Lange, Bastian: Das kanadische Unternehmen „Universität“: Alternativen für unser krisengeschütteltes Universitätssystem? In: Ahornblätter. Marburger Beiträge zur Kanada-Forschung. 11. Marburg 1998.(Schriften der Universitätsbibliothek Marburg ; 84)
http://archiv.ub.uni-marburg.de/sum/84/sum84-7.html




Bastian Lange

Das kanadische Unternehmen „Universität“: Alternativen für unser krisengeschütteltes Universitätssystem?


Der unverwechselbare Charme der idyllischen mittelhessischen Universitätsstadt Marburg begrüßt mich nach meiner Rückkehr aus Kanada. Er streckt behutsam seine Fühler nach mir aus, während ich zurückblicke und sich durch den auf die vergangenen Monate gewandten distanzierten Blick das neu Kennengelernte und noch Bekannte in unmittelbarer Nähe und neuer Perspektive zeigt. Der für viele immer noch gelobte und verheißungsvolle Kontinent universitärer Paradiese, sehnsuchtsvoller Zwischenstationen oder gar Endstationen studentischer Träume und Karrieren kann rückblickend dem alten und wiederum neu hereinbrechenden Gewohnten gegenübergestellt werden.

Am Anfang stand, das Gewohnte zu verlassen. Die gemütliche und etwas verschlafene pittoreske Provinzidylle Marburg wird für ein Studiensemester im Rahmen eines Austauschprogramms zwischen der Philipps-Universität Marburg und der University of Alberta [Edmonton] gegen Edmonton eingetauscht. Mysteriöse Zufälle, blanke Neugier auf das Land und die Universität [Wissenschaftslandschaft], platte Biographieproduktion, Freude am Experiment und eine Prise Glück waren die Zutaten, die mich nach genauer Überprüfung meiner Person und den für ein derartiges Vorhaben notwendigen Eignungstests an einem schwülen Sommertag den Flügeln der Air Canada anvertrauten. Ziel? Edmonton!

Edmonton? In der Provinz Alberta? Kanada! Bei der Suche nach meinem Ziel hilft Calgary auf die geographischen Sprünge: Der Austragungsort der Olympischen Winterspiele von 1992 ist ebenfalls in der Provinz Alberta angesiedelt. Die dabei erzielte mediale Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit gab der ansonsten wenig beachteten Provinz einen wichtigen Schub im internationalen Konzert. An den östlichen Ausläufern der Rocky Mountains gelegen, ist die Stadt westlichster Punkt der ausgedehnten und relativ unspektakulären, endlosen innerkanadischen Ebene. Ein 20-minütiger Flug katapultiert den Reisenden immerhin an den äußersten Rand des auf den ersten Blick und durch die Fensterluke des engen und kleinen Flugzeuges zu beobachtenden, losen und dünnen Siedlungsbreis Edmontoner städtischer Expansionspolitik. Der Flughafen liegt inmitten endloser Farmländereien. Von der Stadt ist außer einer überdimensionalen Verkehrsader wenig oder überhaupt nichts zu entdecken . [1]

Obwohl seit den 80er Jahren wirtschaftlich prosperierender als Calgary, zudem Provinzhauptstadt von Alberta, sportlich erfolgreicher durch die glorreichen Zeiten eines Wayne Gretzky und Mark Messier bei den Edmonton Oilers, ist Edmonton städtebaulich den postmodernen Spiegel-Glas-Marmor- Verspieltheiten noch nicht gänzlich zum Opfer gefallen. Aus den wirtschaftlichen Boomzeiten der 80er Jahre stammt auch die flotte und fixe Idee eines Flughafens mit internationalem Maßstab. Dieser sollte an der zukünftigen Siedlungsperipherie der dann [wann?] expandierten Stadt liegen. Der alte Flughafen war aufgrund seiner zentrumsnahen Stadtlage für einen weiteren Ausbau kein Gegenstand der Debatte. Der neue Flughafen wurde geplant, gebaut, ebenso die lange Strecke zur eigentlichen Stadtregion Edmonton. Die Distanz zwischen dem in den 80er Jahren gebauten Flughafen und dem Innenstadtbereich beträgt stolze 45 km. An dieser neu geschaffenen Verkehrsachse sollten sich, so die Planungen, Unternehmen, Industrie, Dienstleistungsbetriebe und Wohnmöglichkeiten ansiedeln. Nach halber Strecke auf der Fahrt zur Stadtregion Edmonton sieht man von der 6-spurigen Autobahn den soge- nannten White Elephant - einen 15-stöckigen, ausladenden, wuchtigen, weißen Wohnkomplex: Er ist eine weitere bemerkenswerte Chiffre fehlgeschlagener Stadtentwicklungsplanung und hat seit seiner Existenz mit immensen Ver- mietungsproblemen zu kämpfen. Wer wohnt schon gerne zwischen Flughafen und dem Beginn eines breiten Bandes loser Ansammlung von Dienstleistern, diversen Baumarkt-, Autoservice-, Drive-in- und Reparaturketten?

