Bredow, Wilfried von; Pletsch, Alfred: Québec und die Zerbrechlichkeit
Kanadas. In: Ahornblätter. Marburger Beiträge zur Kanada-Forschung.
11. Marburg 1998.(Schriften der Universitätsbibliothek Marburg ; 84)
http://archiv.ub.uni-marburg.de/sum/84/sum84-4.html
Wilfried von Bredow, Alfred Pletsch
Québec und die Zerbrechlichkeit Kanadas
Einleitung
Am 30. Oktober 1995 scheiterte in Québec zum zweiten Mal ein
Referendum, in dem die Bevölkerung über den Verbleib der Provinz
in der kanadischen Konföderation zu entscheiden hatte. Beim ersten
Versuch unter Premierminister Lévesque im Jahre 1980 hatten sich
noch rund 60 Prozent der Bevölkerung gegen den Weg in die sog. Souveraineté-Association
ausgesprochen. 1995 fehlten ganze 52.000 Stimmen, weniger als ein Prozent
aller Wähler, um La belle province den Weg in die Unabhängigkeit
zu ebnen. Ein drittes Referendum, das vorprogrammmiert scheint und dem
bei Fortdauer des Trends ein Erfolg sicher wäre, könnte die Loslösung
Québecs von Kanada endgültig besiegeln und damit möglicherweise
sogar den Fortbestand der kanadischen Nation insgesamt in Frage stellen.
Bei oberflächlicher Betrachtung mag es überraschen, daß
in Kanada, einem Land, das weltweit für seine Toleranz gegenüber
Minderheiten gerühmt und dessen offizielle Politik auf die Erhaltung
des kulturellen Mosaiks ausgerichtet ist, zentrifugale Strömungen
an der Tagesordnung sind. Dabei sind diese Strömungen nicht neu. Vielmehr
haben sie das Land seit Jahrhunderten gekennzeichnet und maßgeblich
geprägt. Ohne die Rivalität der einzelnen ethnischen Gruppen
untereinander wäre Kanada wohl nie so geworden, wie es sich heute
präsentiert.
Was überrascht, ist die Heftigkeit, mit der die Diskussion um Minderheitenrechte,
Kulturerhalt, Souveränität u.ä. in den letzten Jahrzehnten
geführt wird. Sicher ist auch dies nicht neu, man denke an die Manitoba-Aufstände
unter Louis Riel in den 1880er Jahren. Gegenüber der Zeit von damals
haben sich aber die Rahmenbedingungen verändert. Nicht mehr militärische
Interventionen, sondern diplomatische Lösungen sind gefordert, und
diese sind bekanntlich sehr viel schwerer durchsetzbar, wenn es sie denn
überhaupt gibt.
Im folgenden Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, welche historisch-geographischen
Entwicklungen dem Québec-Konflikt unterliegen und welche politischen
Implikationen heute daraus resultieren. Schwerpunkt der Darstellung im
historisch-geographischen Teil ist die Rekonstruktion einiger französischer
Kulturlandschaftselemente, die eine wesentliche Grundlage für
die Selbstdefinition der Québecker als eine Société
distincte( distinct society) darstellen. Im zweiten Teil werden
einige politische Konsequenzen diskutiert, die vor allem seit der sog.
Stillen Revolution in der Provinz Québec eine völlig
veränderte politische Landschaft haben entstehen und die den Grad
der Zerbrechlichkeit Kanadas erheblich haben anwachsen lassen.
1. Historisch-geographische Grundlagen einer Société
distincte
Wenn es einen roten Faden in der Geschichte Kanadas gibt, so ist
es der Konflikt zwischen den Franzosen und den Briten, die sich beide als
die Gründernationen des Landes verstehen. Nachdem Columbus im Jahre
1492 auf der Suche nach einer Westroute nach Indien den amerikanischen
Kontinent entdeckt hatte (folgerichtig nannte er die angetroffenen Bewohner
dieses Landes Indianer), entwickelte sich im 16. Jahrhundert ein
wahres Wettrennen um die Eroberung des neu entdeckten Landes. Im Mai 1497
erreichte der Engländer John Cabot mit einer Besatzung von 18 Mann
an Bord seiner Mathew nach 52-tägiger Überfahrt die Ostküste
Neufundlands, die er, dem Irrtum Columbus' folgend, für die Gestade
Asiens hielt. Alles, was er mit zurück nach England brachte, war eine
große Fischladung, aber auch einige Felle und Pelze, die er bei der
eingeborenen Bevölkerung eingetauscht hatte.
1.1. Binationale Kolonialisierung
Trotz dieses enttäuschenden Ergebnisses setzte in der Folgezeit
vor allem die Suche nach der legendären Nordwest-Passage ein,
dem direkten Weg nach Indien auf der Westroute. Sir Francis Drake, Sir
Humphrey Gilbert, Martin Frobisher, John Davis und viele andere waren unter
englischer Flagge an dieser Suche beteiligt. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts
erreichte Henry Hudson die nach ihm benannte Hudson Bay, in die er sich
auf der Suche nach der Nordwest-Passage lediglich verirrt hatte. Auch wenn
diese und viele weitere Versuche nicht das gewünschte Ergebnis brachten,
so wurde durch die Eroberungsfahrten doch der Anspruch Englands auf die
arktischen Gebiete begründet, der in der späteren Entwicklung
von großer Bedeutung werden sollte.
Zeitgleich konzentrierten sich die Franzosen auf die Erkundung der südlicheren
Gefilde des nordamerikanischen Kontinents, wobei ihre Interessen wesentlich
stärker auf eine koloniale Erschließung gerichtet waren. Jacques
Cartier, ein Seemann aus St.-Malo in der Bretagne, hatte unter französischer
Flagge in den Jahren 1534/35 während zweier Fahrten in das Sankt-Lorenz-Gebiet
diesen in der Folgezeit so wichtigen Zugang nach Kanada entdeckt.
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts trat der Wettlauf in eine neue Phase. Die
Engländer gründeten im Jahre 1607 Jamestown im Südosten
des späteren Bundesstaates Virginia und legten damit den Grundstein
für eine Masseneinwanderung von den Britischen Inseln. Fast zeitgleich
hatten die Franzosen mit der Gründung von Port Royal (1605) im Annapolistal
an der Westküste Neu-Schottlands ihrerseits den Grundstein für
die Besiedlung Nordamerikas gelegt. Noch bedeutender wurde die Gründung
von Québec (Stadt) auf der Spitze des Cap aux Diamants im Jahre
1608, von wo aus die systematische Verbreitung der französischen Kultur
in der Folgezeit ihren Ausgang nahm.
Neben der kolonisatorischen Erschließung spielte der Handel mit der
Urbevölkerung eine immer wichtigere Rolle. Dies lag nicht zuletzt
daran, daß der französische König Handelsgesellschaften
mit der Aufgabe betraut hatte, Kolonisten zu werben und in der Neuen Welt
anzusiedeln. Während diese Gesellschaften die Intensivierung des Handels
gezielt vorantrieben, vernachlässigten sie ihre Aufgabe der Kolonisation
sträflich. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden in
Neufrankreich weniger als 2500 Menschen angesiedelt, von denen zwei Drittel
allein in den Städten Québec, Trois-Rivières und Montreal
lebten.
Die schleppende Siedlungsaktivität veranlaßte Ludwig XIV. im
Jahre 1663, eine straffere Verwaltung in Neufrankreich zu etablieren. Es
wurden Gouverneure für den militärischen und Intendanten für
den wirtschaftlichen und administrativen Bereich eingesetzt. Diese Staatsfunktionäre
hatten darüber zu wachen, daß nunmehr der Schwerpunkt der Erschließung
nicht mehr allein im Pelzhandel, sondern vor allem in der Landerschließung
lag.
In dieser Situation kam es zu einem Kuriosum, das für die Folgeentwicklung
große Bedeutung erhalten sollte. Im Auftrag der Handelsgesellschaften
hatten viele abenteuersuchende Pelzhändler, die sog. Waldläufer(coureurs
de bois), auf der Suche nach immer breiter angelegten Handelskontakten
mit der indianischen Bevölkerung die Wälder und Gewässer
weiter Teile des nordamerikanischen Kontinents erschlossen. Nach der
Gründung Montreals (1642) und der Einrichtung eines Pelzkontors nahm
von hier aus die Erkundung in westlicher Richtung ihren Ausgang. Schon
bald erreichten die Waldläufer den Oberen See und über die Wasserwege
des Landesinnern wahrscheinlich auch von Süden her die Hudson Bay.
