiere sind Haltungsbedingungen, die ihren physischen und psychosozialen Bedürfnissen entsprechen. Für die Umsetzung der Ergebnisse in der Tierhaltungspraxis wurden Anwendungsempfehlungen erstellt. Ein Regelkreismodell integriert die verschiedenen Aspekte der Arbeit, visualisiert ihre Wechselbeziehungen und erleichtert das Formulieren präziser Hypothesen für zukünftige Forschung.
Umfang:317 Seiten
DOI:10.17192/z2003.0639