Gerold Becker: Lietz und Geheeb. Vortrag vom 12. April 1996 an der 10. internationalen Wagenschein-Tagung an der Ecole d'Humanité, Goldern. Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1999/0015.html - Zuerst als: Gerold Becker: Lietz und Geheeb. Vortrag vom 12. April 1996 an der 10. internationalen Wagenschein-Tagung an der Ecole d'Humanité, Goldern (=Schriften der Schweizerischen Wagenschein-Gesellschaft, 8), Goldern 1996.
Lietz und Geheeb
Vortrag vom 12. April 1996 an der 10. internationalen Wagenschein-Tagung
an der Ecole d'Humanité, Goldern
Von Gerold Becker
Inhalt:
Der Autor über sich:
Gerold Becker: geboren 1936, nach einigen Semestern Architektur
Wechsel zur Theologie. Nach Abschluß des Studiums mehrere Jahre im
kirchlichen Dienst. Dann Studium der Pädagogik und der Psychologie,
Assistent bei Heinrich Roth am Pädagogischen Seminar der Universität
Göttingen. 1969-1985 Mitarbeiter an der Odenwaldschule (ab 1972 als
deren Leiter). Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hessischen
Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung in Wiesbaden.
© Schriften der Schweizerischen Wagenschein-Gesellschaft Nr. 8/1996
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Dem Andenken von Hellmut Becker gewidmet, der mich gelehrt hat, die
Landerziehungsheime mit großer Sympathie, ihre Geschichte aber
auch verblüfft und amüsiert zu betrachten. |
Inhaltsverzeichnis
Mal wieder eine Zwickmühle: Es würde mich wundern, befänden
sich unter meinen Zuhörern heute morgen nicht einerseits Menschen,
die über meinen Gegenstand, die Anfänge der
Landerziehungsheimbewegung vor fast einhundert Jahren, zumindest ebenso
gut informiert sind wie ich, oft vermutlich sogar Details kennen, von
denen ich nichts weiß oder die ich wieder vergessen habe. Und
andererseits wird es Zuhörer geben, die von diesen Geschichten und
den in ihnen handelnden Personen nur sehr ungefähre Vorstellungen
haben. Wie kann ich vermeiden, für die einen längst Bekanntes zu
wiederholen, bei den anderen nicht etwas als selbstverständlich
Vertrautes vorauszusetzen, was dann außerhalb eines engeren Kreises
durchaus nicht so selbstverständlich vertraut ist, wie es sich
Insider gern einbilden?
Hinzukommt, daß ich mich zur Vorbereitung dieser Überlegungen
in ein abgelegenes Dorf zurückgezogen hatte, nur wenige Bücher
und Dokumente mitnehmen konnte. Ich mußte mich also weitgehend auf
mein Gedächtnis verlassen. Bei nochmaliger Lektüre der "Quellen"
würde sich vielleicht manches ein wenig anders darstellen.
Nicht nur, um diese verschiedenen Nöte ein wenig zu mildern,
sondern auch weil es mir von der Sache her möglich scheint, will ich
Ihnen keinen im strengen Sinne historischen Vortrag halten, also zum
Beispiel nicht noch einmal und gar mit neuen Einzelheiten, Quellen und
ihren Interpretationen, die Vorgeschichte und Geschichte jener Gründung
des allerersten Landerziehungsheimes durch Hermann Lietz im Jahre 1898
nachzeichnen - oder die Bekanntschaft (vermutlich ab 1892) und
Zusammenarbeit von Lietz und Geheeb, die Mitarbeit Geheebs im Lietz'schen
Landerziehungsheim Haubinda von 1902 bis 1906, das Wickersdorfer
Zwischenspiel von 1906 bis 1909 und schließlich die Gründung
der Odenwaldschule im Jahre 1910. Das alles ist mehrfach dargestellt
worden. Es gibt zahlreiche kleinere und größere Veröffentlichungen,
wenn auch umfassende, kritische Biographien von Lietz und Geheeb bis heute
ausstehen.