Die Fahrt geht direkt auf die sich am Horizont abzeichnende Skyline der Downtown zu, vorbei an den ersten hermetisch von übrigen Business-orientierten Gebieten abgetrennten Residential Areas. In dieser Hinsicht legt Edmonton vorbildlich Zeugnis einer Stadtplanungspolitik der 50/60er Jahre ab. Federführend bei der in fast allen nordamerikanischen Ballungsgebieten dominierenden Grundidee war der New Yorker Stadtplaner C. Perry: Besonders die in den 20er und 30er Jahren in New York, aber auch in zahlreichen anderen boomenden Städten grassierenden sozialen und hygienischen Zustände veranlaßten C. Perry zu einer rigorosen funktionalen Trennung. So entstanden reine Residential Areas mit einer zentral gelegenen Minimalausstattung an Versorgungseinrich- tungen des täglichen Bedarfs. Daneben entstanden in „sicherer" Distanz „reine" Business oder Industrial Areas, neuerdings Parks genannt. Vor mir tauchen spiegelnde, kerzenartige Hochhäuser auf, inmitten der Stadt, die mich die folgende Zeit beherbergen soll . [2]

Neugieriges Verlangen, vielleicht unempathischer mit Studieren zu charakterisieren, führt mich im Rahmen eines Austauschprogrammes an die University of Alberta, Edmonton . [3] Das Ziel, die University of Alberta, Edmonton, liegt noch städtisch verborgen vor mir, und gespannt harre ich der Dinge, die da kommen werden. Es ist kaum zu leugnen, daß diese ersten Eindrücke befremdlich auf mich wirken und Abwehr erzeugen. Im gleichen Atemzug erscheint die hessische Provinzidylle, die sämtliche Träume eines Studentendaseins zu erfüllen vermag, plötzlich in neuem Glanz. Abwehr und Verlangen gehen in diesen Momenten Hand in Hand.

Was bietet sich also rückblickend Besseres, als einige strukturelle Vergleiche zweier Universitätssysteme vorzustellen, anstatt in bekannte Begeisterungs-, Lob- und Danksagungsfloskeln abzutauchen. Die direkte Erfahrung in beiden Systemen sowie meine vorangegangene, eineinhalb Jahre dauernde Tätigkeit als studentischer Studienberater bei der ZAS [Zentrale Arbeitsstelle für Studienorientierung und - beratung] prädestinieren dies geradezu. Zudem dürfte das Genre des klassischen Abschlußberichtes mit den üblichen versteckten „Schmankerln" am Ende reichlich be- kannt und erprobt sein, so daß ich gerne darauf verzichten möchte. Reisen bildet, so subsumierten viele Heimgekehrte und vermögen damit Neid zu erwecken ob der Erfahrungen und des Erlebten in der Ferne. Was bleibt, sind zur Schau gestellte Exkursionen, Nabelschau, verklärt durch die Brille der eigenen Herkunft. Ich halte es für interessanter, eine kleine Reise in die Gefilde der Bildungsinstitutionen vorzunehmen . [4]

"...it makes sense!" Das Begrüßungsschild der University of Alberta, am zentralen Einfahrtsbereich auf dem riesigen Universitätscampus gelegen, gibt die Marschroute vor. Eine „Sinnproduktionsstätte“ erwartet mich. Oberflächliche und äußerliche Verknüpfungspunkte lassen schnell vermuten, daß eine Unternehmensberatung am Werke war; das Logo der Universität und das überall anzutreffende Layout, eingängige und griffige Slogans prangen einheitlich und für jedermann sichtbar an den zentralen Stellen des Universitäts-Campus. Die Corporate Identity soll Gemeinsinn erzeugen, alle auf klare Ziele hinarbeiten, ihre Leistung in den Dienst eines größeren Ganzen stellen lassen. Die Universität zeigt sich als Dienstleisterin und Unternehmen mit dem Ziel ständiger und besserer Outputerhöhung. Seien es die ehrgeizigen Erwartungen des Dekans bei der Begrüßung der Neuankömmlinge [insbesondere der Graduate Students] oder die tägliche Spendenmeßlatte auf dem Campus, die anzeigt, wieviel zum geplanten, da kalkulierten, Spendensoll noch im Universitätshaushalt fehlen: Allerorts dominiert Wettbewerbsorientierung, Leistungsbereitschaft und „Output“-erhöhung. Hektische Betriebsamkeit von knapp 30000 eingeschriebenen Studierenden, die sich zielstrebig auf unsichtbaren Schienen zu bewegen scheinen, komplettieren das Bild eines universitären Unternehmens. Leistungsmaximierung, Effizienzerhöhung und darwinistischer Kampf um den Platz an der Sonne waren in den ersten Tagen Eindrücke, die in dieser Deutlichkeit und Obszönität mein Augenmerk auf dem Campus und in den Hörsälen auf sich zogen.

