Kraus, Matthias: Atom Egoyan. Ein Filmemacher aus Kanada. In: Ahornblätter.
Marburger Beiträge zur Kanada-Forschung. 11. Marburg 1998.(Schriften
der Universitätsbibliothek Marburg ; 84)
http://archiv.ub.uni-marburg.de/sum/84/sum84-8.html
Matthias Kraus
Atom Egoyan. Ein Filmemacher aus Kanada
I.
Die Geschichte des kanadischen Films ist vor allem eine Geschichte
mehr oder weniger mißglückter Filmförderung, zumindest
was den Spielfilm betrifft. Doch ohne staatliche Filmförderung läuft
und lief in Kanada in Sachen Film fast gar nichts. Ted Magder, Direktor
des Mass Communication Program an der Universität von York, Ontario,
berichtet, im Jahr 1902 habe sich ein Farmer namens James Freer entschlossen,
Filmemacher zu werden und sei mit einem Programm von kurzen Dokumentarfilmen,
die die Besiedlung der Wüstengebiete Kanadas fördern sollten,
durch England getourt. Finanziert wurde das Ganze von der Regierung. Da
Freers' Reise nicht so erfolgreich war, wie erwartet, entließ ihn
die Regierung, gab ihre Pläne des strategischen Einsatzes des jungen
und zur Vermittlung von Bildung, Information und Propaganda äußerst
effektiv erscheinenden Mediums Film jedoch nicht auf. (Magder 1993: 3).
1918 wurde das Canadian Government Motion Picture Bureau (CGMPB) gegründet,
dessen direkter und besser bekannter Nachfolger, das National Film Board
of Canada (NFB), weltweites Ansehen durch die Produktion Tausender von
Dokumentar-, Animations-, Spiel- und Experimentalfilmen erlangte. Das heißt
aber nicht, daß mit der Gründung des Motion Picture Bureau die
Entwicklung einer Filmindustrie begonnen hätte, zumal der Film, resp.
der Spielfilm kein besonders hohes Ansehen in Kanada genoß. Die neu
gegründete Institution führte eher die Idee weiter, Kanada bzw.
die kanadische Idee per Film in alle Welt zu exportieren. De facto gab
und gibt es bis heute in Kanada kein Äquivalent zu den französischen
Gaumont und Pathé, der deutschen UFA und schon gar nicht zu den
amerikanischen major-companies. Die zahlreichen in Kanada produzierten
Dokumentarfilme verstanden sich als Medium des Erhalts und der Dokumentation
nationaler Traditionen und Werte. Da aber zweifellos ein Bedarf an Spielfilmen
bestand und sich durch die Distribution und Aufführung von Spielfilmen
eine Menge Geld verdienen ließ, gingen die Kinobesitzer weitreichende
Arrangements mit US-amerikanischen Produktionsfirmen wie Columbia, Paramount
und MGM ein und zeigten mangels kanadischer eben ausländische Filme.
Nichtsdestotrotz erkannte die amerikanische Filmindustrie die Attraktivität
des Nachbarn als Produktionsort, was ironischerweise zur Folge hatte, daß
bis in die späten fünfziger Jahre über 500 Hollywoodfilme
entstanden, die vor der Kulisse Kanada spielen oder von Kanada handeln,
etwa zehnmal so viele wie kanadische über Kanada. (ebd.: 5) Als US-amerikanische
Produktionsfirmen das Filmland Kanada um 1914 entdeckten, entstand gar
ein neues Genre, das "northwoods melodrama" und sein Sub-Genre,
der "Mountie-Film", das gängige Genreelemente auf Geschichten,
die in die Landschaft passen sollten, übertrug (ebd.: S.21). Aus heutiger
Sicht wirken diese Filme wie Karikaturen des viel zitierten "Great
White North" (ebd.). Zudem war Kanada, neben den USA selbst, der zweitgrößte
Absatzmarkt für Hollywoodfilme. Bis Ende der sechziger Jahre gab es
keinen ernsthaften Versuch des kanadischen Staates, die Produktion von
Spielfilmen in Kanada wirklich anzukurbeln. 1968 wurde die Canadian Film
Development Corporation (CFDC) gegründet, heute bekannt als Telefilm
Canada, eine Institution, die die private Produktion von Spielfilmen fördern
sowie die Entwicklung einer nationalen Spielfilmindustrie initiieren sollte
- über 70 Jahre nach Erfindung des Films und einer fast ebenso langen
Periode US-amerikanischer Dominanz auf dem kanadischen Filmmarkt, von
der sich Kanada bis heute nicht erholt hat. Zwar werden Filme produziert,
doch hält sich das stark in Grenzen. Zwar gibt es mittlerweile einen
schmalen Kanon klassischer kanadischer Filme, der jedes Jahr um ein oder
zwei Produktionen ergänzt wird, doch ist die kanadische Filmindustrie
weit von einem Zustand der Stabilisation entfernt. Hinzu kommt, daß
die USA den Nachbarn weiterhin als domestizierten Absatzgaranten behandeln
und die Kinos und Fernsehbildschirme des Landes nur von einem verschwindenden
Bruchteil an eigenen Produktionen gefüllt werden (3-5%). Die Hauptschuld
für die unterentwickelte Filmindustrie Kanadas und den dadurch bedingten
und beförderten Medienimperialismus durch die USA lastet Magder der
kanadischen Regierung an, die in den ersten 30 Jahren des Films versäumt
habe, eine filmindustrielle Infrastruktur zu forcieren, die Gründung
staatlich subventionierter Produktionsvereinigungen zu fördern, angesichts
des heraufziehenden Kulturkolonialismus' Hollywoods eine laissez-faire-Haltung
eingenommen und dem (kanadischen) Film generell seinen kulturellen Wert
aberkannt habe (ebd.: 25): Es bestand von staatlicher Seite einfach kein
Interesse am kanadischen Spielfilm. Gleichzeitig fehlte in der kanadischen
Gesellschaft auch ein Bewußtsein für die Notwendigkeit der
Etablierung einer eigenen Filmindustrie: Man orientierte sich an Hollywood
und Westeuropa. "It was an opinion shared by many Canadiens: the prospect
of feature film production in Canada was a choice between inviting British
or American producers to do the work themselves." (ebd.: 31)
Mitte der achtziger Jahre begann die kanadische Regierung endlich damit,
das Hauptproblem der Filmindustrie ins Auge zu fassen: die fehlende Kontrolle
der Produktionsfirmen über Vertrieb und Aufführung im eigenen
Land (ebd.: 213), doch schien es hierfür fast zu spät zu sein.
