Lange, Bastian: Das kanadische Unternehmen „Universität“: Alternativen
für unser krisengeschütteltes Universitätssystem? In: Ahornblätter.
Marburger Beiträge zur Kanada-Forschung. 11. Marburg 1998.(Schriften
der Universitätsbibliothek Marburg ; 84)
http://archiv.ub.uni-marburg.de/sum/84/sum84-7.html
"...it makes sense!" Das Begrüßungsschild der University
of Alberta, am zentralen Einfahrtsbereich auf dem riesigen Universitätscampus
gelegen, gibt die Marschroute vor. Eine „Sinnproduktionsstätte“ erwartet
mich. Oberflächliche und äußerliche Verknüpfungspunkte
lassen schnell vermuten, daß eine Unternehmensberatung am Werke war;
das Logo der Universität und das überall anzutreffende Layout,
eingängige und griffige Slogans prangen einheitlich und für jedermann
sichtbar an den zentralen Stellen des Universitäts-Campus. Die Corporate
Identity soll Gemeinsinn erzeugen, alle auf klare Ziele hinarbeiten, ihre
Leistung in den Dienst eines größeren Ganzen stellen lassen.
Die Universität zeigt sich als Dienstleisterin und Unternehmen mit
dem Ziel ständiger und besserer Outputerhöhung. Seien es die
ehrgeizigen Erwartungen des Dekans bei der Begrüßung der Neuankömmlinge
[insbesondere der Graduate Students] oder die tägliche Spendenmeßlatte
auf dem Campus, die anzeigt, wieviel zum geplanten, da kalkulierten, Spendensoll
noch im Universitätshaushalt fehlen: Allerorts dominiert Wettbewerbsorientierung,
Leistungsbereitschaft und „Output“-erhöhung. Hektische Betriebsamkeit
von knapp 30000 eingeschriebenen Studierenden, die sich zielstrebig auf
unsichtbaren Schienen zu bewegen scheinen, komplettieren das Bild eines
universitären Unternehmens. Leistungsmaximierung, Effizienzerhöhung
und darwinistischer Kampf um den Platz an der Sonne waren in den ersten
Tagen Eindrücke, die in dieser Deutlichkeit und Obszönität
mein Augenmerk auf dem Campus und in den Hörsälen auf sich zogen.
Der Frage, ob diese Beobachtung auch tiefgreifender im Universitätsalltag
wiederzufinden ist und ob eine im Vergleich zur bundesdeutschen Universität
grundlegend unterschiedliche Strukturierung der nordamerikanischen Universität
die Sicherung des intellektuellen Niveaus [dies einmal als Grundannahme
postuliert] gewährleistet, kann man sich nur vorsichtig annähern.
Haben die rigorosen Veränderungen in Richtung unternehmerischer Gestaltung
an fast allen nordamerikanischen Universitäten innerhalb der letzten
Jahre auch zu deutlich einschneidenden Veränderungen geführt?
Wie sehen diese aus? Kann man sie als Erfolg bewerten und können sie
Modell stehen für eine hierzulande [angeblich] anstehende Strukturreform
der bundesdeutschen Universitäten? Ziel ist es nicht, ein abschließendes
Urteil vorschnell zu formulieren, vielmehr einige Erfahrungen zu einer
breiter geführten Diskussion über die Hochschulreformierung beizutragen.
Diese Diskussion bezieht ihre Grundideen vorwiegend aus dem nordamerikanischen
Universitätssystem und strebt in Teilen eine Übernahme dieser
Ideen an. Zweiteilung des Studiums, Studiengebühren und eine Effizienz-
und Marktausrichtung sind nur einige, wenngleich zentrale, Eckpunkte der
hierzulande diskutierten Reformgedanken.
Die klare Trennung in ein Grundwissen vermittelndes und berufsqualifizierendes
Undergraduate Program [Abschluß: B.Sc./B.A.] und ein auf die wissenschaftliche
Laufbahn oder von vornherein höher qualifizierte Berufe ausgerichtetes
Graduate Program [Abschluß: Master/Ph.D.] stellt wohl den Grundbaustein
dieses Systems dar. Ein Undergraduate geht demzufolge in die school, ein
Graduate strebt einen Magister-Abschluß oder eine Promotion an.