Der Frage, ob diese Beobachtung auch tiefgreifender im Universitätsalltag wiederzufinden ist und ob eine im Vergleich zur bundesdeutschen Universität grundlegend unterschiedliche Strukturierung der nordamerikanischen Universität die Sicherung des intellektuellen Niveaus [dies einmal als Grundannahme postuliert] gewährleistet, kann man sich nur vorsichtig annähern. Haben die rigorosen Veränderungen in Richtung unternehmerischer Gestaltung an fast allen nordamerikanischen Universitäten innerhalb der letzten Jahre auch zu deutlich einschneidenden Veränderungen geführt? Wie sehen diese aus? Kann man sie als Erfolg bewerten und können sie Modell stehen für eine hierzulande [angeblich] anstehende Strukturreform der bundesdeutschen Universitäten? Ziel ist es nicht, ein abschließendes Urteil vorschnell zu formulieren, vielmehr einige Erfahrungen zu einer breiter geführten Diskussion über die Hochschulreformierung beizutragen.

Diese Diskussion bezieht ihre Grundideen vorwiegend aus dem nordamerikanischen Universitätssystem und strebt in Teilen eine Übernahme dieser Ideen an. Zweiteilung des Studiums, Studiengebühren und eine Effizienz- und Marktausrichtung sind nur einige, wenngleich zentrale, Eckpunkte der hierzulande diskutierten Reformgedanken.

Die klare Trennung in ein Grundwissen vermittelndes und berufsqualifizierendes Undergraduate Program [Abschluß: B.Sc./B.A.] und ein auf die wissenschaftliche Laufbahn oder von vornherein höher qualifizierte Berufe ausgerichtetes Graduate Program [Abschluß: Master/Ph.D.] stellt wohl den Grundbaustein dieses Systems dar. Ein Undergraduate geht demzufolge in die school, ein Graduate strebt einen Magister-Abschluß oder eine Promotion an. Die sprachliche Differenzierung zieht eine in der bundesdeutschen Bildungslandschaft bekannte mit sich. Undergraduate-Kurse sind stark verschult, eine permanente Leistungskontrolle wechselt mit einem klar festgelegten „Output“ an Papers, Referaten und Klausuren. Der Geist tobt sich in der Fähigkeit aus, am Ende in allen Kursen und den Prüfungen die höchstmögliche Punktzahl zu erreichen.

Nach vier Jahren hat die Jagd nach Punkten und guten Noten ein unspektakuläres Ende. Ein summarischer Schlußstrich wirft eine Endnote aus. Die Analogie zur Schule [Haupt-, Realschule oder Gymnasium] liegt auf der Hand. Das im Anschluß mögliche Graduate Program bietet die Möglichkeit, eine dem Magister/Diplom ähnliche Arbeit zu schreiben oder eine Promotionsschrift anzufertigen. Graduate Programs sind forschungsbezogen, aufgrund der erforderlichen guten Abschlußnoten aus dem Undergraduate Program nicht für alle zu erreichen und Brutstätte des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Aufgrund der fachgebietsinternen Situation konnte ich einerseits Undergraduate-Kurse und ebenso Graduate-Kurse absolvieren. Es war verblüffend, wie eng und klar abgesteckt die erstgenannten sich von den offenen und freien letztgenannten abhoben. Selbst tendenziell mit den letzteren vertraut, stellt sich der permanente Wechsel als eine schwierige Aufgabe dar. In den Undergraduate- Kursen wird reproduziert, klare Lesevorgaben, fest umrissene Referatsthemen und schnell aufeinaner folgende Klausuren ließen keine Zeit zum Durchatmen. In meinem Graduate-Kurs sollte ich knapp vor dem eigenen Entwurf eines Masters-Themas stehen. Dieses „Programm" ähnelt dem bekannten Hauptstudium der bundesdeutschen Universität.