Im Süden des Kontinents kamen sie bis zum Mississippi, dem sie zunächst
bis zur Mündung des Arkansas folgten. Als Chevalier de la Salle im
Jahre 1679 bis zur Mündung des Vaters der Gewässer vorstoßen
konnte, beanspruchte er dieses Land für seinen König (Ludwig
XIV.) und benannte es nach ihm Louisiana. Die Coureurs de bois wurden
so zu den eigentlichen Erforschern des nordamerikanischen Kontinents.
Zwei von ihnen, Médart des Groseilliers und Pierre Radisson, hatten
im Jahre 1659 die Gebiete südlich der Hudson Bay erkundet und brachten,
wahrscheinlich über den Albany und Ottawa River, eine riesige Ladung
an Fellen und Pelzen mit, die von 300 Indianern mit ihren Booten bis nach
Québec gebracht wurden. Querelen und Intrigen führten jedoch
dazu, daß die beiden Waldläufer dort in Haft genommen wurden.
Erst nach langen Auseinandersetzungen wurde ihnen gestattet, sich mit einem
Gnadengesuch an Ludwig XIV. zu wenden. Dabei wiesen sie auf den unermeßlichen
Reichtum hin, der in diesem Land schlummerte und empfahlen, an der Hudson
Bay Handelsposten einzurichten. Ludwig lehnte es jedoch ab, des Groseilliers
zu empfangen und schlug die Vorschläge in den Wind. In ihrer Verbitterung
wandten sich die beiden Abenteurer an den englischen König Charles
II., der ihren Darstellungen glaubte, zumal sie frühere Berichte bestätigten.
Die Folgen dieser Haltung Ludwigs waren für die Franzosen von großer,
ja fataler Tragweite. Prinz Rupert, der Cousin des Königs, wurde zum
Initiator einer Handelsexpedition in die Hudson Bay. Sie wurde 1668 von
des Groseilliers geleitet, der das Handelsschiff Nonsuch im Auftrag
Englands führte. Die Gründung der Hudson's Bay Company im Jahre
1670 war eine unmittelbare Konsequenz dieser Fahrt. Damit hatten die Franzosen
indirekt den Grundstein für eines der mächtigsten Handelsunternehmen
der Welt in der frühen Neuzeit gelegt, dem vom englischen König
treuhänderisch alle Gebiete im hydrographischen Einzugsbereich der
Hudson Bay übertragen wurden. Nach dem Cousin des Königs wurde
dieses Gebiet Rupert's Land genannt, ein Territorium, das sich bis in die
westkanadischen Hochgebirge erstreckte, wie sich erst allmählich herausstellen
sollte.
1.2. Französische Kulturlandschaft
Frankreich hatte sich damit in eine fatale Zangenposition im Sankt-
Lorenz-Tiefland begeben, denn sowohl im Osten wie im Westen waren die Engländer
nunmehr fest etabliert. Die Versuche, in dieser Situation zumindest den
Zugang nach Süden zum Golf von Mexiko offenzuhalten, waren nicht von
dauerhaftem Erfolg gekrönt. Die stärker werdenden Expansionsbestrebungen
der Engländer, von der Ostküste aus in das Landesinnere vorzudringen,
brachten immer häufiger Verwicklungen mit sich. Sie eskalierten erstmals
1754 in einer Schlacht im Ohio-Tal, wo die Truppen des Miliz-Oberst George
Washington den Franzosen noch unterlagen. In der Folgezeit nahmen die kriegerischen
Auseinandersetzungen rasch zu. Die Vertreibung der sog. Akadier(französische
Siedler im Gebiet Neu-Schottlands und Neu-Braunschweigs) im Jahre 1755
war begleitet von einem blutigen Massaker, das die Engländer unter
ihnen anrichteten. 1758 wurde die Festung Louisbourg (Neu-Schottland) eingenommen.
1759 unterlagen die Franzosen schließlich auf den Plaines d'Abraham
bei Québec endgültig. La Nouvelle France war vernichtet. Im
Frieden von Paris (1763) wurde ein Schlußstrich unter die französische
Kolonialepoche auf dem nordamerikanischen Kontinent gezogen, mit Ausnahme
von Saint-Pierre-et-Miquelon vor der Südküste Neufundlands, die
bis heute als sog. Collectivités territoriales noch zu Frankreich
gehören.
Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts war die französische Bevölkerung
auf ca. 70.000 angewachsen. Ihr Siedlungsraum beschränkte sich im
wesentlichen auf den Uferbereich des Sankt-Lorenz-Stroms. Hier war allerdings
eine unverkennbare französische Kulturlandschaft entstanden,
wie es F. Bartz (1955) einmal bezeichnet hat. Gemeint hat er damit die
besondere Siedlungsform, die sich entlang des Flusses ausgeprägt hat.
Entlang des Sankt-Lorenz und einiger seiner Nebenflüsse waren mehr
oder weniger durchgängige Siedlungszeilen entstanden. Die Flur war
in unterschiedlich lange und breite Streifen aufgeteilt, die sich im Extremfall
über viele Kilometer erstrecken konnten. Die Häuser und Gehöfte
wurden ursprünglich ausschließlich entlang der Flüsse angelegt,
da diese die einzigen Verkehrswege darstellten. Erst allmählich gliederten
sich rückwärtig weitere Siedlungsreihen an, was eine Ausweitung
des Rodungslandes und die Anlage von Wege- und Straßensystemen erforderte.
Diese Siedlungsachsen werden bis heute als rang bezeichnet. Allerdings
kann man sich Bartz nicht bedingungslos anschließen, der diese Art
der Fluraufteilung als Flußhufensystem bezeichnet. In Neufrankreich
gab es keinerlei Hufenverfassungen mit gleichgroßen Besitzeinheiten.
Vielmehr war die Agrarverfassung dieser Siedlungen ein etwas modifiziertes
Feudalsystem, das seine Wurzeln im Mittelalter hat und das in der Neuen
Welt unter der Bezeichnung Seigneurialsystem bis in die jüngere
Vergangenheit weiterlebte (R. C. Harris, 1966). Die Landvergabe an die
Siedler erfolgte auf der Grundlage des Treuegelöbnisses ( foi
et hommage) der Kolonisten (censitaires oder habitants)
gegenüber dem Seigneur, der auch über feudale Bannrechte verfügte.
Hierzu gehörten insbesondere der Mühlenbann ( banalité
du moulin), der Ofenbann ( banalité du four) und der
Kelterbann ( banalité du pressoir).
Ebenso unverkennbar wie die Flur- sind die Hausformen in ihrer architektonischen
Gestaltung, die an die Herkunft der französischen Siedler aus der
Normandie und der Bretagne erinnern. Aus diesen beiden Landesteilen stammen
fast 90 % aller rd. 12.000 Emigranten, die zwischen 1605 und 1763 Frankreich
verlassen haben, um in der Kolonie Neufrankreich zu siedeln. Dies sei deshalb
besonders hervorgehoben, weil der Anteil der Frankokanadier an der Gesamtbevölkerung
Kanadas heute über sechs Millionen beträgt. Es entsteht fast
zwangsläufig die Frage, wie es kommen konnte, daß die im nordamerikanischen
Kolonialkrieg unterlegene und zahlenmäßig geringe französische
Bevölkerung Kanadas ihre Identität überhaupt hat bewahren
und sich zudem noch so stark hat vermehren können, daß sie heute
als Gefahr für den Fortbestand des Landes eingeschätzt
wird.
Hatte Frankreich im 17. Jahrhundert mit der Zurückweisung der beiden
Waldläufer des Groseilliers und Radisson sicherlich einen Kardinalfehler
begangen, so war die Politik Englands in der Folge des Friedens von Paris
von nicht weniger großer Tragweite - diesmal mit umgekehrten Vorzeichen.
England versuchte, die Ausgaben, die der Kampf gegen die Franzosen verursacht
hatte, durch Sondersteuern unter den Siedlern Neuenglands wieder einzutreiben.
Dies führte, verständlicherweise, zu Empörung und Widerstand,
die noch dadurch verstärkt wurden, daß die englische Krone das
nunmehr zugängliche Mississippi-Ohio-Gebiet nicht für die Besiedlung
öffnete, um es dem Pelzhandel vorzubehalten.