Die sprachliche Differenzierung zieht eine in der bundesdeutschen Bildungslandschaft
bekannte mit sich. Undergraduate-Kurse sind stark verschult, eine permanente
Leistungskontrolle wechselt mit einem klar festgelegten „Output“ an Papers,
Referaten und Klausuren. Der Geist tobt sich in der Fähigkeit aus,
am Ende in allen Kursen und den Prüfungen die höchstmögliche
Punktzahl zu erreichen.
Nach vier Jahren hat die Jagd nach Punkten und guten Noten ein unspektakuläres
Ende. Ein summarischer Schlußstrich wirft eine Endnote aus. Die Analogie
zur Schule [Haupt-, Realschule oder Gymnasium] liegt auf der Hand. Das
im Anschluß mögliche Graduate Program bietet die Möglichkeit,
eine dem Magister/Diplom ähnliche Arbeit zu schreiben oder eine Promotionsschrift
anzufertigen. Graduate Programs sind forschungsbezogen, aufgrund der erforderlichen
guten Abschlußnoten aus dem Undergraduate Program nicht für
alle zu erreichen und Brutstätte des wissenschaftlichen Nachwuchses.
Aufgrund der fachgebietsinternen Situation konnte ich einerseits Undergraduate-Kurse
und ebenso Graduate-Kurse absolvieren. Es war verblüffend, wie eng
und klar abgesteckt die erstgenannten sich von den offenen und freien letztgenannten
abhoben. Selbst tendenziell mit den letzteren vertraut, stellt sich der
permanente Wechsel als eine schwierige Aufgabe dar. In den Undergraduate-
Kursen wird reproduziert, klare Lesevorgaben, fest umrissene Referatsthemen
und schnell aufeinaner folgende Klausuren ließen keine Zeit zum Durchatmen.
In meinem Graduate-Kurs sollte ich knapp vor dem eigenen Entwurf eines
Masters-Themas stehen. Dieses „Programm" ähnelt dem bekannten
Hauptstudium der bundesdeutschen Universität.
Die sicherlich vereinfachte und grob skizzierte Situation nordamerikanischer
Universitäten erinnert in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung an
jüngste Vorstöße und Vorschläge der Modifizierung
bundesdeutscher Universitäten. Man attestiert ihnen fehlende internationale
Konkurrenzfähigkeit, mangelnde Flexibilität, nicht vorhandene
Praxis- und Berufsorientierung und Rückstände in Forschung und
Lehre. Ganz zu schweigen von Kompetenzzuweisung und -verteilung zwischen
Hochschule, Land und Bund bezüglich Finanzierung, organisatorischen
Aufbaus, Auswahl der Studierenden und des Lehrkörpers. Kurz gesagt,
die Universitäten in diesem Lande scheinen in einer Krise zu stecken.
Die dahinter stehende Frage lautet: Kann es sich das bundesdeutsche Universitätssystem
aufgrund der vorherrschenden gesamtgesellschaftlichen, arbeitsmarkt- und
bildungspolitischen Lage weiterhin leisten, in diesem Umfang und mit der
existierenden Gleichförmigkeit Menschen akademisch auszubilden? Anders
gefragt: Was ist diesem Land „Bildung" wert, und an welchen Ecpunkten/Leitbildern
orientiert man sich?
Jüngst diskutierte Vorschläge wollen Grundwissen vermittelnde
und primär berufsqualifizierende B.Sc./B.A.- ähnliche [Teil-]
Studiengänge einführen. Diese haben ihre Wurzeln im nordamerikanischen
Universitätsmodell. Oftmals wird aber übersehen, daß
nordamerikanische Firmen und Unternehmen für ihre neuen B.Sc./B.A.-Schützlinge
ein umfangreiches Trainingsprogramm bereithalten, das in dieser Form hierzulande
[noch] nicht gewährleistet wird. Ebensowenig ist die Akzeptanz dieses
Abschlusses auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt vorauszusetzen, da eine
Vertrautheit mit dem immer wieder gepriesenen EU-Arbeitsmarkt meistens
nicht vorliegt.
Der Vergleich offenbart meiner Meinung nach einen verklärten Blick
bundesdeutscher Bildungshoffnungen auf [u.a.] das nordamerikanische Modell.