Die sicherlich vereinfachte und grob skizzierte Situation nordamerikanischer Universitäten erinnert in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung an jüngste Vorstöße und Vorschläge der Modifizierung bundesdeutscher Universitäten. Man attestiert ihnen fehlende internationale Konkurrenzfähigkeit, mangelnde Flexibilität, nicht vorhandene Praxis- und Berufsorientierung und Rückstände in Forschung und Lehre. Ganz zu schweigen von Kompetenzzuweisung und -verteilung zwischen Hochschule, Land und Bund bezüglich Finanzierung, organisatorischen Aufbaus, Auswahl der Studierenden und des Lehrkörpers. Kurz gesagt, die Universitäten in diesem Lande scheinen in einer Krise zu stecken.
Die dahinter stehende Frage lautet: Kann es sich das bundesdeutsche Universitätssystem aufgrund der vorherrschenden gesamtgesellschaftlichen, arbeitsmarkt- und bildungspolitischen Lage weiterhin leisten, in diesem Umfang und mit der existierenden Gleichförmigkeit Menschen akademisch auszubilden? Anders gefragt: Was ist diesem Land „Bildung" wert, und an welchen Ecpunkten/Leitbildern orientiert man sich?

Jüngst diskutierte Vorschläge wollen Grundwissen vermittelnde und primär berufsqualifizierende B.Sc./B.A.- ähnliche [Teil-] Studiengänge einführen. Diese haben ihre Wurzeln im nordamerikanischen Universitätsmodell. Oftmals wird aber übersehen, daß nordamerikanische Firmen und Unternehmen für ihre neuen B.Sc./B.A.-Schützlinge ein umfangreiches Trainingsprogramm bereithalten, das in dieser Form hierzulande [noch] nicht gewährleistet wird. Ebensowenig ist die Akzeptanz dieses Abschlusses auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt vorauszusetzen, da eine Vertrautheit mit dem immer wieder gepriesenen EU-Arbeitsmarkt meistens nicht vorliegt.

Der Vergleich offenbart meiner Meinung nach einen verklärten Blick bundesdeutscher Bildungshoffnungen auf [u.a.] das nordamerikanische Modell. Die gegenüber dem bundesdeutschen Abitur kürzere Schulzeit in Kanada ergänzt sich mit dem nicht existierenden Anspruch der nordamerikanischen High School, ihre Schützlinge gleichzeitig mit Literatur-, Chemie- und Musikkenntnissen sowie Kenntnissen in einigen Fremdsprachen ins postschulische Leben zu entlassen. Die ersten Semester an einer nordamerikanischen Universität übernehmen die Funktion der letzten Jahre am Gymnasium.

Ein weiterer Punkt auf der Suche nach Unterschieden im Bildungssystem läßt sich durch die jüngsten Wirtschaftserfolge Kanadas [siehe z.B. DIE ZEIT Nr. 45, 1.11.1996, S. 58] erklären. Diese sind einerseits gekennzeichnet durch erfolgreiche Senkung der Lohnnebenkosten, Sozialkürzungen und den Abbau eines komplexen Sozialsystems. Die notwendigen Ansiedlungserleichterungen für Unternehmen (z.B. sehr niedrige Gewerbesteuer und die Bereitstellung der Infrastruktur) taten ihr übriges, daß günstige Rahmenbedingungen die Schaffung von Arbeitsplätzen zur Folge hatten. Seit der Amtsperiode von Premier J. Chrétien sinken die Arbeitslosenzahlen, wenngleich sie immer noch auf einem sehr hohen Niveau liegen. Bildungspolitisch ergeben der landestypische arbeitsintensive Pragmatismus und die universitäre Flexibilität bezüglich der Ausrichtung auf die schnellen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt [z.B. Multimediabereich] eine im gleichen Atemzug zu nennende, interessante und erfolgreiche Kombination . [5] Die damit verbundene undogmatische Haltung gegenüber der universitären Ausbildung und die oben erwähnte Praxis- und Berufsorientierung erleichtert es oft, flexibel auf Veränderungen zu reagieren.