Denn auch während der achtziger Jahre gelang es der Filmwirtschaft
nicht, ein ökonomisch stabiles System zu etablieren - trotz vieler
staatlicher Reglementierungen und Auflagen, was die Distribution der größtenteils
durch Subventionierung entstandenen Produktionen betrifft. Die inländische
Industrie hatte sich zu lange der ökonomischen Vormachtstellung der
USA ausgesetzt, sich in seine Strukturen zu integrieren versucht und darüber
versäumt, eigene, tragfähige Strukturen aufzubauen. Zudem hatten
die US-amerikanischen Distributoren nach wie vor wenig Interesse an der
Vermarktung kanadischer Filme.
Dennoch entfaltete sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre
ein kreatives Potential häufig unabhängig produzierter Filme,
die den kanadischen Film ins Bewußtsein der filminteressierten Weltöffentlichkeit
rückten und zu internationalen Kritikerfolgen führten. Um nur
einige zu nennen: Denys Arcand: The decline of the American Empire, Leon
Marr: Dancing in the dark, Anne Wheeler: Loyalties, Jean-Claude Lauzon:
Un Zoo la nuit, Patricia Rozema: I've heard the mermaids singing Bruce
Macdonald: Roadkill, Highway 61, Bill MacGillivray: Life Classes, Cynthia
Scott: The Company of Strangers und schließlich Atom Egoyan: Family
Viewing, Speaking Parts, The Adjuster.
Die Qualität dieser Produktion ist beispiellos für die Geschichte
des kanadischen Kinos und füllt die Nische des 'art cinema'. Dennoch
muß betont werden, daß auch diese Independent-Produktionen
indirekt ebenfalls abhängig sind vom amerikanischen Markt: Schließlich
hat die US-amerikanische Film- und Fernsehproduktion in Kanada ja erst
dazu geführt, daß eine effektive filmindustrielle Infrastruktur
in den kanadischen Metropolen entstehen konnte. Die Filme von Egoyan, Macdonald,
Rozema und anderen profitieren von den nun preiswerteren und präsenten
Crews, den entstandenen Studios und dem billigen Dollar: "It would
seem that the production of a small amount of specifically Canadian cultural
products is dependent upon the commercial viability of an industry whose
primary orientation is US demand." (ebd.: 229f.) Diese Nischenproduktion
ist aber das Interessante am kanadischen Kino: Während heute einerseits
mehr Produktionen und Koproduktionen als je zuvor für den internationalen,
resp. US-amerikanischen Markt entstehen, die sich nicht sehr vom Hollywood-Mainstream
unterscheiden, hat diese Abhängigkeit von anderen Märkten paradoxerweise
erst die Voraussetzungen für eine unabhängige Filmproduktion
mit spezifisch kanadischer Handschrift geschaffen.
II.
Atom Egoyan gilt der internationalen Kritik als derzeit profiliertester
Vertreter dieser kanadischen Avantgarde. 1960 in Kairo als Sohn einer Künstlerfamilie
und Angehöriger der armenischen Minderheit geboren, floh die Familie,
als Egoyan drei Jahre alt war, vor der nationalistischen Politik Nassers
nach Victoria, der an der Süd-Ost-Küste von Vancouver Island
gelegenen Hauptstadt der kanadischen Provinz British Columbia. Dieses geopolitische
Setting stellt einige entscheidende Koordinaten zum (biographischen) Verständnis
von Egoyans späterem Filmschaffen bereit, das die Topoi von nationaler
und familiärer Identität immer wieder variieren bzw. hinterfragen
wird: Als Kind kam Egoyan in ein Land, dessen Sprache ihm fremd war.