Die gegenüber dem bundesdeutschen Abitur kürzere Schulzeit in
Kanada ergänzt sich mit dem nicht existierenden Anspruch der nordamerikanischen
High School, ihre Schützlinge gleichzeitig mit Literatur-, Chemie-
und Musikkenntnissen sowie Kenntnissen in einigen Fremdsprachen ins postschulische
Leben zu entlassen. Die ersten Semester an einer nordamerikanischen Universität
übernehmen die Funktion der letzten Jahre am Gymnasium.
Ein weiterer Punkt auf der Suche nach Unterschieden im Bildungssystem
läßt sich durch die jüngsten Wirtschaftserfolge Kanadas
[siehe z.B. DIE ZEIT Nr. 45, 1.11.1996, S. 58] erklären. Diese sind
einerseits gekennzeichnet durch erfolgreiche Senkung der Lohnnebenkosten,
Sozialkürzungen und den Abbau eines komplexen Sozialsystems. Die notwendigen
Ansiedlungserleichterungen für Unternehmen (z.B. sehr niedrige Gewerbesteuer
und die Bereitstellung der Infrastruktur) taten ihr übriges, daß
günstige Rahmenbedingungen die Schaffung von Arbeitsplätzen zur
Folge hatten. Seit der Amtsperiode von Premier J. Chrétien sinken
die Arbeitslosenzahlen, wenngleich sie immer noch auf einem sehr hohen
Niveau liegen. Bildungspolitisch ergeben der landestypische arbeitsintensive
Pragmatismus und die universitäre Flexibilität bezüglich
der Ausrichtung auf die schnellen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt [z.B.
Multimediabereich] eine im gleichen Atemzug zu nennende, interessante und
erfolgreiche Kombination . [5] Die
damit verbundene undogmatische Haltung gegenüber der universitären
Ausbildung und die oben erwähnte Praxis- und Berufsorientierung erleichtert
es oft, flexibel auf Veränderungen zu reagieren.
Ob die Umsetzung der angesprochenen nordamerikanischen Bildungsbausteine
hierzulande zu begrüßen ist oder nur am Universitätssystem
anzuklopfen vermag, muß im Einzelfall betrachtet werden. Es wird
diskutiert, flexibilitätsfordernde Reformansätze stehen bewahrenden
Strukturen gegenüber. Es sei jedem/jeder freigestellt, sich zu beklagen
oder zu freuen, daß die institutionelle Durchsetzung eines neuen,
glatteren Wappens für die Philipps-Universität, von der ehemaligen
Vize-Präsidentin Prof. Dr. I. Langer vorangetrieben, in den Universitätsmühlen
eines jahrhundertealten Traditionsgebildes zermahlen zu werden drohte.
Ganz zu schweigen von weiteren Schritten, eine bundesdeutsche Universi-
tät im Stile eines Unternehmens nach außen durch eine klare
Corporate Identity zu repräsentieren. Über die Hintertüre
ziehen Veränderungen jedoch schon lange in den [u.a. finanziellen]
studentischen Alltag der Marburger Philipps-Universität ein. Selektive
Kursgebühren, verschulte Grundkurse und ein generell härterer
Wind kennzeichnen Kurse sowie fachbereichsinterne Geldverteilungen.
Die in der Debatte um Strukturveränderungen häufig bildungspolitisch
geforderte Anlehnung an nordamerikanische Studiengebühren, nordamerikanische
Zweiteilung der Universitätsausbildung und die unkritische Übernahme
dort herrschender Lehr- und Seminarprinzipien demontieren in unnötiger
Weise vorschnell bundesdeutsche universitäre Qualität zugunsten
einer in der Industrie verwurzelten lean education. Dabei werden heutzutage
hochbrisante und oft erwünschte berufsqualifizierende Eigenschaften
nicht mehr gefördert. Die überall geforderte soziale und emotionale
Kompetenz, verbunden mit Kommunikationsfähigkeit, eingebettet in eine
„Patchwok-Biographie, sind meiner Meinung nach in einem rein auf Leistungsmaximierung
ausgerichteten Universitätssystem nur schwer zu erreichen. Teamfähigkeit
als persönliche Eigenschaft ist in einem Ausbildungssystem, das den
Studierenden größere Entscheidungsspielräume offenhält
und sie nicht durch finanzielle Mehrbelastungen, sprich Studiengebühren,
in eine oftmals noch schwierigere finanzielle Lage drängt, besser
zu entwickeln. Es weist ihnen zudem größere [Entscheidungs-]
Kompetenzen zu, als es in einem System möglich ist, in dem alle Beteiligten
auf ihr eigenes Wohlergehen unter Berücksichtigung und Mithilfe ihrer
Ellenbogen bedacht sind.