1.3. Britische Québec-Akte
Im eroberten Neufrankreich kam es ebenfalls zu Verwicklungen, vor allem
deshalb, weil England als Folge des Pariser Friedens das französische
Rechtssystem zunächst aufhob und durch Dekret vom 17. September 1764
durch die Laws of England ersetzte. Die ständigen Eingaben
und Proteste der Canadians(wie die französischen Siedler in
der Korrespondenz der Engländer bezeichnet wurden) führten im
Jahre 1771 schließlich zu einem wichtigen Erfolg, als der englische
König Georg die Wiedereinführung des französischen Rechtssystem
wie folgt anordnete: "...being desirous to promote as far as in
Us lies, the Welfare and Prosperity of Our said Province, have thought
fit to revoke & do hereby revoke and annul all such parts of Our Instructions
to you; & every Clause, Matter and Thing therein, which contain any
Powers and Directions in respect to the granting of Lands within Our said
Province: And it is Our Will and Pleasure & you are hereby authorized
and empowered to grant ... the Lands which remain subject to Our disposal,
in Fief or Seigneurie, as hath been practised heretofore antecedent to
the Conquest thereof ... And it is Our further Will and Pleasure that all
Grants in Fief and Seigneurie, so to be passed by you, as aforesaid, be
made subject to Our Royal Ratification ... in like manner as was Practised
in regard to Grants held in Fief and Seigneurie under the French Government“
(Can. Arch.; Sess. Pap. No. 18, 1906/07, S. 295).
Dies war ein äußerst wichtiges Zugeständnis Englands an
die Franzosen, dem schon bald ein sehr viel weiterreichendes folgen sollte.
In dem Maße, wie die Gefahr eines Aufruhrs unter der Bevölkerung
in den neuenglischen Kolonien wuchs, suchte es unter den Franzosen, um
die auch die neuenglischen Kolonisten im Widerstand gegen England buhlten,
nach Loyalität. Diese wurde im Jahre 1774 mit der berühmten Québec-Akte
erkauft, die den französischen Siedlern in ihrem bis dahin kolonisierten
Gebiet weitgehende Privilegien einräumte. Beispielhaft seien genannt
das Recht auf
Beibehaltung des römisch-katholischen Glaubens,
Beibehaltung des französischen Rechtssystems,
die Sicherung des bis zum Zeitpunkt der Niederlage besiedelten Gebiets,
die Beibehaltung der Sprache etc.
Anders ausgedrückt wurde die Québec-Akte zur Garantie der Erhaltung
der französischen Kultur auf dem nordamerikanischen Kontinent. Für
die empörten Kolonisten in den englischen Kolonien brachte die Akte
das Faß endgültig zum Überlaufen, denn durch sie waren
den Franzosen Rechte zugebilligt worden, die ihnen selbst teilweise versagt
geblieben waren. Die Konsequenzen sind bekannt: Viele Historiker sehen
in der Québec-Akte einen entscheidenden äußeren Anlaß
für den Ausbruch des Nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieges.
Die Strategie Englands war nicht aufgegangen, wohl aber war der entscheidende
Grundstein gelegt worden für den Erhalt der französischen Kultur
in der Neuen Welt.
1.4. Räumliche und ökonomische Marginalisierung der Frankokanadier
Gleichwohl bedeutete dies nicht eine Gleichbehandlung der französischen
Kultur und Bevölkerung in der Folgezeit. Im Gegenteil. Was sich rasch
abzeichnete war eine Marginalisierung der Frankokanadier, die im Grunde
bereits in der Québec-Akte impliziert war. Sie hatte eine räumliche
Komponente, indem der französische Siedlungsraum auf die Grenzen von
1763 festgeschrieben und eine Ausweitung darüber hinaus nicht erlaubt
wurde. Alle Gebiete, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht von Siedlern
eingenommen waren, blieben der englischen Kolonisation vorbehalten. England
hatte an einer raschen Besiedlung dieses Landes größtes Interesse,
um die eigene Bastion gegenüber den abtrünnigen Kolonien, aber
auch gegen die französische Bevölkerung zu stärken. Eine
hohe Nachfrage nach Siedlungsland bestand aus den Reihen der sog. United
Empire Loyalists, die auf seiten Englands gegen die Aufständischen
in Neuengland gekämpft hatten und von denen viele nach dem Krieg auf
kanadischer Seite nach einer Bleibe in der Neuen Welt suchten. Etwa 2000
von ihnen kamen übrigens aus Hessen, von wo sie bekanntlich unter
Landgraf Friedrich II. infolge eines Subsidienvertrages mit Großbritannien
den Engländern für ihren amerikanischen Feldzug zur Verfügung
gestellt worden waren.
Noch vor Beendigung des Krieges begann in den 1780er Jahren die Vermessung
des englischen Siedlungslandes, nunmehr im Township-System. Die Anordnung
hierzu war bereits 1768 erfolgt, als der englische König in einem
Dekret an Governor Carleton bestimmte: And Whereas it has been found
by Experience, that the Settling Planters in Townships hath very much redouned
to their Advantage, not only with respect to the Assistance they have been
able to Afford each other in their Cicil Concerns, but likewise with regard
to the Security they have thereby acquired against the Insults and Incursions
of neighbouring Indians or other Enemies; You are therefore to lay out
Townships of a Convenient Size and Extent in such places as You in Your
Discretion shall Judge most proper; And it is our Will and Pleasure that
each Township do consist of about twenty thousand Acres, having as fas
as may be natural Boundaries, extending up into the Country, and comprehending
a necessary part of the River St. Lawrence where it can conveniently had...
(Can. Arch. 1906/07, S. 219).
Schwerpunkte der Landvermessung im Township-System bildeten zunächst
die Eastern Townships im östlichen Anschluß an das Sankt-Lorenz
Tiefland und die Western Townships weiter flußaufwärts im Bereich
der ontarischen Halbinsel. Von den Streifenfluren der Franzosen unterschieden
sie sich grundlegend. Im Idealfall handelte es sich um Blöcke mit
einer Seitenlänge von sechs Meilen, also insgesamt ein Areal von rd.
10 Quadratkilometern. Ein solches Areal wurde geometrisch in 36 Sektionen
(1 Sektion = 640 acres oder 259 ha) unterteilt und an die Kolonisten als
freies Eigentum ( free and common soccage) vergeben. Im Idealfall
bekam jeder Siedler eine Quartersection, ein Viertel einer Sektion und
somit ein Areal von rd. 160 acres (65 ha) (A. Pletsch, 1983, S. 347 ff.).
Die Unterschiede in der Landvermessung sind bis heute ein unverwechselbares
Erkennungsmerkmal französischer und englischer Besiedlung in Kanada
geblieben, auch außerhalb Québecs. Überall, wo auch in
der Folgezeit französische Kolonisten angesiedelt wurden, blieben
sie ihren Streifenfluren treu - etwa im Red River Gebiet Manitobas.
Die räumliche Festschreibung des französischen Siedlungslandes
auf die Grenzen von 1763 führte in der Folgezeit zu erheblichen Problemen,
da sich die Bevölkerung sehr stark vermehrte. Der ihr zugestandene
Raum war schon bald hoffnungslos überfüllt und reichte nicht
mehr aus. Nach einer verstärkten Auswanderung in die Vereinigten Staaten
zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellte die Öffnung der limitierenden
Siedlungsgrenzen innerhalb der Provinz Québec schließlich
ein wichtiges Ventil für die Überbevölkerung des Sankt-Lorenz-Tieflands
dar (Pletsch 1985, S. 164 ff.).
Interessanterweise spielte auch in dieser Frage die Kirche eine wichtige
Rolle. Sie versuchte lange Zeit, das Abwandern der Bevölkerung bzw.
die Expansion in die benachbarten englisch besiedelten Gebiete zu verhindern,
weil sie hier zumindest in der Frühphase keine Pfarreien einrichten
durfte. Erst als sich dies um 1850 änderte, propagierte die Kirche
die Besiedlung auch in den Townships, wenn sie sich selbst entsprechend
etablieren konnte. Teilweise wurde dadurch ein regelrechter Verdrängungsprozeß
ausgelöst, dem viele nichtfranzösische Siedler nachgaben (M.