Ob die Umsetzung der angesprochenen nordamerikanischen Bildungsbausteine hierzulande zu begrüßen ist oder nur am Universitätssystem anzuklopfen vermag, muß im Einzelfall betrachtet werden. Es wird diskutiert, flexibilitätsfordernde Reformansätze stehen bewahrenden Strukturen gegenüber. Es sei jedem/jeder freigestellt, sich zu beklagen oder zu freuen, daß die institutionelle Durchsetzung eines neuen, glatteren Wappens für die Philipps-Universität, von der ehemaligen Vize-Präsidentin Prof. Dr. I. Langer vorangetrieben, in den Universitätsmühlen eines jahrhundertealten Traditionsgebildes zermahlen zu werden drohte. Ganz zu schweigen von weiteren Schritten, eine bundesdeutsche Universi- tät im Stile eines Unternehmens nach außen durch eine klare Corporate Identity zu repräsentieren. Über die Hintertüre ziehen Veränderungen jedoch schon lange in den [u.a. finanziellen] studentischen Alltag der Marburger Philipps-Universität ein. Selektive Kursgebühren, verschulte Grundkurse und ein generell härterer Wind kennzeichnen Kurse sowie fachbereichsinterne Geldverteilungen.

Die in der Debatte um Strukturveränderungen häufig bildungspolitisch geforderte Anlehnung an nordamerikanische Studiengebühren, nordamerikanische Zweiteilung der Universitätsausbildung und die unkritische Übernahme dort herrschender Lehr- und Seminarprinzipien demontieren in unnötiger Weise vorschnell bundesdeutsche universitäre Qualität zugunsten einer in der Industrie verwurzelten lean education. Dabei werden heutzutage hochbrisante und oft erwünschte berufsqualifizierende Eigenschaften nicht mehr gefördert. Die überall geforderte soziale und emotionale Kompetenz, verbunden mit Kommunikationsfähigkeit, eingebettet in eine „Patchwok-Biographie, sind meiner Meinung nach in einem rein auf Leistungsmaximierung ausgerichteten Universitätssystem nur schwer zu erreichen. Teamfähigkeit als persönliche Eigenschaft ist in einem Ausbildungssystem, das den Studierenden größere Entscheidungsspielräume offenhält und sie nicht durch finanzielle Mehrbelastungen, sprich Studiengebühren, in eine oftmals noch schwierigere finanzielle Lage drängt, besser zu entwickeln. Es weist ihnen zudem größere [Entscheidungs-] Kompetenzen zu, als es in einem System möglich ist, in dem alle Beteiligten auf ihr eigenes Wohlergehen unter Berücksichtigung und Mithilfe ihrer Ellenbogen bedacht sind.

Eingespannt in den straffen Universitätsalltag in Edmonton war es einer 14-köpfigen Seminargruppe [GEOG 389, Urban Planning], an der ich teilnahm, aufgrund individueller Abendjobs zahlreicher Seminarteilnehmer/-innen, unterschiedlicher Nachhilfestunden und anderer universitärer Verpflichtungen nicht möglich, eine 3-stündige Exkursion in einen nahegelegenen Stadtteil während der Woche vorzunehmen. Ganz zu schweigen von der zermürbenden Terminfindung meiner 3-köpfigen Arbeitsgruppe, die sich über 6 Wochen als schleppender und komplizierter, da ungeübter, Prozeß entpuppte.

Meine Erfahrungen machten mich stutzig, da ich diesen Freiraum von Beginn meines Studiums an in Anspruch genommen hatte. Ein breiter Bildungsauftrag mit humanistischen Wurzeln, individuellen Studienmöglichkeiten und Entscheidungskompetenzen von Anfang an, trägt eben nicht nur zur Leistungsmaximierung bei. Er fördert maßgeblich verdeckt berufsqualifizierende Eigenschaften. Darüber hinaus sind dies Eckpunkte eines [bisher] gesellschaftlich getragenen, breiten Bildungssystems.

Die hier skizzierten Merkmale werden unbeachtet in der Debatte beiseite geräumt, anstatt sie hervorzuheben. Kein Wunder, sie scheinen nicht mehr zeitgemäß. Die damit einhergehenden Qualitäten werden trotz ihrer Erwartung auf dem Arbeitsmarkt nicht berücksichtigt. Gerade in den letzten Jahren wurden Stimmen laut, welche die oben genannten Qualitäten hervorhoben und durch darauf ausgerichtete Seminar- und Lehrplangestaltung wiederbeleben wollen.