Eingespannt in den straffen Universitätsalltag in Edmonton war es
einer 14-köpfigen Seminargruppe [GEOG 389, Urban Planning], an der
ich teilnahm, aufgrund individueller Abendjobs zahlreicher Seminarteilnehmer/-innen,
unterschiedlicher Nachhilfestunden und anderer universitärer Verpflichtungen
nicht möglich, eine 3-stündige Exkursion in einen nahegelegenen
Stadtteil während der Woche vorzunehmen. Ganz zu schweigen von der
zermürbenden Terminfindung meiner 3-köpfigen Arbeitsgruppe, die
sich über 6 Wochen als schleppender und komplizierter, da ungeübter,
Prozeß entpuppte.
Meine Erfahrungen machten mich stutzig, da ich diesen Freiraum von Beginn
meines Studiums an in Anspruch genommen hatte. Ein breiter Bildungsauftrag
mit humanistischen Wurzeln, individuellen Studienmöglichkeiten und
Entscheidungskompetenzen von Anfang an, trägt eben nicht nur zur Leistungsmaximierung
bei. Er fördert maßgeblich verdeckt berufsqualifizierende Eigenschaften.
Darüber hinaus sind dies Eckpunkte eines [bisher] gesellschaftlich
getragenen, breiten Bildungssystems.
Die hier skizzierten Merkmale werden unbeachtet in der Debatte beiseite
geräumt, anstatt sie hervorzuheben. Kein Wunder, sie scheinen nicht
mehr zeitgemäß. Die damit einhergehenden Qualitäten werden
trotz ihrer Erwartung auf dem Arbeitsmarkt nicht berücksichtigt. Gerade
in den letzten Jahren wurden Stimmen laut, welche die oben genannten Qualitäten
hervorhoben und durch darauf ausgerichtete Seminar- und Lehrplangestaltung
wiederbeleben wollen.
Die mittlerweile gängige [und leidige] Rückberufung auf deutsche
unversitäre Gründungsväter [v. Humboldt, Schleiermacher,
Kant, Hegel] erspare ich mir, sie zementieren allzu leicht Universitätstraditionen.
Dennoch sei daran erinnert, daß diese immer wieder die Frage und
Möglichkeit der Veränderung und Transformation der Institution
„Universität“ neu aufwarfen.
Zwischen 1802 und 1816 wurde von Fichte und Schleiermacher anläßlich
der Gründung der Berliner Universität eine Diskussion geführt,
wie diese auszusehen habe. Der erste lieferte einen „deduzierten Plan einer
... höheren Lehranstalt" mit strengen Reglementierungen und mit
Zugang für alle Begabten zum Studium. Schleiermacher dagegen verfocht
ein „prononciert liberales Konzept, wonach die wissenschaftliche Individualität
zu ihrer Entwicklung der akademischen Freiheit bedarf, auch damit die Spreu
vom Weizen sich sondert ". [6]
Die Frage war schon damals, wer in den Genuß der universitären
Ausbildung kommen darf und wonach sich die Kritierien der Zulassung und
wissenschaftlichen Ausrichtung richten. Kurz: Wie frei ist die Universität,
und wie „gleich“ sind diejenigen vor ihr, die sie betreten wollen? Anders:
Ist „Bildung“ weiterhin für alle zugänglich ungeachtet der
individuellen finanziellen Möglichkeiten und persönlichen Interessen?
Die vor fast 200 Jahren geführte Debatte scheint sich heute zu wiederholen.