Kindheit und Jugend waren wesentlich von dem Gedanken der perfekten Assimilation
bestimmt, Egoyan vergaß seine Muttersprache und wurde Kanadier.
Diese bewußte Verdrängung eines nativen kulturellen Gedächtnisses
findet ihr entscheidendes Gegengewicht in den Aktivitäten des Vaters,
ein solches künstlich herzustellen und zu konservieren; Joseph Egoyan
drehte hunderte von Super-8-Filmen von der Familie, vom Haus, von Ägypten
und Kanada. Parallel dazu führte er ein Tonband-Tagebuch: eine Sozialisation
im Stadium ihrer permanenten medialen Reproduktion durch den Vater, dessen
Werkzeug, die Kamera, auch den Status eines Machtinstrumentes erhält.
Die Analyse von (dysfunktionalen) Familien durch das Medium Film, in dem
sie zugleich erscheinen und durch das sie 'erinnert' werden, die Problematik
der Konservierung von Erinnerungen schlechthin, werden zum festen motivischen
Inventar von Egoyans Filmen; so etwa in Family Viewing (1987), in Form
von Home-Movies in der Ästhetik eines simulierten, professionellen
Dilettantismus. Trotz allen Kalküls, das manchem Kritiker Egoyan als
steril und kalt erscheinen ließ, und trotz des enormen Formwillens,
den man seinen Arbeiten ansieht: Gerade die unverwechselbare Mischung aus
emotionaler Wärme, (Selbst-)Reflexion und Ironie ist es, die Egoyans
Filmen ihren einzigartigen touch verleiht. "He has soul", eine
Qualität, die sich nicht beschreiben läßt, ohne zu stereotypisieren,
wie der kanadische Produzent André Bennett urteilt (Bohr 1995).
In Toronto studierte Egoyan Politologie und klassische Gitarre, die er
in einigen seiner Filme auch selbst spielt. Nach der Schulzeit wollte er
zunächst Dramatiker werden, begann aber gleichzeitig mit der Arbeit
an dem Script zu Next of kin (1984), dem ersten Spielfilm. An der University
of Toronto entstanden erste, von universitären Förderinstitutionen
subventionierte Kurzfilme. Die Preisgelder, die diese Arbeiten gewannen,
flossen in weitere Projekte. Der halbstündige Kurzfilm Open House,
mit einem Budget von 10.000 $ der bis dahin teuerste, wurde in der Reihe
"Canadian Reflections" von der CBC (Canadian Broadcast Corporation)
im Fernsehen gesendet und erwies sich als das erste kommerziell rentable
Projekt. Um Next of kin vollständig finanzieren zu können, mußte
Egoyan allerdings zwei Jahre bei den verschiedensten Institutionen hausieren
gehen und erhielt schließlich einen kleinen Etat von der kanadischen
Regierung. Nach Next of kin steuerte Egoyan einige Beiträge zu amerikanischen,
in Toronto produzierten Fernsehserien bei. Ironischerweise lernte er in
diesen Genres das Handwerk für actionreiche, kommerzielle Produktionen,
deren Ästhetik der Regisseur in seinen Spielfilmen subversiv unterläuft
und in Frage stellt.
Mit dem nächsten Film, Family Viewing, konsolidierte Egoyan seinen
Stil. Ein Darlehen von der OFDC (Ontario Film Development Corporation)
ermöglichte die Arbeit mit professionellen Schauspielern sowie – erstmals
– ein Gehalt für die Crew-Mitglieder. Family Viewing, mit dem Egoyan
der internationale Durchbruch gelang, ist ein typisches Beispiel für
die ökonomischen Mechanismen der Filmförderung (nicht nur in
Kanada): Um ästhetisch autonom arbeiten zu können, mußte
Egoyan wiederum mit einem sehr bescheidenen Budget auskommen.
Egoyans dritter Spielfilm, Speaking Parts (1989), wurde nach Cannes eingeladen.
Ebenfalls internationale Premiere hatte dort The Adjuster (1991). Zur gleichen
Zeit steuerte Egoyan die Episode En Passant zu dem Gemeinschaftswerk
Montréal vu par bei, an dem verschiedene kanadische Regisseure der
jüngeren Generation beteiligt waren. Als The Adjuster beim Festival
in Moskau einen Preis gewann, verwirklichte Egoyan sich mit dem Geld den
Traum, einen Film in Armenien zu drehen: Calendar (1993) wurde vom ZDF
koproduziert und bei der Berlinale 1993 uraufgeführt. Mit Exotica
(1994) erreichte Egoyans Karriere einen neuen Höhepunkt, als der Film
bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes mit dem Preis der Internationalen
Filmkritik ausgezeichnet wurde.