Schulte, 1988).
Wurde durch diese Vorgänge die räumliche Marginalisierung teilweise
überwunden, so verstärkte sie sich im wirtschaftlichen Bereich
zunehmend. Die französische Bevölkerung bildete ganz überwiegend
das bäuerliche Element in Québec, während die britisch-stämmige
Bevölkerung die Schlüsselpositionen in Politik, Verwaltung, Wirtschaft
und damit auf allen entscheidenden Ebenen innehatte. Vor allem im Zuge
der Industrialisierung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Entstehung
der Textilindustrie begann, zeigte sich die Polarisierung zwischen einer
englischen sog. ruling class und einer weitgehend von dieser abhängigen
frankokanadischen Bevölkerung. Soweit sie nicht in der Landwirtschaft
verbleiben konnte, wurde sie nun zur Arbeiterschaft in den Industriebetrieben,
zu Grubenarbeitern oder zum sonstigen Humankapital des wirtschaftlichen
Aufbaus, in dem sie fast durchgängig nur eine unterprivilegierte Position
einnahm.
Diese externe Umklammerung der Bevölkerung wurde ergänzt durch
eine interne, bei der einmal mehr die römisch-katholische Kirche eine
wichtige Rolle spielte. Sie nutzte ihre durch die Québec-Akte zugestandenen
Rechte geschickt und wurde nicht müde, von der Kanzel herunter Parolen
zum Widerstand gegen die englischen Unterdrücker zu predigen. Eine
ländliche, bäuerliche Bevölkerung war ihr bei diesem Bemühen
nicht unlieb, denn in diesem Milieu konnte sie ihren Einfluß leichter
ausüben als in den städtischen, insbesondere großstädtischen
Zentren, zumal dort die Anteile der britischen Bevölkerung auch deutlich
höher waren.
1.5. La revanche du berceau
Der Kampf der Frankokanadier gegen ihre Unterdrücker wurde
im Laufe der geschichtlichen Entwicklung mit unterschiedlichen Mitteln
geführt. Eine der stärksten Waffen war, von der Kirche propagiert,
die sog. revanche du berceau, die Rache aus der Wiege heraus. Gemeint
war damit die zahlenmäßige Vermehrung aufgrund hoher Geburtenraten,
die für die Provinz Québec bis in die jüngere Vergangenheit
zu den herausragenden demographischen Kennzeichen zählten. Zehn bis
zwölf Kinder waren der Normalfall, dies über mindestens zwei
Jahrhunderte hinweg. Kein Wunder also, daß aus den ehemals rd.
12.000 Immigranten aus Frankreich inzwischen eine frankokanadische Bevölkerung
von über sechs Mio. werden konnte.
Was mit dieser Entwicklung nicht Schritt hielt war die Verbesserung der
Lebensverhältnisse, die besonders in den Arbeitervierteln der Städte,
allen voran in Montreal, teilweise katastrophale Dimensionen annahmen.
Natürlich kam es immer wieder zu Streiks in den Industriebetrieben
wegen der miserablen Arbeits- und Lohnbedingungen, jedoch verfügte
die überwiegend frankophone Arbeiterschaft über zu wenig Unterstützung,
als daß diese Auflehnung gegen das britische Management Erfolg versprochen
hätte. Die Verhältnisse in den Arbeitervierteln von Montreal
um die Jahrhundertwende gehörten zu den schlimmsten auf dem nordamerikanischen
Kontinent. Auch wenn sich dies in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
etwas besserte, so blieben doch die Rahmenbedingungen dieser Konstellation
weitgehend unverändert. Der Anspruch Kanadas, wie er bei der Gründung
der Konföderation im Jahre 1867 formuliert worden war und der eine
Gleichbehandlung und Gleichstellung aller seiner Bewohner postulierte,
war hier alles andere als verwirklicht. Am extremsten hat es P. Vallières
in seinem 1968 erschienenen Buchtitel formuliert, wo er die Frankokanadier
als die Nègres blancs d'Amérique, als die weißen
Neger Amerikas bezeichnete, eine bewußt politisch unkorrekte Formulierung,
die nicht nur als Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen in
Kanadas gemeint war, sondern den ganzen Kontinent mit einbezog.
Sicherlich sind damit nicht alle Kennzeichen der Société
distincte angesprochen, als die sich Québec verstanden sehen
möchte. Aber es ist auch so unbestreitbar, daß hier in einem
langen historischen Entwicklungsprozeß eine eigene Kultur entstanden
ist. Die Spuren der kolonialen Vergangenheit, die bereits vor zweieinhalb
Jahrhunderten endete, sind bis heute landschaftsprägend geblieben.
Sie haben sich überlagert und ergänzt durch Elemente, die sich
im ständigen Konflikt mit den Eroberern ergeben haben. Andere sind
das Ergebnis spezifischer Enwicklungen in Abhängigkeit von räumlichen
und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Québec ist
also längst nicht mehr ein Ableger Frankreichs, aber es ist genausowenig
ein assimilierter Teil der nordamerikanischen Kultur, wie immer diese zu
definieren ist. Die distinctness Québecs erstreckt sich auf
fast alle Bereiche des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, juristischen,
religiösen und politischen Lebens - und sie hat einen sichtbaren und
unverwechselbaren geographischen Unterbau.
2. Das neue politische Selbstbewußtsein der Frankokanadier
Im Rückblick auf die letzten drei Jahrzehnte spannungsreicher
Beziehungen zwischen den Frankokanadiern in Québec und dem „Rest
von Kanada“, wie die unschöne Bezeichnung für alle anderen Kanadier
lautet, und weitere Spannungen antizipierend, hat der landesweit bekannte
Journalist Jeffrey Simpson zu Beginn des Jahres 1997 fast schon resignativ
geschrieben: „Wenn selbst ein Land wie Kanada seine Einheit nicht bewahren
kann, wie kann das Ländern unter ähnlichen Belastungen, aber
wesentlich weniger günstigen natürlichen und menschlichen Voraussetzungen
gelingen?“ (Simpson 1997).
In der Tat ist der Zusammenhalt Kanadas in diesen drei Jahrzehnten mehrmals
auf eine harte Probe gestellt worden, und wenn das Land darüber auch
nicht zerbrochen ist, so sind die Risse und Konfliktlinien zwischen der
Mehrheit der Frankophonen in Québec und der Minderheit der Anglo-
und Allophonen in Québec und den Anglo- und Allophonen außerhalb
Québecs doch dramatisch vertieft worden. Die Bezeichnung allophon
ist übrigens frankokanadischen Ursprungs und bezeichnet alle
diejenigen, die weder franko- noch anglophon sind.
2.1. La révolution tranquille
Das überlieferte Bild von den Auswirkungen ihrer unterschiedlichen
Geschichte und Traditionen auf die Asymmetrie in den wirtschaftlichen und
politischen Beziehungen zwischen der Mehrheit der Frankophonen (den
underdogs) und der Minderheit der Anglophonen (den topdogs)
in der Provinz Québec scheint im Titel des 1945 erschienenen Romans
von Hugh MacLennan auf: „Two Solitudes“. Es hat sich so stark in die allgemeine
Vorstellung von diesem, wie manche militante Québécois sogar
behaupteten, „kolonialistischen“ Verhältnis eingeprägt, daß
der Philosoph Charles Taylor eine Sammlung seiner politischen Essays über
Fragen des Föderalismus und Nationalismus in Kanada unter dem Titel
„Reconciling the Solitudes“ veröffentlichte. Der Zit-Charakter
dieses Titels wurde in Kanada weithin verstanden (allerdings nicht das
darin ausgedrückte Programm).
Der Roman von MacLennan spielt in der Zeit der beiden Weltkriege und
der Zwischenkriegszeit. Als er erschien, bereiteten sich allerdings in
der sozio-kulturellen und wirtschaftlichen Struktur Québecs erhebliche
Veränderungen vor. Nach 1960 traten sie an die Oberfläche und
bewirkten in ihrer Summe eine grundlegende Erneuerung des Selbstverständnisses
der frankophonen Québécois. Um einerseits die Dramatik dieser
Veränderung, andererseits ihren von Gewaltsamkeit (bis auf eine kleine
Episode) freien und mit einer gewissen Leichtigkeit sich vollziehenden
Verlauf zu charakterisieren, ist der ursprünglich im Jahr 1960 von
der liberalen Partei als Wahlkampfslogan benutzte Begriff von der révolution
tranquille, der quiet revolution auch in die Fachliteratur übernommen
worden.