So ist es nicht verwunderlich, daß 1997 D. Müller-Böling
in der ZEIT (Nr.9, 21.2.1997, S. 42) „Mehr Freiheit für die Universität"
fordert. Der geforderte Autonomiegewinn für Universitäten trägt
deutlich nordamerikanische Züge. Bachelor-Studiengänge [B.A./B.Sc.]
scheinen notwendig und könnten bei einem wachsenden Weiterbildungssektor
sinnvolle Alternativen werden, so Müller-Böling in der ZEIT.
Die nordamerikanische Hochschullandschaft ist in einigen Punkten durch
die von Müller-Böling geforderte Autonomie und Liberalität
gekennzeichnet.
Die Anlehnung der University of Alberta [Edmonton] an ein komplexes [Wirtschafts-]
Unternehmen ist ein Beispiel für diese Entwicklung und bringt u.a.
konkrete Verbesserung und Vorteile für Studierende mit sich. Gemäß
der Einsicht moderner Unternehmen wird der „Belegschaft" ein guter
Service gewährleistet. Eine enorme Anzahl multimedialer Gerätschaften
[e-mail, Internet, Hard- und Software], kontinuierliche unabhängige
Evaluierung des Lehrkörpers im Auftrag des Dekans der einzelnen Fachbereiche
und ein enger und freundschaftlicher Kontakt zwischen Lehrenden und Studierenden
tragen zu einer äußerst zufriedenen Studienhaltung bei. Dies
dürfte sich in den Studienleistungen niederschlagen, die wiederum
der Universität im nationalen und internationalen Vergleich Punktgewinne
einbringen. Studieren macht Spaß, so meine Erfahrung, und wer viel
investiert, erhält viel zurück.
In Gesprächen mit kanadischen Studierenden begegnete mir häufig
die Koppelung von Studiengebühren, notwendigen langen Sommerjobs und
der dadurch existierenden erheblichen finanziellen Belastung. Ein 4-monatiger
Sommerjob zur Finanzierung der hohen Semestergebühren [ca. 3000-4000
kan. Dollar] wird als normal und selbstverständlich angesehen. Bisweilen
auch der Job neben dem extrem zeit- und arbeitsintensiven Studium. Zwar
erhalten viele Studierende staatliche Förderungen, die hohen Studiengebühren,
Kosten für Bücher, [in manchen Fällen 500-700 kan. Dollar
pro Semester!] neben den üblichen Lebenshaltungskosten machen es dennoch
notwendig, im Sommer von Mai bis August zu arbeiten.
Andererseits wäre es interessant zu erfahren, was mit denjenigen passiert,
die, aus welchen Gründen auch immer, aus dem System herausfliegen,
da sie die Studiengebühren gegen Ende ihrer Ausbildung nicht aufbringen
können oder den permanenten Streß der Leistungskontrolle nicht
ertragen und an ihm scheitern. Die steigenden Armutszahlen und extremen
sozialen Probleme in Kanada dürften die Vermutung bestätigen,
daß hier ein möglicher Zusammenhang besteht.
Die Schwierigkeit besteht meiner Meinung nach darin, daß die mit
dem Autonomiezuwachs einhergehende Wettbewerbsgestaltung auch Auswirkungen
auf die universitären Zulassungsmodalitäten hat. Hier gilt es
meiner Meinung nach, intellektuelle Fähigkeiten von finanziellen Möglichkeiten
zu trennen. Kanada fährt in dieser Hinsicht zweigleisig, ein entsprechender
High School Degree und Studiengebühren [die University of Alberta,
Edmonton, ist im Vergleich zu anderen finanziell „günstig“] sind Hürden
vor dem Studienbeginn und jedem weiteren Semesterbeginn. Daraus folgt logischerweise,
daß die autonome Ausrichtung der Universität auch freier bei
der Auswahl der Studierenden verfährt. Das Unternehmen Universität
sucht sich daher zukünftige Studierende nach eigenen Kriterien aus.