Egoyans Emigrantenstatus steht in einem sehr spezifischen Verhältnis
zu seiner Arbeit. Den Assimilationsprozeß betrachtet er als bewußte
und rationale Entscheidung, die jener seiner filmischen Protagonisten ähnelt,
andere Identitäten anzunehmen, Rollen zu spielen und diese schließlich
in einem – oft neurotischen – Vdrängungsprozeß vollständig
zu internalisieren: "Ich war mir absolut bewußt, zu einem bestimmten
Zeitpunkt meines Lebens, daß ich eine Persönlichkeit 'konstruieren'
wollte, ich wollte ein Anglo-Kanadier werden." (Süddeutsche Zeitung)
So etwa entschließt sich Peter in Next of Kin, die Identität
eines Verschollenen anzunehmen, indem er seine biologische Ursprungsfamilie
gegen eine Immigrantenfamilie eintauscht, die die Fantasien vom verlorenen
Sohn ihrerseits auf den vermeintlich Heimgekehrten projiziert. Die gesamte
berufliche Existenz des Versicherungsbeauftragten Noah Render in The Adjuster
gleicht einem Spiel, in dem er zum Hauptdarsteller innerhalb eines absurden
Gefüges von Obsessionen und Verlusterfahrungen wird. Häufig sind
es 'Regisseure', die in Egoyans Filmen das Drehbuch ihrer eigenen oder
anderer Leute Geschichte inszenieren – ein (Selbst-)Entwurf, der sich entschieden
gegen die nationale Definition von Identität richtet. Daß das
Konzept der selbstgewählten, selbstbestimmten Identität häufig
nicht aufgeht, liegt daran, daß Egoyans Protagonisten die Authentizität
von Erfahrung, die Persönlichkeit befördern könnte, zugunsten
einer durch und durch medial konditionierten Ikonographie der Emotionen,
Gesten und Erinnerungen aufgeben (müssen). Dieses Themenspektrum reflektiert
zwei zentrale Aspekte kanadischer Geschichte und Identität, die das
Werk Egoyans wie ein roter Faden durchziehen: Assimilation und die dadurch
bedingte Entfremdung einerseits, die Spiegelung dieser Prozesse andererseits
durch den Einfluß öffentlich und privat eingesetzter (Massen-)
Medien.
Obwohl das Moment des Ethnischen vielen von Egoyans Filmen einen ganz besonderen
'Look' verleiht, sollte diese biographische Referenz nicht zu hoch veranschlagt
werden. Armenische Charaktere, die armenische Sprache und entsprechende
visuelle Elemente repräsentieren nicht primär eine spezifische
ethnische Gruppe, sondern stehen eher symbolisch für eine verlorene,
d. h.: vergessene Vergangenheit, die sich zwar auf Egoyans Emigrantenstatus
beziehen läßt, in ihrer Bedeutung aber darüber hinausgeht
und einen allgemeineren Diskurs eröffnet: Die Vergangenheit ist zwar
häufig im Ethnischen verwurzelt, entscheidender aber ist, daß
diese Spuren in einem mehr oder weniger geschlossenen System medial konservierter
'Erinnerungen' verwischt, verfremdet, verändert werden. Die durch
elektronische Bilder reproduzierte Vergangenheit löscht die mentalen
Erinnerungsbilder, die von ihr existieren oder existiert haben, aus. Fremdheit
in einer fremden Gesellschaft ist stets gekoppelt mit der vermeintlichen
Vertrautheit der Bilder, die von dieser Gesellschaft überliefert sind,
die sie gleichwohl repräsentieren als auch von einer angenommenen
Realität abkoppeln. Nicht nur in diesem Punkt sind Egoyans Filme äußerst
selbst-bewußt und reflexiv; sie durchbrechen und sabotieren die narrative
Logik des Mainstream-Kinos und stellen den Referenzwert der Bilder permanent
in Frage. Eine Montage der Verhinderung vereitelt das selbstvergessene
Eintauchen in die Leinwand, da der Regisseur (resp. die Kamera) ständig
präsent ist und uns zur Interpretation von Ursprung, 'Authentizität'
und Bedeutung der Bilder zwingt. Besonders eklatant wird diese Strategie
in Calendar. Der Film kompiliert verschiedene, einander durchdringende
Prozesse des Erinnerns in unterschiedlichen Stadien ihrer Reproduktion,
die sich gleichwohl als erzählerisches Präsens gerieren. Ähnliches
gilt für Family Viewing: Der Film kann einerseits als narratives Kontinuum
gelesen werden; andererseits verweisen die heterogenen Bildqualitäten
auf unterschiedliche Kontexte, denen die Bilder entnommen wurden (Überwachungskameras,
Home-Movies, Fernsehbilder, Videobilder unterschiedlicher 'Generationen').
So läßt der Film die Perspektive des Betrachters oszillieren
zwischen filmischer Fiktion und deren reflexiver Brechung: Egoyan, der
Sachverständige menschlicher Gefühle (Bohr 1995), überläßt
uns an keiner Stelle seines Werks einem unreflektierten Voyeurismus.
Häufig verwertet Egoyan reale Ereignisse zu Ideen, die auf der Leinwand
als Metaphern figurieren; so etwa das Hotel als Ort, an dem sich Öffentliches
und Intimes vermischen und an dem die Vorstellung von Geborgenheit nachgerade
prostituiert wird (The Adjuster, Speaking Parts; Egoyan arbeitete im Alter
zwischen 14 und 18 Jahren in einem Hotel). Auch die Figur des Versicherungsangestellten
im Adjuster, der in das Privatleben von Familien und Einzelpersonen eindringt,
persönliche Gegenstände auf ihren Marktwert schätzt und
so selbst zur Metapher für die Umwertung des Intimen wird, ist von
einem biographischen Erlebnis inspiriert: 1989 brannte das Geschäftshaus
des Vaters ab und rief einen solchen Sachverständigen auf den Plan.