Eine etwas oberflächliche, ihre kulturellen Aspekte in den Vordergrund
stellende, von jedem Erklärungsversuch absehende Registrierung dieser
Veränderungen stammt von Jane Jacobs (1980, S. 8 f): “After all those
years of sulking and muttering, French Quebec suddenly became outgoing,
educated, liberated, and went in for consciousness-raising.“
Tatsächlich ging das alles nicht so plötzlich und unvermittelt
vor sich, und das neue Erscheinungsbild der frankophonen Gesellschaft Québecs
drückte vor allem auch einen tiefgehenden sozialen Wandel aus. Sozialwissenschaftler
haben dafür das Etikett „Modernisierung“ bereit. Die „stille Revolution“
umfaßt alle Veränderungen, die in den sechziger Jahren das frankophone
Québec aus den Bindungen eines traditionellen, konservativen, klerikal
eingefärbten Gesellschaftsideals lösten und über die Ideologie
eines aggressiven Nationalismus in eine wirtschaftlich effiziente, wachstums-
und technologie-orientierte, eben eine moderne Gesellschaft verwandelten,
welche sich in ihren Werten und Zielen nicht wesentlich von anderen modernen
Gesellschaften mehr unterschied.
Man kann es auch anders ausdrücken: Dieser Prozeß eines zwar
lange vorbereiteten, sich aber dann schubartig vollziehenden sozialen Wandels
machte die frankophone Gesellschaft dem anglophonen Teil Kanadas ähnlicher.
Ein beträchtlicher Teil der überlieferten Besonderheiten dieser
Gesellschaft wurde zur Disposition gestellt.
Also ein Verblassen der distinct society? Das erwarteten viele anglophone
Beobachter dieser Vorgänge inner- und außerhalb Québecs,
aber sie täuschten sich nachhaltig. Der Grund dafür liegt in
der spezifischen Art des Managements der Veränderungen. Sie sind,
wie angedeutet, politisch vorangetrieben worden. Die liberale Regierung
unter Jean Lesage benutzte dabei vor allem zwei Instrumente, ein ideologisches
und ein wirtschaftspolitisches, deren Wirkungen sie geschickt kombinierte.
Zur Mobilisierung der Modernisierungskräfte wurde ein aggressiver
Nationalismus aufgeboten, was etwa in dem Slogan„Maîtres chez
nous“ ausgedrückt wurde. Zur Forcierung der ökonomischen
Chancen der frankophonen Québécois wurde nach keynesianischen
Rezepten über Eingriffe des Staates die Wirtschaftsstruktur der Provinz
gründlich verändert. Ablesbar ist das etwa an der enormen Ausweitung
des öffentlichen Sektors seit 1960, worunter sowohl staatliche Dienstleistungen
(z.B. die Ausweitung des Erziehungs- und Bildungssektors) als auch die
Gründung staatlich kontrollierter Unternehmen fallen. Die Staatsquote
erhöht sich in Québec von etwas über einem Viertel im
Jahr 1961 auf etwas mehr als 50 % in den frühen achtziger Jahren (Greiner
1996, S. 50). Man spricht in diesem Zusammenhang von der Provinz auch halb
ironisch, halb hochachtungsvoll von „Québec Inc.“. Mit dieser Form
des „Staatskapitalismus“ wurden seit seiner Einführung dezidierte
Förderungsmaßnahmen für die frankophone Bevölkerung
verbunden, was den raschen Aufstieg einer technokratisch-korporatistisch
ausgerichteten französischsprachigen Mittelklasse bewirkt hat, deren
politische Loyalität mit dem neuen und militanten Nationalismus
verbunden geblieben ist. Als Paradigma und Vorzeige-Erfolg dieser Entwicklung
kann das Elektrizitätsversorgungs-Unternehmen Hydro-Québec
gelten. Seit den sechziger Jahren ist übrigens auch der Geburtenüberschuß
der frankophonen Bevölkerung Québecs drastisch zurückgegangen.
Modernisierung also, aber nicht im Sinne einer Assimilation an die politische
und kulturelle Umwelt, vielmehr unter Betonung der (jetzt sich auf andere
Lebensgebiete verlagernden oder eine neue Bedeutung annehmenden) politischen
und kulturellen Differenzen.
2.2. Nationale Selbstbehauptung in einem föderalistischen Kanada
und einer von den USA dominierten Makro-Region
Die gegenwärtig deutlicher denn je zu konstatierende Zerbrechlichkeit
Kanadas geht hauptsächlich, jedoch nicht ausschließlich auf
das problematische Verhältnis zwischen den beiden „Gründernationen“
der englisch- und der französischsprachigen Kanadier zurück.
Wollte man einen Katalog der existentiellen Herausforderungen aufstellen,
denen sich Kanada heute gegenübersieht, käme man auf eine unfangreiche
Liste. Ein paar der wichtigsten darunter sind etwa:
die Schwierigkeiten, im System des weitgehende Dezentralisierung ermöglichenden
kanadischen Föderalismus die zentrifugalen Kräfte unter Kontrolle
zu behalten;
der wachsende Druck, der von den übermächtigen Wirtschaftsunternehmen
in den USA in der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA auf den kanadischen
Markt ausgeübt wird (daß in der NAFTA auch beträchtliche
Chancen für die kanadische Wirtschaft liegen, steht auf einem anderen
Blatt);
die Probleme einer angemessenen Integration der indigenen Bevölkerung
in Staat und Gesellschaft;
die Balance, die zwischen dem Ziel einer Anerkennung der Besonderheit
von immer zahlreicher werdenden ethnisch, religiös u.a. begründeten
Gruppen (Multikulturalismus) und dem ihrer Einfügung in das gesamt-kanadische
Mosaik zu halten ist;
die Herstellung einer Art von (als Begriff im kanadischen politischen
Diskurs allerdings nicht beheimateten) Verfassungs-Patriotismus;
die Überwindung einer in den letzten Jahren rasch um sich greifenden,
häufig ans Zynische grenzenden allgemeinen Verdrossenheit mit den
politischen Repräsentanten;
die Verarbeitung der Krise des Wohlfahrtsstaates, dessen großzügiges
Funktionieren seit dem Zweiten Weltkrieg eines der Markenzeichen kanadischer
Lebensqualität darstellte (vgl. Schultze, Schneider, 1995, S. 22 ff.).
Nur die wenigsten dieser Herausforderungen gehen direkt auf die anglo/franko-kanadische
Konfliktgeschichte zurück; die meisten davon stellen sich den Provinzregierungen,
auch der von Québec, im Prinzip nicht anders als der Zentralregierung
in Ottawa. Das ist im übrigen auch der Grund, warum viele inner-kanadische
Beobachter der neuesten Entwicklungen in der anglo/franko-kanadischen Konfliktgeschichte
die Meinung vertreten, sie sei eigentlich anachronistisch und obsolet und
halte nur davon ab, sich den wirklich wichtigen Herausforderungen zu stellen.
Das hat einiges für sich. Jedoch nützt das sozusagen gar nichts,
wenn und solange es genügend Akteure in Québec gibt, die, aus
welchen Gründen auch immer, sich von einer Transformation dieser Provinz
in einen eigenständigen Staat, unabhängig von, wenn auch irgendwie
verbunden mit Kanada, eine konstruktive Antwort auf, vielleicht sogar eine
Lösung für all die anderen Herausforderungen an das eigene
Gemeinwesen versprechen und dies auch politisch propagieren.
Genau dies ist aber der Fall und erhöht so die ohnehin schon starken
Haltbarkeitsproben ausgesetzte Kohärenz Kanadas als staatliches Gebilde.