Die mittlerweile gängige [und leidige] Rückberufung auf deutsche unversitäre Gründungsväter [v. Humboldt, Schleiermacher, Kant, Hegel] erspare ich mir, sie zementieren allzu leicht Universitätstraditionen. Dennoch sei daran erinnert, daß diese immer wieder die Frage und Möglichkeit der Veränderung und Transformation der Institution „Universität“ neu aufwarfen.
Zwischen 1802 und 1816 wurde von Fichte und Schleiermacher anläßlich der Gründung der Berliner Universität eine Diskussion geführt, wie diese auszusehen habe. Der erste lieferte einen „deduzierten Plan einer ... höheren Lehranstalt" mit strengen Reglementierungen und mit Zugang für alle Begabten zum Studium. Schleiermacher dagegen verfocht ein „prononciert liberales Konzept, wonach die wissenschaftliche Individualität zu ihrer Entwicklung der akademischen Freiheit bedarf, auch damit die Spreu vom Weizen sich sondert ". [6]

Die Frage war schon damals, wer in den Genuß der universitären Ausbildung kommen darf und wonach sich die Kritierien der Zulassung und wissenschaftlichen Ausrichtung richten. Kurz: Wie frei ist die Universität, und wie „gleich“ sind diejenigen vor ihr, die sie betreten wollen? Anders: Ist „Bildung“ weiterhin für alle zugänglich ungeachtet der individuellen finanziellen Möglichkeiten und persönlichen Interessen?

Die vor fast 200 Jahren geführte Debatte scheint sich heute zu wiederholen. So ist es nicht verwunderlich, daß 1997 D. Müller-Böling in der ZEIT (Nr.9, 21.2.1997, S. 42) „Mehr Freiheit für die Universität" fordert. Der geforderte Autonomiegewinn für Universitäten trägt deutlich nordamerikanische Züge. Bachelor-Studiengänge [B.A./B.Sc.] scheinen notwendig und könnten bei einem wachsenden Weiterbildungssektor sinnvolle Alternativen werden, so Müller-Böling in der ZEIT. Die nordamerikanische Hochschullandschaft ist in einigen Punkten durch die von Müller-Böling geforderte Autonomie und Liberalität gekennzeichnet.

Die Anlehnung der University of Alberta [Edmonton] an ein komplexes [Wirtschafts-] Unternehmen ist ein Beispiel für diese Entwicklung und bringt u.a. konkrete Verbesserung und Vorteile für Studierende mit sich. Gemäß der Einsicht moderner Unternehmen wird der „Belegschaft" ein guter Service gewährleistet. Eine enorme Anzahl multimedialer Gerätschaften [e-mail, Internet, Hard- und Software], kontinuierliche unabhängige Evaluierung des Lehrkörpers im Auftrag des Dekans der einzelnen Fachbereiche und ein enger und freundschaftlicher Kontakt zwischen Lehrenden und Studierenden tragen zu einer äußerst zufriedenen Studienhaltung bei. Dies dürfte sich in den Studienleistungen niederschlagen, die wiederum der Universität im nationalen und internationalen Vergleich Punktgewinne einbringen. Studieren macht Spaß, so meine Erfahrung, und wer viel investiert, erhält viel zurück.

In Gesprächen mit kanadischen Studierenden begegnete mir häufig die Koppelung von Studiengebühren, notwendigen langen Sommerjobs und der dadurch existierenden erheblichen finanziellen Belastung. Ein 4-monatiger Sommerjob zur Finanzierung der hohen Semestergebühren [ca. 3000-4000 kan. Dollar] wird als normal und selbstverständlich angesehen. Bisweilen auch der Job neben dem extrem zeit- und arbeitsintensiven Studium. Zwar erhalten viele Studierende staatliche Förderungen, die hohen Studiengebühren, Kosten für Bücher, [in manchen Fällen 500-700 kan. Dollar pro Semester!] neben den üblichen Lebenshaltungskosten machen es dennoch notwendig, im Sommer von Mai bis August zu arbeiten.

Andererseits wäre es interessant zu erfahren, was mit denjenigen passiert, die, aus welchen Gründen auch immer, aus dem System herausfliegen, da sie die Studiengebühren gegen Ende ihrer Ausbildung nicht aufbringen können oder den permanenten Streß der Leistungskontrolle nicht ertragen und an ihm scheitern. Die steigenden Armutszahlen und extremen sozialen Probleme in Kanada dürften die Vermutung bestätigen, daß hier ein möglicher Zusammenhang besteht.