Die elementarste Verknüpfung von Leben und Werk ist sicher darin zu
sehen, daß Arsinée Khanjian, Egoyans Frau, zugleich seine
ständige Hauptdarstellerin ist, daß sich Egoyan aber gleichzeitig
des generell Perversen, Voyeuristischen bewußt ist, das dem Akt des
Bildermachens eignet, zumal wenn die Kamera einen geliebten Menschen fokussiert:
Die Ausbeutung des Bildwertes und die Reduktion des "Motivs"
zum Objekt sind unvermeidliche Begleiterscheinungen des Filmens. Dieser
Automatismus der Perversion gipfelt in Khanjians dickem Bauch in Exotica,
den sie als schwangere Nachtclubbesitzerin 'zur Schau' stellt; im Film
figuriert er ebenso als fiktionales narratives Element wie auch als intimes
biographisches Zeugnis: Bildwert und referentieller, "dokumentarischer"
Wert sind hier untrennbar miteinander verknüpft und verweisen so exemplarisch
auf die Ambivalenz des Bildes schlechthin.
Egoyan hat ein sehr reflektiertes Verhältnis zu den neuen, verfeinerten
elektronischen Aufzeichnungsverfahren und ist sich dessen bewußt,
daß sie mit Erinnerung wenig zu tun haben, auch wenn etwa die Firma
KODAK für ihre Produkte mit dem Slogan wirbt: "Make memories
come alive". Die Gefahr medialer Rekonstruktionsversuche besteht gerade
darin, daß diese Bilder Erinnerungen evozieren können, deren
Referenzen so nie existiert haben. Die Bilderwelten fiktionalisieren Realität,
erzählen sie als 'Geschichte', die als künstliche Oberfläche
den Prozeß des Erinnerns nicht befördert, sondern ersetzt. So
bezeugen Fotos und Videofilme etwa der Familie nicht die Existenz dieser
Familie, sondern sie konstituieren sie außerhalb ihrer selbst. Und
sie etablieren ein Blick-Objekt-Verhältnis zwischen Photograph (normalerweise
dem Vater) und dem Rest der Familie. Mit der Zeit und einer steigenden
Anzahl an Photographien und Filmen scheinen diese zu Dokumenten einer Entwicklung
zu werden, scheinen Leben objektiv zu bezeugen.
Die Konservierung von Erinnerungen per elektronischer Aufzeichnungsverfahren
hat längst ein obsessives Stadium angenommen, von dem sich der Filmemacher
selbst keineswegs ausschließt: "Ich bin mir all dessen bewußt,
seit ich ein Kind habe: diese ganze Idee, dieser Zwang geradezu, alles
aufzuzeichnen, und dieses Schuldgefühl, wenn man es nicht tut. Man
denkt, das Kind wird erwarten, daß diese Archive da sind, wenn es
älter ist." (Presseheft Exotica). Diese Entwicklung begleitet
und kommentiert Egoyan in seinen Filmen als interessierter und kritischer,
stets distanzierter Beobachter. Damit wiederholt oder eher: interpretiert
er den Standpunkt seines Vaters gegenüber der Familie und schreibt
– mit professinellen Mitteln – eine Familientradition fort, die signifikant
ist für die Kultur westlicher Industrienationen der letzten 20 Jahre.
III.
Um zu erläutern, wie sich das Verhältnis zwischen Bild und
Wirklichkeit bei Egoyan darstellt, sei nun noch ein etwas detaillierterer
Blick auf eine Sequenz aus Egoyans erstem Spielfilm, Next of kin, geworfen.
Eines von Egoyans zentralen Interessen gilt der Authentizität, besser:
dem Wert des Bildes. Am offensichtlichsten tritt dieses Anliegen zutage
in seiner Verwendung von Video als zweiter Bildebene.
Ein junger Mann und eine junge Frau sitzen auf zwei nebeneinander angebrachten
Schaukeln auf einem Kinderspielplatz. Peter (Patrick Tierney) erzählt
Azah (Arsinée Khanjian), es sei eine gute Sache, Dinge vorzutäuschen
("pretending"); es sei leichter, Theater zu spielen, als die
Wahrheit (über sich) zu sagen. Während die Kamera zurückfährt
aus einer halbnahen Einstellung, die beide, im Profil leicht angeschnitten,
als auf der Schaukel bewegte Körper zeigt und in einer Viertelkreisfahrt
in eine halbtotale Position wechselt, fordert Azah Peter auf, von sich
und seiner Familie zu erzählen und warum er sie verlassen hat. Beide
schaukeln jetzt in Richtung Kamera, die in einer fast frontalen, leichten
Aufsicht zum Stillstand kommt. Nun passiert etwas Ungewöhnliches:
Während Peter seine Beweggründe nennt und als offensichtlich
("obvious") bezeichnet, wird – genau an dieser Stelle – für
den Bruchteil einer Sekunde ein Videobild eingeschnitten: Peter groß,
in einer schräg angeschnittenen Frontalansicht, die jener Perspektive
entspricht, in der sein Kopf – im Aufschwung der Schaukel – in diesem Moment
erscheint. Dieser Zwischenschnitt wiederholt sich, als Peter weiter erklärt,
eine innere Regung ("something inside me") habe ihn dazu bewegt,
Azah und ihre Familie zu suchen.