In den letzten Jahren hat sich hier unter den politisch Interessierten
ein eigentümlicher politischer Diskurs der streitbaren nationalen
Selbstreflexivität entwickelt - zu großen Teilen als Reaktion
auf den militanten Nationalismus der Frankokanadier in Québec. In
der Perspektive des Soziologen Alan Cairns muß man heute in Kanada
drei verschiedene „Nationen im soziologischen Sinne“ unterscheiden, nämlich
Québec, das übrige Kanada ( rest of Canada oder als
Akronym ROC) und die Urbevölkerung (Cairns 1993, S. 185). Aber das
geht so nicht auf. Denn erstens bezeichnen sich zahlreiche kleinere Gruppen
und Stämme der Urbevölkerung als Nationen (und sie alle zusammen
in verständlicher polemischer Wendung gegen die beiden Founding
Nations als First Nations), zweitens ist ROC eine immer bunter
gewordene Mischung von Abkömmlingen von Einwanderern und Einwanderern
aus allen Kontinenten (mit gerade stark steigenden asiatischen Anteilen),
drittens gibt es seit neuestem auch ein paar zaghafte Versuche zur Formulierung
eines eigenen anglophonen Nationalismus, viertens sollen ja alle diese
nationalen Differenzierungen auch in einer nationalen Synthese, dem
Pan-Canadianism, im berühmt-berüchtigten hegelianischen
Sinne aufgehoben werden können, was aber, fünftens, gar nicht
so einfach vorstellbar ist, weil es wiederum ganz unterschiedliche, z.B.
„rechte“ und dezidiert „linke“ Versionen eines solchen Nationalismus gibt.
Beide Versionen berühren sich übrigens in ihrem Abgrenzungs-Bedürfnis
gegenüber dem großen südlichen Nachbarn, sind aber ansonsten
nicht besonders mobilisierend.
Unterhalb der Ebene akademischer und in zuweilen hoch-abstrakter Sprache
geführten Debatten über diese fatale Situation einer nicht mehr
recht deutlichen kollektiven Indentität Kanadas gibt es, auch als
Folge der zwar noch gar nicht so langen, aber vielen schon als unendlich
erscheinenden Geschichte der Separations-Bemühungen des politischen
Establishments der Frankokanadier Québecs, inzwischen einen weit
verbreiteten, sich der längerfristigen Folgen für das übrige
Kanada schwerlich bewußten Fatalismus. Das ist die Haltung des „Reisende
soll man nicht aufhalten!“. Ein Brief eines Lesers des Economist aus
Calgary, Alberta, an den Herausgeber vom 6.1.1996 drückt dies so aus:
“Sir - You suggest that appeasement through quasi-constitutional changes
may be enough to weaken the separatist vote so it is lost in the next referendum;
a fond hope that is obviously shared by (Prime Minister) Chrétien.
As we have seen in the past, this approach has not worked, and probably
won’t work next time, either. As one of the fed up ‘Anglos’, I think it
is time to face the issue square on and begin to negotiate separation.
When the avarage Yes-voting Québécois understands that separation
will not be realised on the terms advertised by the separatist leaders,
more than the ‘soft’ separatist support may be lost. If not, then so be
it. Let us get this business settled and stop trying to hold the country
together through appeasement.“
2.3. Politische Institutionalisierung des nationalen Eigensinns
Frankophonen Nationalismus hat es in Québec auch in der Vergangenheit
schon gegeben, und er hat sich in bestimmten Zeiten, z.B. den beiden Weltkriegen,
auch deutlich als Opposition zu Entscheidungen der Regierung in Ottawa
geäußert. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich dieser
Nationalismus weiter entwickelt und ausdifferenziert. In den fünfziger
Jahren, unter den Regierungen Duplessis, war er agrarisch, katholisch und
autoritär bestimmt, also ganz traditionell und insofern auch kaum
„gefährlich“ für den Zusammenhalt Kanadas. Mit der révolution
tranquille änderte sich das. Die sozio-ökonomische Mobilisierung
der Frankokanadier reduzierte die Bedeutung des Agrarsektors, schwächte
die kulturelle Macht der katholischen Kirche und stellte die Autorität
auch anderer überlieferter Institutionen und Organisationen in Frage.
Die politischen Anführer des Wandels, immer auch bedrängt von
besonders ungeduldigen Aktivisten in den eigenen Reihen, denen alles viel
zu langsam ging, benutzten das neue frankophone Selbstgefühl, um innerhalb
der kanadischen Föderation mittels einer Art Verhandlungs-Nationalismus
das politische System in Ottawa zu immer mehr Zugeständnissen zu bewegen,
finanziellen wie auch solchen, die die politische Selbstverantwortung der
Provinz betrafen.
In den Kreisen jener Aktivisten und Militanten, einige von ihnen waren
schon als Mitglieder der Liberalen Partei in fast noch jugendlichem Alter
an den Grundentscheidungen der révolution tranquille und
ihrer Umsetzung beteiligt, entstand in den sechziger Jahren ein Sezessions-Nationalismus,
der heute korporatistisch, säkularisiert und populistisch ist. Seine
frühen Vorformen noch ganz am Rande des politischen Spektrums, die
sektiererisch, linksradikal und in ihren Extremen sogar terroristisch (Front
de Libération du Québec, FLQ) waren, konnten allenfalls für
eine kleine Minderheit der Frankokanadier attraktiv sein.
Traditionsgemäß gab es in Québec zwei Parteien, den Parti
Libéral und die Union Nationale. Die Liberalen starteten die
révolution tranquille, aber weil sie damit in den Augen vieler
ihrer jüngeren Mitglieder nicht weit genug gingen, gründeten
diese 1968 unter Führung des Radio-Journalisten René Lévesque
eine neue Partei, den Parti Québécois (PQ).
Diese Partei nahm einen raschen Aufschwung. Sie entwickelte eine große
Anziehungskraft für die frankophonen Québécois und konnte
sich unter der Flagge eines frankophonen, kulturell wie ökonomisch
ausgerichteten Nationalismus mit dem Ziel der (etwas diffus umschriebenen)
Souveränität Québecs sowohl für sozialistische Intellektuelle
als auch für die neu entstehende Technokratie, sowohl für die
Gewerkschaften als auch für viele frankophone Unternehmer und vor
allem auch für das Bildungsbürgertum als zukunftsträchtige
Alternative zu den Liberalen darstellen. Mit einem große (und z.T.
widersprüchliche) Erwartungen an den Fortgang der Umwandlung Québecs
erweckenden Programm und vor allem auch mit dem Charisma René Lévesques
gelang dem PQ eine bis dahin unbekannte Politisierung der Provinz. “The
decade of the 1970s was a heady springtime of assertiveness, especially
for the generation that benefitted from the educational expansion and middle-class
employment opportunities generated by the Quiet Revolution. To be an educated
youthful French speaker in the 1970s meant that one must be in the PQ camp.“(Esman
1994, S. 158)
Die Wahlerfolge blieben nicht aus. In den Provinzwahlen von 1970 stimmten
23 %, drei Jahre später 30 % der Wähler für den PQ, was
sich indes beide Male wegen des Wahlsystems nicht in einem entsprechend
hohen Anteil an Parlamentssitzen niederschlug. Das änderte sich schlagartig
und unerwartet im November 1976. Der PQ gewann 41 % der Stimmen, aber 64
Sitze und damit die Mehrheit im Parlament. Lévesque wurde zum Regierungschef
(Premier) in Québec gewählt.
Seither haben alle Provinzregierungen Québecs, auch die Liberalen,
die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre für ein paar Jahre
wieder die Mehrheit der Parlamentssitze gewinnen konnten, mit unterschiedlichem
Nachdruck und unterschiedlichen Strategien eine Politik der Festigung des
Nationalismus der Québécois befördert.
Der PQ hat sich immer als reine Provinzpartei verstanden und darauf verzichtet,
bei Wahlen zum Parlament in Ottawa aufzutreten. Hier lautete die Alternative
traditionsgemäß: Liberale versus Konservative. Auch das
ist eine Besonderheit in Kanada, die relativ große Zahl der sich
auf einzelne Provinzen beschränkenden Parteien und die beträchtlichen
Unterschiede in der Präsenzstärke der föderationsweit auftretenden
Parteien. Nun hat es ja einiges für sich, daß eine politische
Partei, die die Unabhängigkeit Québecs anstrebt, ihren Aktionsbereich
ausschließlich in dieser Provinz hat. Es ist 1990 aber doch zur Gründung
einer auf Bundesebene, d.h. im Parlament in Ottawa agierenden Partei Québecs
gekommen. Lucien Bouchard, gegenwärtig der Premier von Québec,
trat damals aus der konservativen Partei aus und gründete den Bloc
Québécois (BQ), sozusagen den bundespolitischen Arm des Parti
Québécois.