Dies hat zur Folge, daß ein extrem harter, aber dialektischer, Selektionsprozeß
durchgeführt wird. Die Dialektik besteht darin, daß nicht bestimmten
[evtl. sozial und finanziell benachteiligten] Studieninteressierten primär
der Zugang zur Universität verwehrt wird, als daß [möglicherweise]
konkurrierende Universitäten beginnen, um Studierende zu werben. Dabei
geht es um das Erreichen einer stärkeren Kompatibilität zwischen
inhaltlichen Wünschen der Studierenden und der fachlichen Ausrichtung
der Universität. Treffen sich diese, so die theoretischen, aber auch
schon erprobten Vorstellungen, wird eine bessere und erwünschte Leistung
(/Leistungssteigerung) erzielt. So würde sich theoretisch der Gleichheitsanspruch
der Universitäten schnell auflösen und auf die ohnehin nicht
homogene zukünftige Studierendenmasse treffen. Ein Ziel wäre,
daß vor Studienbeginn klar sein muß, welche ausbildungs- und
berufsbezogenen Vorstellungen der/die Studienanfänger/in hat. Auf
der anderen Seite sollte die Universität versuchen herauszufinden,
ob fachliche Ausrichtung der angebotenen Studienfächer und Interesse
des/der Studienbeginners/in in Verbindung zu bringen sind.
Das neu gegründete Department of Earth and Atmospheric Sciences,
etwas unpassend mit Geowissenschaften übersetzt, resultiert aus einer
Fusion der Fachbereiche Geologie und Geographie. Autonome Entscheidungsspielräume
ermöglichen eine Fokussierung auf bestimmte ausgewählte Studien-
und Forschungsschwerpunkte. Dies schlägt sich im Lehrangebot, der
Anstellung neuer Professoren [keine Frau!] und nicht zuletzt auch der Auswahl
der Graduate Students nieder. Als Marburger Geographie- und Ethnologiestudent
im Hauptstudium war ich dagegen mit sehr speziellen Themen konfrontiert.
Dies ermöglichte einerseits eine fachliche Spezialisierung, andererseits
hielten sich Wahlmöglichkeiten für mich in engen Grenzen.
Was bleibt?
Während mich glückliche deutsche Skiurlaubsheimkehrer aus
den Rocky Mountains am Flughafen auf meine Rückkehr nach Deutschland
vorbereiten, die Maschine der Air Canada sich ihren Weg durch die klirrende
Kälte über die vereiste Landebahn des Flughafens bahnt, blicke
ich zurück. Obwohl noch ganz der Sorge der letzten Klausuren, der
ungewissen Endresultate der Kurse und der Frage nach dem Verbleib der neuen
Kontakte zu Kommilitonen verhaftet, schwebe ich im Warteraum zwischen beiden
Universitätssystemen hin und her. So reizvoll das nordamerikanische
ist, so bleibt doch ein kleiner aber bitterer Nachgeschmack. Dieser hat
seinen Ursprung weniger in dem erfahrenenen, sehr zeit- und arbeitsintensiven
Studium, als vielmehr in der neidlosen Feststellung, daß man den
Erfolg nur schwer leugnen kann. Die Alternative für unser Universitätssystem
scheint also in einer stetig voranschreitenden, „verschlankten“ Effizienz-,
Leistungs- und Verbesserungsmaximierung zu bestehen. Ungeachtet der damit
einhergehenden Verluste der Bildungsqualität, scheint mir die vielerorts
gepriesene universitäre Alternative einer notwendigen Überprüfung
wert. Gibt es Möglichkeiten, die positiven Elemente beider Systeme
zu vereinen? Oder führt kein Weg an der unternehmerischen Ausrichtung
der einst frei und unabhängig deklarierten Institution vorbei? Erledigt
von den letzten Wochen an der University of Alberta beobachte ich die urlaubsgebräunten
Skifahrer/-innen und habe in diesem Moment nur ein müdes Lächeln
auf den Lippen.
Durch eine Überbelegung des Flugzeuges erhalte ich glücklicherweise
in der ersten Klasse einen Platz und werde mit besten Mahlzeiten versorgt.
Dabei resümiere ich und stelle fest, daß viele wesentliche Merkmale
der University of Alberta [Edmonton] charakteristisch sind für nordamerikani-
sche Universitäten, für zukünftige Modelle in Deutschland
und generell ein Trend zur unternehmerischen Ausrichtung von Bildung. Fachliche
Spezialisierung, Leistungsmaximierung, Verbesserung der universitären
Serviceleistung, zügige Modernisierung [Multimediabereich], aber
auch das persönliche und freundliche Verhältnis zu „Staff“ und
Lehrkörper [nebenbei bemerkt: wer will in einer Evaluierung schlecht
abschneiden?] sind nur einige Eckpfeiler eines Universitätskonzeptes,
das im Gewand von Strukturreform und Veränderungsvorschlägen
der Hochschulen bei uns diskutiert wird.