Wer Next of Kin bis zu der Stelle gesehen hat, kann diese eingeschnittenen
Videobilder sofort identifizieren: Sie wurden am Beginn des Films gezeigt,
im 'Moment ihrer Aufzeichnung' während der Sitzung bei einem Familientherapeuten
(Phil Rash), zu der Peters Eltern ihren Sohn wegen dessen allgemeiner Lethargie
und Antriebslosigkeit genötigt hatten. Als Peter die Praxis später
erneut besucht, um die Aufnahmen anzusehen, vertauscht er die Cassetten
und sieht statt Aufzeichnungen von der eigenen Familie diejenigen von einer
fremden, armenischen Familie. Interessiert verfolgt er am Monitor nun deren
Therapiesitzung in Form eines Psychodramas und erfährt, daß
der Sohn dieser Familie verschollen ist und daß dieser Verlust offenbar
für die neurotisch gestörte Vater-Tochter-Beziehung verantwortlich
ist. Peter entschließt sich, diese Familie zu besuchen und dort die
Rolle des Vermißten anzunehmen; er verläßt also seine
eigene Familie, und zwar eher aus Interesse am Experiment und an potentieller
als an zielgerichteter Veränderung. Seine ursprüngliche Identität
ist dem Zuschauer im Moment der oben beschriebenen Szene als in den Videoaufzeichnungen
konservierter Lebensabschnitt in Erinnerung.
Video kommt in Next of Kin eine weitgehend dramaturgische Funktion zu,
steht aber an einer entscheidenden Schnittstelle der Meinungsbildung
des Protagonisten: Video dient als erzählerisches Mittel, das dem
Helden (und auch dem Zuschauer) Informationen über andere Personen
an die Hand gibt. Dadurch exemplifiziert Egoyan mit relativ simplen Mitteln
eine entschieden neue Form des 'Lernens' bzw. der Aneignung von Erfahrungen:
nämlich durch vorgefertigte Bilder anstatt durch reale Ereignisse
(Shary 1995: 4f.). Das Videoband, das sich Peter am Beginn des Films anschaut,
enthält nicht nur narrative Informationen über die Vergangenheit
einer armenischen Familie, sondern bestimmt ebenso die zukünftigen
Aktivitäten des Hauptdarstellers – mehr noch: Die Bilder nehmen direkten
Einfluß auf Peters Entscheidung, seine Ursprungsfamilie zu verlassen.
Der Besitz der Informationen, die Peter über die Bilder erhält,
befördert ihn zudem in den Stand eines Informationsvorsprungs, der
ihm eine gewisse Macht gegenüber jenen Personen verleiht, deren intime
Koordinaten die Videobänder dokumentieren.
In seinem ersten Spielfilm schöpft Egoyan die Möglichkeiten des
Mediums Video noch nicht voll aus, obwohl diese in der oben beschriebenen
Szene optional angelegt sind. Peters Ursprungsfamilie – "white, upper
middle class" – existiert nur im flachen Modus des Videobildes, erscheint
im Rahmen des Monitors erstarrt; Beziehungen der Familienmitglieder zueinander
werden in der Eingangssequenz des Films erst durch die Disposition ihrer
Images über einen Schnittmonitor hergestellt, der es erlaubt, die
Bilder dreier Kameras zu psychologischen Sinneinheiten zu montieren. So
gerät die Repräsentationsform der Familie, ihre 'Erscheinungsform',
zu einem Wesenszug der Figuren, und so wird die visuelle 'Oberflächlichkeit'
zur Metapher für fehlende psychologische Tiefe in den Beziehungen.
Dementsprechend enthält das eingeschnittene Videobild in komprimierter
Form all die Gründe, deretwegen Peter seine Ursprungsfamilie verlassen
hat. Egoyan greift damit in Next of Kin ein Motiv auf, das in sämtlichen
seiner Filme vielfältig variiert wiederkehrt: Identitäts- und
Meinungsbildung sind nicht primär die Folge objektiver 'Anschauung',
sondern das Resultat von Repräsentationen. Identität wird selbst
als Konstruktion ausgewiesen.
Die offensichtliche Gegenüberstellung von Filmmaterial und Videomaterial
in Next of Kin würde vielleicht allzu didaktisch wirken, wenn der
Film nicht aus einer konsequent ironischen Distanz erzählt wäre.
Der 'Realismus der Fiktion', den die zweite visuelle Ebene in diesem Film
kontrastiert, wird in den späteren Filmen unterminiert durch die sukzessive
Durchdringung der beiden Ebenen. Aber Egoyan macht bereits hier sein Interesse
deutlich an dem Phänomen der Ersetzung realer durch mediale Erfahrung.