Den Hintergrund werde ich also nur insoweit und insofern ein wenig
ausmalen, als er mir für das Verständnis der Situation wichtig
scheint, die WAGENSCHEIN antraf, als er in den 20er Jahren Mitarbeiter der
Odenwaldschule wurde - nicht irgendein Mitarbeiter, sondern einer, der
seinerseits, zumindest für die Odenwaldschule seiner Zeit, vermutlich
wichtige Weichenstellungen vorgenommen hat, selbst wenn das gar nicht
seine Absicht gewesen sein sollte.
Es muß dabei auch von den handelnden Personen, also von Lietz und
Geheeb die Rede sein. Das geht nicht ohne ein paar Verweise auf ihre
Biographie, nicht ohne den Versuch, sie auch als "Personen" ein
wenig zu charakterisieren, was nun wieder "Urteile" einschließt,
die mir als Nachgeborenem, der nicht Jahre seines Lebens damit zugebracht
hat, alle Facetten dieser Biographien zu erforschen, eigentlich gar nicht
zustehen.
Außerdem muß, wenn das Wort erlaubt ist, der "Geist"
beschrieben werden, der die Landerziehungsheime bei ihrer Gründung
und dann bis zur Nazizeit bestimmte. Ein Geist, der von Heim zu Heim sich
erheblich unterschied, sich außerdem im Verlauf dieser 35 Jahre noch
jeweils wandelte. Dieser Geist (also die pädagogische Grundstimmung)
hatte ferner einerseits viel mit der Gründungsepoche, also der
Jahrhundertwende und ihren gesellschaftlichen Herausforderungen, zu tun,
andererseits aber auch mit den Personen der jeweiligen Gründer, mit
ihrer Biographie, ihrer Weltsicht, ihren Eigenarten, ihrem "Gefühlshaushalt
".
Nun war aber der "Zeitgeist" der Epoche alles andere als
einheitlich. Das, was wir heute "Pluralismus" nennen, wirkte
schon mächtig, doch gab es weder diesen Begriff noch die in einem mühseligen
und bis in unsere Tage reichenden Lernprozeß erst zu gewinnende
Bereitschaft, sein "Prinzip" zu akzeptieren, das heißt:
sich damit abzufinden oder es gar zu begrüßen, daß eine
einheitliche Weltdeutung nicht mehr möglich war und auch durch noch
so entschiedene Maximen nicht mehr herbeizuzwingen sein würde. Im
Gegenteil sind die Gründer bei allen sonstigen radikalen
Unterschieden sich gerade besonders ähnlich in der Überzeugung,
die jeweils allein zutreffende Interpretation der Nöte ihrer Zeit und
damit zugleich die allein richtige Antwort gefunden zu haben. Dieses
Existieren in einem faktischen Pluralismus, ohne ihn gedanklich vollziehen
zu können oder zu wollen, erklärt vermutlich einen Teil der bis
zum Haß gehenden Heftigkeit der Auseinandersetzung zwischen ihnen.
Sehr persönliche Eigenarten, Interessen, Kränkungen, Erfahrungen
mögen hinzugekommen sein.
Im Grunde stehe ich also vor einer eigentlich unlösbaren Aufgabe,
die ein dickes Buch statt eines einstündigen Vortrags erfordern würde - und bitte um Ihre Nachsicht für alle mir trotz bester Absicht
unterlaufenden Verkürzungen und Verzerrungen.
Wenn es jemand (wie mir) auch noch unzulässig erscheint, Geschichte
darzustellen (also Episoden, indem ich sie auswähle und schon durch
die Wortwahl interpretiere, immer auch zu "bewerten"), ohne ihre
Folgegeschichte zu bedenken, wird die Aufgabe zusätzlich vertrackt:
MARTIN WAGENSCHEIN ist 1923 Mitarbeiter der Odenwaldschule geworden und
hat sie vor 1933 wieder verlassen. Ich konzentriere mich also auf die
Jahre bis 1933. Die Folgegeschichte, also die Nazizeit selbst, das heißt
insbesondere die Veränderungen, die sich um 1933 in den einzelnen
Landerziehungsheimen vollzogen, und dann das Ende 1945, der Neu- bzw.