Nach den allgemeinen Wahlen Ende Oktober 1993, die mit einer vernichtenden
Niederlage der bis dahin gut ein Jahrzehnt regierenden Konservativen
und einem (wiederum wegen des Wahlrechts eindeutiger gemachten) Wahlsiegs
der Liberalen endeten, stieg der Bloc Québécois für
eine Wahlperiode sogar zur stärksten Oppositionspartei im Unterhaus
auf, eine verfassungsrechtlich mit etlichen Privilegien gegenüber
den anderen Oppositionsparteien herausgehobenen Position, die von den
BQ-Abgeordneten zumeist dazu benutzt wurde, für das Ziel der Unabhängigkeit
Québecs Werbung zu machen.
Mit der Institutionalisierung ihres politischen Hauptinteresses sowohl
auf Provinz- als auch auf Bundesebene ist es den Anhängern der Unabhängigkeit
Québecs gelungen, dieses Interesse zu einem Gegenstand quasi-permanenter
Auseinandersetzung in der kanadischen Innenpolitik und teilweise sogar
auch der Außenpolitik zu machen. Dies fiel auch deshalb nicht besonders
schwer, weil die Inhalte und Formen der auf diese Unabhängigkeit vorbereitenden
Politik in Québec selbst nicht ohne wortkräftige Opposition,
z.B. der anglophonen Kanadier stieß, die in dieser Provinz lebten.
2.4. Frankophone Sprach- und Kulturpolitik
Das frankophone Québec ist ein gutes Beispiel für die wachsende
Bedeutung kultureller Faktoren in der Politik, die mit den Herausforderungen
der Globalisierung zu kämpfen hat. Denn anders als ein oberflächliches
politisches Denken es suggerieren möchte, bedeutet Globalisierung
keineswegs nur Vereinheitlichung und Ent-Differenzierung. Im Gegenteil,
es gehört zu dieser Entwicklung auch die Kräftigung regional
oder lokal definierter kollektiver Identität. Die französische
Sprache und die frankophone Kultur bilden deshalb den Kern des neuen Nationalismus
in Québec, und es war die Furcht vor dem Verlust der eigenen Sprache
und Kultur, die insbesondere auch bei den Intellektuellen zur Triebkraft
eines politischen Aktivismus’ in Richtung auf Souveränität und
Sezession wurde: “Nationalism has many roots: history, culture, territory.
But the main reason why nationalist feeling has fueled a powerful secessionist
movement in Quebec is the fragility of the French language in North America.“
(Dion 1992, S. 88)
Die verschlungene und zuweilen richtig dramatische Geschichte der frankophonen
Sprach- und Kulturpolitik als eines Vehikels für kollektive Identitätsbildung
und -festigung läßt sich nicht erzählen, ohne auf die kanadische
Bundesebene Bezug zu nehmen. Hier waren es erst der Liberale Pierre Trudeau
und später der Konservative Brian Mulroney, die als Premierminister
jeweils eine dezidierte Québec-Politik verfolgten und beide, so
will es heute scheinen, keine sehr glückliche Hand dabei hatten.
Pierre Trudeaus Vision war eine Neudefinition Kanadas als Vielvölkerstaat
unter besonderer Berücksichtigung der Ansprüche Québecs,
die er allerdings strikt auf kulturelle Angelegenheiten beschränken
wollte, denn die Einheit Kanadas schien ihm nur dann gewährleistet
zu sein, wenn die Zentralregierung gegenüber den Provinzregierungen
eindeutig gestärkt würde. Diese Vision setzte er zunächst
in eine „Paketlösung“ um: Stärkung der Zentralregierung plus
Stärkung eines gesamt-kanadischen Nationalbewußtseins plus Stärkung
der frankophonen Präsenz innerhalb Kanadas durch Förderung von
Bilingualismus (Zweisprachigkeit) und Bikulturalismus. Trudeau begann rasch
mit der Umsetzung dieses Programms. So wurde 1969 der Official Languages
Act erlassen: Seither sind Englisch und Französisch die beiden
offiziellen Sprachen in Kanada, was u.a. heißt, daß alle öffentlichen
Dokumente in beiden Sprachen verfaßt und (seit 1974) alle Warenbeschriftungen
und Gebrauchsanleitungen zweisprachig sind. 1982 ist diese Bestimmung in
der Canadian Charter of Rights and Freedoms verfassungsrechtlich verankert
worden.
Zwar gehören Bilingualismus und der sich relativ rasch aufgrund der
Forderungen zahlreicher anderer ethnischer Gruppierungen aus dem Bikulturalismus
entwickelnde Multikulturalismus inzwischen zu den nationalen Markenzeichen
Kanadas, aber es kann keine Rede davon sein, daß das frankophone
Québec sich dadurch in irgendeiner Weise von dem kulturellen Druck
der anglophonen Umwelt befreit gefühlt hätte, im Gegenteil. In
der Provinz begann 1969 eine eigenständige Sprach(en)politik. Die
folgenden Jahre waren in Québec durch permanente kleinere „Sprach(en)kriege“
gekennzeichnet. Nach dem Wahlsieg des PQ 1976 eskalierte er. Die Provinzregierung
von René Lévesque erließ den Act 101, der besagte,
“that French must be the usual language of work, instruction, communication,
trade, and business in Québec. The English-speaking minority could
retain its own language in publicly funded health care and social institutions,
public schools, and universities, but access to English elementary and
secondary schools was denied to French speakers and allophones.“ (Dion
1992, S. 91)
Dieses insbesondere in seinem zweiten Teil unter freiheitlichen Gesichtspunkten
nicht unproblematische Gesetz hatte aber den von den nationalistischen
Québécois gewünschten Erfolg. Ende 1988 wurde es von
einer liberalen(!) Provinzregierung ergänzt durch den Act 178, wonach
die Ladenschilder in der Provinz außen an Gebäuden ausschließlich
in Französisch abgefaßt sein müssen. Innerhalb von Gebäuden
können auch anderssprachige Schilder Verwendung finden, aber nur dann,
wenn ihre Buchstabengröße kleiner ist als die auf den französischsprachigen
Ladenschildern.
Dies ist für einen Außenstehenden nun wirklich nicht ganz einfach
nachzuvollziehen. Act 178 hat im übrigen das Seine dazu beigetragen,
die Atmosphäre zwischen der frankophonen Mehrheit in Québec
und der nach dem freiwilligen Exodus vieler Anglophoner aus der Provinz
kleiner gewordenen anglophonen Minderheit erheblich zu verschlechtern.
2.5. Abstimmungen ohne Entscheidung
Die Sprach(en)- und Kulturpolitik bildet auch den Kern der großen
Abstimmungskampagnen, die seit 1980 das Verhältnis Québecs
zu Kanada und der übrigen Kanadier zu Québec und dem dort brodelnden
Unabhängigkeitsstreben in unregelmäßigen Abständen
durchschütteln. Sieht man von dem maßgeblich als Teil der Trudeauschen
Vision eines erneuerten Föderalismus durchgesetzten Constitution Act
von 1982 einmal ab, der freilich auch (nicht gerade konstruktive) Auswirkungen
auf dieses Verhältnis hatte, dann sind es vor allem zwei Initiativen
auf Bundesebene und zwei auf Provinzebene Québecs, die hier folgenreich
waren.
Sie werden im folgenden chronologisch abgehandelt, weil jeder „Fehlschlag“
(und jede dieser Aktionen wurde von mindestens einem der Hauptakteure
als solcher qualifiziert) auf die nächstfolgende Abstimmung abfärbte.
Erstens das Referendum in Québec vom 20. Mai 1980: Vier Jahre
nach ihrem unerwarteten Wahlsieg legte die PQ-Regierung den Einwohnern
der Provinz die (vorsichtig und umständlich formulierte) Frage vor,
ob sie damit einverstanden seien, daß mit der kanadischen Regierung
Verhandlungen über den Weg zur Souveränität Québecs
aufgenommen würden, wobei diese Souveränität durch eine
Wirtschaftsunion mit Kanada, einschließlich einer gemeinsamen Währung
ergänzt werden sollte. Das Ergebnis dieser Volksabstimmung nach einem
heftigen politischen Kampf war für die Anhänger der Unabhängigkeit
Québecs nicht erfreulich. Bei einer Wahlbeteiligung von 86 % der
Stimmberechtigten wollten 40,4 % der PQ-Regierung Québecs das erbetene
Verhandlungsmandat geben, wohingegen 59,6 % mit Nein stimmten. Politstrategen
der Ja- wie der Nein-Seite haben später neben dem massiven Einsatz
der Regierung in Ottawa unter Trudeau gegen die PQ-Regierung auch die wachsweiche
Formulierung der Frage selbst für den Ausgang des Referendums verantwortlich
gemacht - ein Argument, das sich die Anhänger von Québecs Unabhängigkeit
gut merkten.