Die Videozwischenschnitte in der beschriebenen Szene sind keinem Blick
zugeordnet, weder einem der beiden Protagonisten, noch dem der Kamera;
sie mobilisieren lediglich unsere Phantasie, rekurrieren auf die Zeitform
des Perfekt, indem sie unsere Erinnerung an einen Körper mit einem
Videogramm besetzen; dieses Videogramm, das am Beginn des Films im Kontext
einer videographierten narrativen Einheit in den Erzählfluß
des Films eingefügt war, ist identisch geworden mit unserer Erinnerung
an den dazugehörigen Körper.
Egoyans Filme artikulieren ein starkes Interesse am Verhältnis zwischen
Bild und Betrachter, zwischen visuell-künstlicher und physisch-authentischer
Erfahrung, das generell symptomatisch ist für das zeitgenössische
Kino. Der Inhalt dieses Kinos ist in nicht geringem Maß der Zuschauer
selbst, sein Verhältnis zu den Bildern, der Dechiffrierungsautomatismus
von Zeichen, die Veränderung von Wahrnehmung, von Erinnerung und Geschichte
durch ihre komplette Repräsentation in audiovisuellen Codifikationssy-
stemen. Damit weist Egoyans Kino nicht nur über den kinematographischen
Kontext hinaus auf 'das wirkliche Leben', sondern fragt weiter nach der
generellen Determination der Alltagswahrnehmung durch das Paralleluniversum
der Bilder und markiert insofern eine Akzentverschiebung zu Godards bekannter
Forderung, politisch Filme zu machen (Godard 1971: 186): Im Zentrum des
Interesses steht nicht mehr allein das Potential des Films, soziale und
kulturelle Phänomene zu problematisieren und damit zu politisieren,
sondern das Bedürfnis, die Politik der Bilder selbst, die Durchdringung
sämtlicher Lebensbereiche mit ihren medialen Repräsentanzen durch
ihr exponiertes Medium, den Film, transparent zu machen. Damit verschiebt
sich nicht nur die Referenzebene der Bilder: weg von der 'Wirklichkeit'
hin zu anderen Bildern, sondern diese Unterscheidung im Wahrnehmungsprozeß
von Wirklichkeit wird letztlich selbst als Konstruktion entlarvt: Wenn
wir an Körper denken, denken wir in steigendem Ausmaß an Bilder
von Körpern. Wenn körperliche Integrität als konkretester
Ausdruck individueller Identität in einem geschlossenen Bilderuniversum
dupliziert ist, wenn 'Authentizität' immer schon im Bild vorweggenommen
ist, als Bild existiert, dann bleibt das für die Beziehung zum eigenen
und zum anderen Körper nicht folgenlos. Die Bereiche von Imagination,
Erinnerung und Phantasie scheinen lückenlos besetzt von medialen Gespenstern.
Der offensichtlichste und allgemeinste Ausdruck dieser Tendenz ist Video,
das Egoyan – anders als beispielsweise Kubrick, Antonioni, Wenders oder
Greenaway – nicht dazu instrumentalisiert, sein kinematographisches Vokabular
um neue ästhetische Qualitäten zu erweitern, sondern das er vielmehr
als Metapher für das Verschwinden der Realität aus unserer Wahrnehmung
einsetzt.
Film und Video folgen unterschiedlichen Genealogien der Bildapparate
und zeichnen sich durch grundverschiedene Materialitäten aus. Während
Film projiziertes Bewegungsbild ist, auf dessen Oberfläche sich die
Spuren der Lichtreflexion von Gegenständen abgezeichnet haben, setzt
sich das Videobild aus von einer Kathodenröhre ausgestrahlten Lichtbündeln
zusammen. Dennoch läßt sich eine direkte Entwicklungslinie in
der Rezeption von 'Realität' durch Photographie, Film und Video resp.
Fernsehen konstatieren. Das Photo konnte als erstes Medium Wirklichkeit
'einfangen'; seinen Zeugnischarakter verortet Roland Barthes in der Gewißheit
um die (vergangene) Präsenz des Referenten. Diese referentielle Beziehung,
in der Barthes das Grundprinzip der Photographie erkennt, bezieht sich
also nicht in erster Linie auf das Objekt, sondern auf das Objekt zu einem
bestimmten Zeit-Punkt, an dem es dagewesen sein muß (Barthes 1989:
87, 99, 102). Der Film brachte die Photographie in Bewegung und stellte
der 'wirklichen' Zeit künstlich organisierte Zeitstrukturen entgegen.
Mit Video erreichte die manipulative Bearbeitung medialer Repräsentationen
eine völlig neue Qualität, zumal in neueren Verfahren der digitalen
Schnitt- und Bildbearbeitung. Zudem bietet Video, im Zuge einer Entwicklung
der letzten 25 Jahre, potentiell jedem die Möglichkeit, selbst 'bewegte
Bilder' herzustellen und damit die eigene Vergangenheit narrativ aufbereitet
zu konservieren und zu archivieren. Mobilisierte Barthes' 'verschwundener'
Referent noch unsere Erinnerung an denselben, so behauptet das Video: So
ist es gewesen. Dem vor allem durch das Medium Fernsehen suggerierten Referenzwert
der (Video-)Bilder steht ein – häufig technisch erklärter – rapider
Abfall dieser Referenzialität diametral entgegen. Ein Blick auf die
unterschiedlichen Materialitäten und Rezeptionsweisen von Video und
Film indiziert eine Tendenz, die als sukzessives Verschwinden der Spuren
der Realität aus der Repräsentation interpretiert werden kann.