Wiederbeginn, und die Frage, wieweit sich da "erklärbare"
Muster zeigen, die mit der Vorgeschichte des jeweiligen
Landerziehungsheims zu tun haben, all' das ist ein eigenes schwieriges
Kapitel. (1)
Die Nachkriegsgeschichte, also die 51 Jahre seit 1945 - und damit mehr
als die Hälfte der Gesamtgeschichte der Landerziehungsheime! - wäre
wiederum einen eigenen Vortrag wert. Und da wäre zu fragen: Was ist
denn eigentlich jeweils (denn wir haben es mit Individualitäten zu
tun) vom "Geist" der Gründerjahre geblieben? Was mußte
(mit gutem oder schlechten Grund) aufgegeben, verändert werden, weil
es sich tatsächlich als fragwürdig erwiesen hatte oder erwies?
Und was haben wir einfach nur verschlampt, vergessen, zum Beispiel weil
die Landerziehungsheime seit den 50er Jahr en unter einem ständig
zunehmenden Anpassungsdruck der verwalteten Schule stehen?
Inhaltsverzeichnis
Bis in die jüngste Zeit entspricht kaum etwas von der Literatur über
die Landerziehungsheime und ihre Gründer der Maxime sine ira et
studio. Fast alles ist deutlich "parteiisch" - sei es
apologetisch, beziehungsweise eine vermutlich auch eher bescheidene Praxis
mit großen, goldenen Worten in den Himmel des Wahren, Guten und Schönen
idealisch überhöhend, sei es den "Gegner"
denunziatorisch oder bösartig herabsetzend. Das dürfte vor allem
vier Gründe haben:
- Die Geschichte der Gründungen der Landerziehungsheime ist bis
zum Beginn der Nazizeit, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wesentlich
durch "Sezessionen" bestimmt: Mitarbeiter trennten sich -
anfangs naturgemäß fast immer von Lietz (so auch Geheeb), später
auch zum Beispiel von Wyneken (wie wiederum Geheeb), aber zum Beispiel
auch OTTO ERDMANN von Geheeb, um eigene Landerziehungsheime zu gründen.
Diese Trennungen geschahen selten ohne Krach, wurden fast immer von den
Zurückbleibenden als "Verrat" empfunden, vollzogen sich
oft unter massiven Beschimpfungen und Verdächtigungen, die als "Freund/
Feind"-Denken lange, teilweise bis heute nachwirken.
- Ein großer Teil der "Quellen", aber auch der
Literatur stammt von unmittelbar "Betroffenen" (ehemaligen Schülern,
zum Zeitpunkt der Niederschrift noch aktiven oder ehemaligen
Mitarbeitern). Alle waren fast immer "Partei" - und wollten
auch "Partei" sein. Die emotionale Verstrickung von Schülern
und Lehrern ist an Landerziehungsheimen in der Regel deutlich höher
als an Tagesschulen. Das hängt unter anderem mit dem zusammen, was
ein englischer Pädagoge einmal in Hinsicht auf die public
schools deren hot-house-climate genannt hat, und was ich
aufgrund von Erfahrungen in einem ähnlichen Bereich manchmal das "Diakonissenhaus-Syndrom"
nenne: Das Zusammenleben auf einem vergleichsweise engen Raum, die
Intensität und Kompaktheit der Lebenssituation führen dazu, daß
viele Ereignisse und Verhältnisse, die normalerweise kaum jemanden
aufregen würden, mit heftigsten Gefühlen aufgeladen werden.
Daß Pädagogik immer auch ein
Beziehungsgeflecht voraussetzt und schafft, wird hier besonders
deutlich. Beliebte Lehrerinnen und Lehrer haben vielleicht enge
Vertraute unter den Schülerinnen und Schülern oder eine große
"Gefolgschaft" unter Schülern und Schülerinnen,
unter den übrigen Lehrern und Lehrerinnen. Andere werden von den
Schülerinnen und Schülern geschnitten oder nicht ernst
genommen. Das führt in aller Regel zu massiven Eifersuchtsgefühlen
in Kollegien, über die aber selten oder nie offen geredet werden
kann. Stattdessen wird entweder hinter dem Rücken der Betroffenen
verächtlich oder anzüglich getratscht, der oder die "schmeiße
sich eben an die Schüler ran", wolle sich "lieb Kind
machen" - oder die Verletzungen werden sozusagen pädagogisch überhöht:
man fordert mehr und strengere Regeln, konsequenteres Durchgreifen zum
Beispiel der Schulleitung, oder man denunziert die angeblich "Bevorzugten"
(ob unter Schülern oder Lehrern) vorwurfsvoll als besonders
arrogante Regelverletzer. (Die Reaktion ist entsprechend: Da sind die "anderen"
dann "kleinkariert", "Spießer", "Kinderfeinde"
usw.)