Zweitens der Versuch des konservativen Nachfolgers von Trudeau als
Premierminister in Ottawa, von Brian Mulroney, mit dem liberalen Nachfolger
von Lévesque als Premier in Québec, mit Robert Bourassa,
sowie mit den Premiers der anderen Provinzen eine Verfassungsänderung
durchzusetzen, welche Québec eine Reihe von Sonderrechten einräumen
sollte, die aber insgesamt trotz einer leichten Schwächung der Zentralregierung
keineswegs zu einer Herauslösung dieser Provinz aus Kanada hätten
führen können. Der Kompromiß, der im Juni 1987 am Meech
Lake erreicht wurde und der nach seinem Entstehungsort heißt, hätte
bis Mitte 1990 von allen Provinzparlamenten ratifiziert werden müssen.
Die Parlamente in Neufundland und in Manitoba versagten ihre Zustimmung,
und so endete dieser Versuch wie das Hornberger Schießen. Allerdings
mit einem Unterschied - der Mißerfolg von Meech Lake rührte
in ganz Kanada die Emotionen auf. Die Québécois deuteten
ihn unter tatkräftiger Mithilfe ihrer nationalistisch eingestellten
Medien als ein Schlag ins Gesicht von seiten des anglophonen Kanada. Anderenorts
beklagte man das handwerkliche Ungeschick Mulroneys oder war wiederum erbittert
über die als überzogen wahrgenommenen Reaktionen aus Québec.
Mit einem Schlag war das Thema der Unabhängigkeit Québecs wieder
hochbrisant geworden.
Drittens das Kanada-weite Referendum zum Charlottetown Accord vom
Oktober 1992: Nachdem der ohne Partizipation der Öffentlichkeit zustandegekommene
Kompromiß von Meech Lake durchgefallen war, unternahm die konservative
Regierung in Ottawa einen zweiten Versuch zur Verfassungsänderung
mit Zugeständnissen an die Provinzen, insbesondere auch an Québec,
das als distinct society anerkannt werden sollte. Nach monatelangen
öffentlichen Debatten, an denen sich zu beteiligen alle Gruppen im
Lande von der Regierung ausdrücklich aufgefordert wurden, wurde am
26. 10. 1992 über den Charlottetown Accord in einem Referendum abgestimmt
- und zwar im Sinne der Gegner des Accord(unter ihnen als lautstarker
elder statesman auch Trudeau).
Nach diesem Debakel schienen die meisten Kanadier die Nase voll zu haben
von Verfassungsdebatten. Kümmern wir uns um die wirklich wichtigen
Probleme, z.B. die Wirtschaft des Landes, lautete eine weit verbreitete
und populäre Meinung. Unter den Québécois sah man das
anders. Auch wenn man sich weder vom Meech Lake Kompromiß
noch vom Charlottetown Accord viel versprochen hatte, die Separatisten
schon gar nicht, so interpretierte man die doppelte Zurückweisung
als gezielten Schlag ins Gesicht. Das gab der PQ-Regierung unter Jacques
Parizeau Auftrieb und beschleunigte dessen Projekt eines erneuten Referendums
in der Provinz Québec. Das ist also das vierte zu berichtende
Ereignis in der Kette der Abstimmungen ohne Entscheidung. Zwar gab es natürlich
eine Entscheidung bei dieser Volksabstimmung vom 30. 10. 1995, wenn auch
eine überaus knappe. Aber von den Anhängern eines Souveränitäts-Kurses
für Québec wurde sie ebenso natürlich nicht akzeptiert.
Die Einwohner der Provinz wurden gefragt, ob sie dafür sind, daß
Québec souverän wird, und 49,4 % stimmten mit Ja, während
50,6% mit Nein stimmten. Die Wahlbeteiligung lag hoch: bei 94 %.
Das war so knapp, daß alle, Befürworter wie Gegner der Souveränitäts-Option,
gleichermaßen durchatmeten, wenn auch aus anderen Gründen. Seither
hat es außer einer Reihe von mehr oder weniger vagen Zusagen der
liberalen Zentralregierung unter Jean Chrétien an die Adresse der
Québécois, daß man ihre distinctness zu respektieren
bereit sei, und den ebenfalls bewußt vage gehaltenen Ankündigungen
des Nachfolgers von Jacques Parizeau als Chef der PQ-Regierung in Québec,
Lucien Bouchard, daß man es nach geraumer Zeit noch einmal probieren
werde, sich das Mandat für die Unabhängigkeit zu holen, nicht
viel Bewegung gegeben. Aber das ist, wie man vermuten kann, nur eine Atempause,
von der niemand weiß, wie lange sie dauern wird.
Ausblick: Geschichte und Zukunft
In Nordamerika tragen die Autoschilder neben der üblichen Nummern-
und Buchstabenkombination auch einen kurzen Slogan, der ein besonders beliebtes
Kennzeichen oder eine Besonderheit des Staats (in den USA) oder der Provinz
(in Kanada) hervorheben soll. Die Autoschilder in Québec versichern
dem Betrachter „ Je me souviens“ (ich erinnere mich). Woran? An
die Geschichte der Kämpfe und Probleme der frankophonen Vorfahren
zwecks Erhalt ihrer Sprache, ihrer Kultur, ihrer kollektiven Identität.
Es handelt sich also hierbei um eine politische Botschaft, und wie immer,
wenn es um Politik geht, ist ausdrücklich oder unausdrücklich
derjenige präsent, gegen den die eigenen Interessen notfalls kämpferisch
durchgesetzt werden. Je me souviens heißt also auch: Wir vergessen
nicht, daß die anglophonen politischen Kräfte unsere Gegner
sind.
Gewiß spielt da auch viel Symbolik eine Rolle. Und es spricht auch
einiges für die Vorstellung, daß das starke politische Bedürfnis
nach Unabhängigkeit und Souveränität vielleicht nur eine
Generation oder maximal eineinhalb Generationen wirklich von innen beseelt
hat. Damit ist die Generation gemeint, die ihre Kindheit in den vierziger
und ihre Jugend in den fünfziger und vielleicht noch sechziger Jahren
verlebt hat. Die Jüngeren, die von jenen Marginalisierungen der Québécois,
über die sich ihre Eltern immer noch erregen, selbst kaum etwas mitbekommen
haben, ob auch sie einen so starken frankophonen Nationalismus übernehmen
und weiterpflegen werden? Das läßt sich gegenwärtig schwer
entscheiden. Sicher ist, daß die Gesellschaft Québecs einen
enormen Modernisierungsschub hinter sich hat und sich heute diesbezüglich
von anderen kanadischen Provinzen kaum unterscheidet. Die Bevölkerung
hat sich mit den Auswirkungen des Zerbröckelns von Wohlfahrtsstaat,
mit Arbeitslosigkeit und, allgemeiner gesagt, mit dem Druck der Globalisierung
auf die eigene Gesellschaft auseinanderzusetzen.
Es wäre allerdings falsch, wollte man allein deswegen die Wirksamkeit
der Geschichte, die Lebendigkeit der Tradition und vor allem den kollektiven
Willen, die frankophone Kultur zu behalten, für anachronistisch ansehen.
Für das politische Establishment Kanadas geht es heute und in der
nahen Zukunft mehr denn je darum, die staatliche Einheits-Perspektive attraktiv
zu halten und Wege zu finden, die distinct society Québecs
in die kanadische Gesellschaft zu integrieren. Anderenfalls könnte
eine Neuauflage des Referendums von 1995 zu einem anderen Ergebnis kommen,
und das würde die Gestalt Kanadas früher oder später wirklich
aufbrechen - nicht in zwei, sondern dann in mehrere Teile.
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Prof. Dr. Alfred Pletsch, Philipps-Universität Marburg, Fachbereich
Geographie, Deutschhausstraße 10, 35037 Marburg
e-mail: pletsch@mailer.uni-marburg.de