An die Stelle einer photochemischen Substanz und deren Reihung zur Bewegungsphotographie
tritt im Videoband eine "elektronisch gespeicherte und abrufbare Informationsstruktur"
(Gwózdz 1994: 183), in der die Bilder in einem quasi immateriellen
Zwischenbereich verschwinden. Der Lichtabdruck auf dem einzelnen Filmbild
als Spur des Realen findet keine Entsprechung im Videobild, das primär
Datenstrom ist und erst in zweiter Linie auf eine vorgängige Realität
verweist. Das "Scanning" des Videobildes, die ständige Bewegung
und Veränderung der Bildpunkte, fügt der Bewegung des Filmbildes
eine weitere Dimension hinzu (Preikschat 1987: 57). Das Bildkorn als wertrelevantes
Teilchen des Filmbildes zerfließt dagegen in diesen Pixeln des Videobildes,
dessen Verbreitung im Ensemble der elektronischen und digitalen Medien,
mittels Vernetzung über Interfaces, zu einer mehr oder weniger in
sich geschlossenen immateriellen Welt geführt hat, die die materielle
durchsetzt (Sobchak: 1995: 442f.).
Im Video gewinnt das Strukturelle – als eine Möglichkeit der Wahrnehmung
neben anderen – an Bedeutung gegenüber dem 'Realen' (Preikschat 1987:
58). Der Fragmentierung der Wahrnehmung – etwa die mikroskopische Zeitwahrnehmung
durch Slow Motion, das Zersplittern von Ereignissen in wiederholbare Abschnitte,
das Herauslösen aus Kausalzusammenhängen oder die Überlagerung
'realer' durch mediale Relationen – entspricht die Zersplitterung des Bildes
selbst in einzelne Punkte (ebd.: 59). Video als Dispositiv wird so zum
Bindeglied zwischen den Apparaten zur elektronischen Erfassung, Verarbeitung
und Übertragung von Daten und zu einer Vermittlungsinstanz zwischen
technischer und symbolischer Kommunikation, die die Symbiose zwischen Mensch
und Maschine vorantreibt (ebd.: 67) und eine tendenzielle Entkörperlichung
der Repräsentation impliziert.
Egoyans Interesse besteht nun nicht in einer per se negativen, jedoch medienkritischen
Formulierung von Video. Mit filmischen Mitteln konstatiert der Regisseur
den Prozeß der Transformation unseres Bewußtseins, des Erlebens
und Erinnerns durch eine Überflutung mit Bildern, die sich in Form
von Home-Videos, Überwachungsmonitoren, Musik-Clips und allgegenwärtigen
Fernsehbildern den öffentlichen und privaten Lebensräumen einschreibt.
Video als realitätsmächtige Bewußtseinsmaschinerie löst
den Körper auf im elektronischen Dispositiv: je höher die (Bildschirm-)
Auflösung desto größer der Realitätseindruck.
Seit Exotica setzt Egoyan das Stilmittel Video als zweite visuelle
Ebene nur noch marginal ein; er ist sich der Abnutzung und Historizität
auch der eigenen filmischen Mittel durchaus bewußt und sucht nach
neuen Wegen. Konstatierten die früheren Filme Egoyans eine Auslöschung
des Körpers durch seine komplette Signifikanz im Visuellen, und stellten
sie den Körper in einem ironisch-distanzierten Gestus als mediale
Konstruktion aus, die seine Erfahrbarkeit zugleich unmöglich macht,
so betritt Egoyan mit Exotica einen anderen Weg der Darstellung:
Der Körper – als Bild vom Körper – wird zurückgeholt in
die Fiktion, seine Integrität indirekt eingeholt über seine Funktionalisierung
als Spiegel und Projektionsfläche, in der sich Körpererfahrung
– Identität – allerdings nur noch als Mangel zu artikulieren vermag.
Literatur
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1989. Originalausgabe: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris
1980.
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Porträt des Regisseurs.
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kanadischen Filmemacher Atom Egoyan. In: Süddeutsche Zeitung v. 23.10.1991.
Godard, J.-L.: Was tun? In: Ders.: Godard/Kritiker. Ausgewählte Kritiken
und Aufsätze über Film (1950-1970). München 1971 (Reihe
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J. (Hrsg.): Film, Fernsehen, Video und die Künste: Strategien der
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Sobchak, V.: The Scene of the Screen. Beitrag zu einer Phänomenologie
der "Gegenwärtigkeit" im Film und in den elektronischen
Medien. In: Gumbrecht, H. U.; Pfeiffer, K. L. (Hrsg.): Materialität
der Kommunikation [1988]. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1995.
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