Die Schwierigkeit besteht meiner Meinung nach darin, daß die mit dem Autonomiezuwachs einhergehende Wettbewerbsgestaltung auch Auswirkungen auf die universitären Zulassungsmodalitäten hat. Hier gilt es meiner Meinung nach, intellektuelle Fähigkeiten von finanziellen Möglichkeiten zu trennen. Kanada fährt in dieser Hinsicht zweigleisig, ein entsprechender High School Degree und Studiengebühren [die University of Alberta, Edmonton, ist im Vergleich zu anderen finanziell „günstig“] sind Hürden vor dem Studienbeginn und jedem weiteren Semesterbeginn. Daraus folgt logischerweise, daß die autonome Ausrichtung der Universität auch freier bei der Auswahl der Studierenden verfährt. Das Unternehmen Universität sucht sich daher zukünftige Studierende nach eigenen Kriterien aus. Dies hat zur Folge, daß ein extrem harter, aber dialektischer, Selektionsprozeß durchgeführt wird. Die Dialektik besteht darin, daß nicht bestimmten [evtl. sozial und finanziell benachteiligten] Studieninteressierten primär der Zugang zur Universität verwehrt wird, als daß [möglicherweise] konkurrierende Universitäten beginnen, um Studierende zu werben. Dabei geht es um das Erreichen einer stärkeren Kompatibilität zwischen inhaltlichen Wünschen der Studierenden und der fachlichen Ausrichtung der Universität. Treffen sich diese, so die theoretischen, aber auch schon erprobten Vorstellungen, wird eine bessere und erwünschte Leistung (/Leistungssteigerung) erzielt. So würde sich theoretisch der Gleichheitsanspruch der Universitäten schnell auflösen und auf die ohnehin nicht homogene zukünftige Studierendenmasse treffen. Ein Ziel wäre, daß vor Studienbeginn klar sein muß, welche ausbildungs- und berufsbezogenen Vorstellungen der/die Studienanfänger/in hat. Auf der anderen Seite sollte die Universität versuchen herauszufinden, ob fachliche Ausrichtung der angebotenen Studienfächer und Interesse des/der Studienbeginners/in in Verbindung zu bringen sind.

Das neu gegründete Department of Earth and Atmospheric Sciences, etwas unpassend mit Geowissenschaften übersetzt, resultiert aus einer Fusion der Fachbereiche Geologie und Geographie. Autonome Entscheidungsspielräume ermöglichen eine Fokussierung auf bestimmte ausgewählte Studien- und Forschungsschwerpunkte. Dies schlägt sich im Lehrangebot, der Anstellung neuer Professoren [keine Frau!] und nicht zuletzt auch der Auswahl der Graduate Students nieder. Als Marburger Geographie- und Ethnologiestudent im Hauptstudium war ich dagegen mit sehr speziellen Themen konfrontiert. Dies ermöglichte einerseits eine fachliche Spezialisierung, andererseits hielten sich Wahlmöglichkeiten für mich in engen Grenzen.


Was bleibt?

Während mich glückliche deutsche Skiurlaubsheimkehrer aus den Rocky Mountains am Flughafen auf meine Rückkehr nach Deutschland vorbereiten, die Maschine der Air Canada sich ihren Weg durch die klirrende Kälte über die vereiste Landebahn des Flughafens bahnt, blicke ich zurück. Obwohl noch ganz der Sorge der letzten Klausuren, der ungewissen Endresultate der Kurse und der Frage nach dem Verbleib der neuen Kontakte zu Kommilitonen verhaftet, schwebe ich im Warteraum zwischen beiden Universitätssystemen hin und her. So reizvoll das nordamerikanische ist, so bleibt doch ein kleiner aber bitterer Nachgeschmack. Dieser hat seinen Ursprung weniger in dem erfahrenenen, sehr zeit- und arbeitsintensiven Studium, als vielmehr in der neidlosen Feststellung, daß man den Erfolg nur schwer leugnen kann. Die Alternative für unser Universitätssystem scheint also in einer stetig voranschreitenden, „verschlankten“ Effizienz-, Leistungs- und Verbesserungsmaximierung zu bestehen. Ungeachtet der damit einhergehenden Verluste der Bildungsqualität, scheint mir die vielerorts gepriesene universitäre Alternative einer notwendigen Überprüfung wert. Gibt es Möglichkeiten, die positiven Elemente beider Systeme zu vereinen? Oder führt kein Weg an der unternehmerischen Ausrichtung der einst frei und unabhängig deklarierten Institution vorbei? Erledigt von den letzten Wochen an der University of Alberta beobachte ich die urlaubsgebräunten Skifahrer/-innen und habe in diesem Moment nur ein müdes Lächeln auf den Lippen.