Als Student des (angeblich) reformnotwendigen Systems sowie als Austauschstudent
im System „von morgen" bleibt mir zu sagen: Warum, vom angeblichen
Erfolg des nordamerikanischen Universitätssystems geblendet, vorschnell
bekannte und existierende Qualitäten über Bord werfen und hastig
der Illusion erliegen, durch das Kopieren eines anderen Systems den Erfolg
pachten zu können? Punktuelle fachliche Spezialisierung [worauf und
für wen?] vs. breite und generelle, aber doch qualifizierende Ausbildung,
scheuklappenorientierte Leistungsmaximierung [wer legt fest, was „Leistung"
ist? Die Gesellschaft oder einige Eliten? (aus der Wirtschaft?)], Universität
u.a. als allgemeine Bildungseinrichtung vs. unreflektierte Kaderschmiede,
dies sind nur einige Gedanken, die ich als Beobachter aufgrund meiner Erfahrung
in und der Teilnahme an beiden Universitätssystemen für überlegenswert
erachte.
Ich lasse mir den Rotwein schmecken und weiß bald nicht mehr, ob
ich mit einem 94er Château Grand Picard oder dem 95er Château
Grinou eröffnete. “It doesn’t matter, it’s red wine, anyway“
erwidert der Steward lakonisch auf meinen verwirrten Blick. In diesem Moment
ist es mir gleichgültig und so vermischen sich wahrscheinlich die
Weine auf dem Flug nach Hause.
Bastian Lange, Uferstraße 7, 35037 Marburg
e-mail: Langeb@stud-mailer.uni-marburg.de
[1] An dieser Stelle sei besonderer Dank Herrn W. Fieguth ausgesprochen,
dem im Ruhestand befindlichen Geographiedozenten, der mir in den ersten
Tagen eine große Hilfe war, bei den ersten Schritten in der Stadt
hilfreich zur Seite stand, wichtige Tips gab und als Ansprechpartner während
meiner Zeit in Edmonton eine wichtige Stütze war.
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[2] Die für diesen Abschnitt relevanten Informationen habe
ich zum einen der Veranstaltung von Dr. Pat Bayne über Stadtplanung
und zum anderen Prof. John Hodgsons Veranstaltung über Geographische
Informationssysteme am Department of Earth and Atmospheric Sciences entnommen.
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[3] Das Austauschprogramm wurde vom Akademischen Auslandsamt der
Philipps-Universität Marburg und der University of Alberta in Edmonton
organisatorisch begleitet. An dieser Stelle sei dem Akademischen Auslandsamt
Dank ausgesprochen. Ebenso möchte ich mich bei meinen Vorgängern
in Edmonton bedanken, die mir die wichtigen Tips und entscheidenden Hinweise
zur Orientierung an der Universität und in der Stadt gaben.
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[4] Ein Reisestipendium des Marburger Universitätsbundes e.V.
erwies sich als eine große Erleichterung bei der Finanzierung der
Reisekosten. Für die zur Verfügung gestellten Mittel möchte
ich mich an dieser Stelle bedanken.
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[5] Großer Popularität erfreute sich ein GIS-Kurs [Geographische
Informationssysteme], ein Softwarepaket, das demographische, ökonomische
und physischgeographische [u.a.] Fragestellungen bearbeiten und letztlich
kartographisch darstellen kann. Softwareanbieter rühmen sich gerne
mit der Bemerkung, daß B. Clinton nicht zuletzt durch die Fähigkeit
dieser Programme [besser der Programmierer und BearbeiterInnen] seine Wahlen
gewonnen hat. Das neue Department of Earth and Atmospheric Sciences reagierte
schnell auf diese Entwicklung und bot Kurse mit bester Hard- und Software
an. An einem dieser Kurse nahm ich teil.
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[6] Müller, Ernst (1990): Gelegentliche Gedanken über
Universitäten von Engel, Erhard, Wolf, Fichte, Schleiermacher, Savigny,
v. Humboldt und Hegel. Reclam Leipzig.
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