Barth, Dirk: Vorwort. In: Es begann vor hundert Jahren. Die ersten Frauen an der Universität Marburg und die Studentinnenvereinigungen bis zur "Gleichschaltung" im Jahre 1934. Eine Ausstellung der Universitätsbibliothek Marburg vom 21. Januar bis 23. Februar 1997. Ausstellung und Katalog Margret Lemberg. Marburg 1997 (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg ; 76). - S. IXf. http://archiv.ub.uni-marburg.de/sum/76/sum76-2.html


Vorwort von Dirk Barth

"Es begann vor hundert Jahren": Diese Ausstellung widmen die Autorin und die Universitätsbibliothek Marburg Ingeborg Schnack zu ihrem 100. Geburtstag am 9. Juli 1996.

Die Idee, Ingeborg Schnack hiermit unsere Reverenz zu erweisen, kam uns, bald nachdem der Plan gefaßt worden war, mit einer Ausstellung an die Anfänge des Frauenstudiums in Marburg vor hundert Jahren zu erinnern. Mit einer gewissen Überraschung konnten wir feststellen, daß ihr Geburtstag fast genau mit dem Datum zusammenfällt, unter welchem der preußische Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten den Universitätskuratoren die Befugnis übertrug, Frauen ohne die bis dahin übliche Rückfrage in Berlin den gastweisen Besuch von Vorlesungen zu gestatten. Diese zufällige Koinzidenz kam uns als äußerer Anlaß gelegen, gerade in diesem sachlichen Zusammenhang eine Frau zu ehren, die zwar nicht zur allerersten Studentinnengeneration unserer alma mater gehört, sich aber in einer Zeit, die noch der Frühphase des Frauenstudiums zuzurechnen ist, als Studentin und danach als junge Akademikerin zu behaupten wußte.

Ingeborg Schnack hat zeit ihres Lebens wissenschaftlich gearbeitet. Dem Buch mit allen Fasern ihres Wesens zugetan, war sie aber auch "praktische" Bibliothekarin: Bibliothekarin von Herzen und von Beruf. 1923 trat sie als erste Frau in die seinerzeit noch junge Laufbahn des höheren Bibliotheksdienstes in Preußen ein. Wie Jacob Grimm, dem sie einen Gutteil ihrer bibliothekarischen wie wissenschaftlichen Aufmerksamkeit widmete, wurde sie Bibliothekarin in der Erwartung, daß dieser Beruf ihr Zeit für eigene wissenschaftliche Studien lassen würde. Für Jacob Grimm bedeutete die bibliothekarische Tätigkeit vor allem "den besonderen Vorzug, die anvertrauten Schätze ... ohne Einschränkung zur Verfügung zu haben, sie eigener wissenschaftlicher Arbeit nutzbar zu machen". Auch Ingeborg Schnack hat die ihr anvertrauten Schätze der Universitätsbibliothek und der Sammlung Kippenberg zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Arbeit gemacht. Sie hat aber, betrachtet man den Gesamtertrag ihres arbeitsreichens Lebens, beides ganz betrieben: die Bibliothekstätigkeit und die Wissenschaft.

Die Universitätsbibliothek Marburg sieht sich Ingeborg Schnack zu besonderem Dank verpflichtet. Sie hat - zuletzt als Stellvertreterin des Direktors - mit unermüdlicher Tatkraft, mit Energie und Einfallsreichtum während ihrer gesamten beruflichen Laufbahn Außerordentliches für ihre Bibliothek geleistet. Organisatorische Neuerungen tragen ihre Handschrift. DasRiesenwerk der Auslagerung umfangreicher Teile des Bibliotheksbestandes während des Zweiten Weltkrieges und ihrer Rückführung - und damit ihrer Rettung - verdanken wir ihrem rastlosem Einsatz. Herausragende Handschriftenbestände der Bibliothek konnten durch sie erworben werden. Und schließlich gelang es ihr, die Bibliothek nach dem Krieg durch überregional bedeutsame Ausstellungen einem breiteren Publikum zu öffnen. Sie begründete damit recht eigentlich die Ausstellungstradition dieses Hauses. Gerade in schweren Zeiten hat sie in ihrer entschiedenen und zupackenden Art die Entwicklung dieser Bibliothek mitgestaltet, ja Maßgebliches zu ihrem Überleben beigetragen.

Und sie ist ihrer alten Wirkungsstätte auch in all den Jahren nach ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Bibliotheksdienst im Jahre 1961 auf vielfältige Weise verbunden geblieben. So hat sie etwa alle ihre Buchveröffentlichungen der Bibliothek mit kollegialer Widmung zum Geschenk gemacht.

Als kleines Zeichen des Dankes für ihre bibliothekarischen Leistungen und die immer wieder gezeigte enge Verbundenheit veröffentlichte die Universitätsbibliothek aus Anlaß ihres neunzigsten Geburtstags unter dem Titel "Gestalten und Profile" eine Hommage an die gelehrte Bibliothekarin, die auch eine 121 Titel umfassende Personalbibliographie enthielt, ein Verzeichnis, das mittlerweile um viele Titel, unter ihnen der zweibändige Briefwechsel Rainer Maria Rilkes mit Anton Kippenberg (1995), auf über 150 angewachsen ist.

Ingeborg Schnack hat dauerhafte Spuren in der Geschichte dieser Bibliothek hinterlassen. Sie hat sich um die Universitätsbibliothek Marburg verdient gemacht.

Nun, anläßlich ihres hundertsten Geburtstages, möchte die Bibliothek mit dieser Ausstellung wieder ein wenig von ihrer Dankesschuld abtragen.


Marburg, im Juli 1996 Dirk Barth