Durch eine Überbelegung des Flugzeuges erhalte ich glücklicherweise in der ersten Klasse einen Platz und werde mit besten Mahlzeiten versorgt. Dabei resümiere ich und stelle fest, daß viele wesentliche Merkmale der University of Alberta [Edmonton] charakteristisch sind für nordamerikani- sche Universitäten, für zukünftige Modelle in Deutschland und generell ein Trend zur unternehmerischen Ausrichtung von Bildung. Fachliche Spezialisierung, Leistungsmaximierung, Verbesserung der universitären Serviceleistung, zügige Modernisierung [Multimediabereich], aber auch das persönliche und freundliche Verhältnis zu „Staff“ und Lehrkörper [nebenbei bemerkt: wer will in einer Evaluierung schlecht abschneiden?] sind nur einige Eckpfeiler eines Universitätskonzeptes, das im Gewand von Strukturreform und Veränderungsvorschlägen der Hochschulen bei uns diskutiert wird.

Als Student des (angeblich) reformnotwendigen Systems sowie als Austauschstudent im System „von morgen" bleibt mir zu sagen: Warum, vom angeblichen Erfolg des nordamerikanischen Universitätssystems geblendet, vorschnell bekannte und existierende Qualitäten über Bord werfen und hastig der Illusion erliegen, durch das Kopieren eines anderen Systems den Erfolg pachten zu können? Punktuelle fachliche Spezialisierung [worauf und für wen?] vs. breite und generelle, aber doch qualifizierende Ausbildung, scheuklappenorientierte Leistungsmaximierung [wer legt fest, was „Leistung" ist? Die Gesellschaft oder einige Eliten? (aus der Wirtschaft?)], Universität u.a. als allgemeine Bildungseinrichtung vs. unreflektierte Kaderschmiede, dies sind nur einige Gedanken, die ich als Beobachter aufgrund meiner Erfahrung in und der Teilnahme an beiden Universitätssystemen für überlegenswert erachte.

Ich lasse mir den Rotwein schmecken und weiß bald nicht mehr, ob ich mit einem 94er Château Grand Picard oder dem 95er Château Grinou eröffnete. “It doesn’t matter, it’s red wine, anyway“ erwidert der Steward lakonisch auf meinen verwirrten Blick. In diesem Moment ist es mir gleichgültig und so vermischen sich wahrscheinlich die Weine auf dem Flug nach Hause.

Bastian Lange, Uferstraße 7, 35037 Marburg
e-mail: Langeb@stud-mailer.uni-marburg.de

[1] An dieser Stelle sei besonderer Dank Herrn W. Fieguth ausgesprochen, dem im Ruhestand befindlichen Geographiedozenten, der mir in den ersten Tagen eine große Hilfe war, bei den ersten Schritten in der Stadt hilfreich zur Seite stand, wichtige Tips gab und als Ansprechpartner während meiner Zeit in Edmonton eine wichtige Stütze war.

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[2] Die für diesen Abschnitt relevanten Informationen habe ich zum einen der Veranstaltung von Dr. Pat Bayne über Stadtplanung und zum anderen Prof. John Hodgsons Veranstaltung über Geographische Informationssysteme am Department of Earth and Atmospheric Sciences entnommen.

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[3] Das Austauschprogramm wurde vom Akademischen Auslandsamt der Philipps-Universität Marburg und der University of Alberta in Edmonton organisatorisch begleitet. An dieser Stelle sei dem Akademischen Auslandsamt Dank ausgesprochen. Ebenso möchte ich mich bei meinen Vorgängern in Edmonton bedanken, die mir die wichtigen Tips und entscheidenden Hinweise zur Orientierung an der Universität und in der Stadt gaben.

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[4] Ein Reisestipendium des Marburger Universitätsbundes e.V. erwies sich als eine große Erleichterung bei der Finanzierung der Reisekosten. Für die zur Verfügung gestellten Mittel möchte ich mich an dieser Stelle bedanken.

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[5] Großer Popularität erfreute sich ein GIS-Kurs [Geographische Informationssysteme], ein Softwarepaket, das demographische, ökonomische und physischgeographische [u.a.] Fragestellungen bearbeiten und letztlich kartographisch darstellen kann. Softwareanbieter rühmen sich gerne mit der Bemerkung, daß B. Clinton nicht zuletzt durch die Fähigkeit dieser Programme [besser der Programmierer und BearbeiterInnen] seine Wahlen gewonnen hat. Das neue Department of Earth and Atmospheric Sciences reagierte schnell auf diese Entwicklung und bot Kurse mit bester Hard- und Software an. An einem dieser Kurse nahm ich teil.

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[6] Müller, Ernst (1990): Gelegentliche Gedanken über Universitäten von Engel, Erhard, Wolf, Fichte, Schleiermacher, Savigny, v. Humboldt und Hegel. Reclam Leipzig.
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