Diese emotionale Verstrickung führt einerseits zu einer oft
anrührenden und nicht selten lebenslangen Identifikation vieler Schüler
und Lehrer mit "ihrer" Schule - oder auch mit bestimmten
Lehrern -, führt aber andererseits dazu, daß man (wie bei
vielen Altschülertreffen der Landerziehungsheime zu beobachten)
auch später nie mehr sine ira et studio über eben dies
Landerziehungsheim und die eigene Zeit dort reden kann, sondern daß
die "Fronten" weniger Jugendjahre über Jahre und
Jahrzehnte (im Zweifelsfall: bis zum Lebensende) immer erneut
wiederbelebt werden.
- Nicht wenige unter den Gründern waren starke, kantige und
streitlustige "Persönlichkeiten", die - manchmal unbewußt,
in der Regel sogar bewußt - Parteiungen provozierten nach dem
Muster "Wer nicht für mich ist, der ist wider mich!" Sie
verlangten, herrisch Bekenntnisse einfordernd oder durch das subtilere
Mittel der Gesprächsverweigerung mit den Häretikern, zumindest
bedingungslose Gefolgschaft, wenn nicht gar Unterwerfung. Sie verstießen
den, der sich ihnen nicht ohne Vorbehalte anschloß, und verfolgten
ihn im Zweifelsfall lebenslang. Lietz und WYNEKEN zeichneten sich in
dieser Hinsicht besonders aus. Beide neigten offensichtlich auch zu
jeder Art von Verschwörungstheorien (doch von denen war auch zum
Beispiel Geheeb durchaus nicht frei, wie seine Briefe zeigen) und waren
Erwachsenen, oft aber auch Kindern und Jugendlichen, gegenüber
ausgesprochen nachtragend.
Paul Geheeb hat 1912 (also 6 Jahre nach der "Sezession"
von Haubinda!) Hermann Lietz, den er immer noch kritisch bewunderte und
dessen Verdienste er, nach einer wüsten und halböffentlich
ausgetragenen Fehde, mittlerweile "öffentlich" durchaus
anerkannte, wenn nicht pries, einen Brief geschrieben (dessen Inhalt wir
nicht kennen). Lietz, mittlerweile höchst erfolgreich und Herr über
drei (eigentlich vier) florierende Landerziehungsheime, hat die Annahme
dieses Briefes verweigert und ihn ungeöffnet zurückgehen
lassen. Anfang der 60er Jahre habe ich den fast blinden GUSTAV WYNEKEN
in Göttingen besucht und im Gespräch unüberlegt gesagt: "Ihr Freund MARTIN LUSERKE ... " Woraufhin mich Wyneken erregt anfuhr: "Nennen
Sie ihn nie meinen Freund!" Das war mehr als ein halbes
Jahrhundert, nachdem Luserke und Wyneken gemeinsam, sozusagen trotzig
und beflügelt zugleich, "Arm in Arm" Haubinda unter wütendem
Protest verlassen hatten, und fast 35 Jahre, nachdem Luserke, von
Wyneken intrigant aus Wickersdorf vertrieben, seine "Schule am Meer"
gegründet hatte.
Aber auch Geheeb ist von solcher Unfähigkeit, zu vergeben und
die Vergangenheit in einem milderen Licht zu sehen, (zumindest
Erwachsenen gegenüber) offenbar nicht frei gewesen. Die sorgfältige
Dokumentation von DENNIS SHIRLEY über die "gnadenlose"
Art und Weise, wie Geheeb nach 1945 mit HEINRICH SACHS, dem Leiter der
Odenwaldschule (auch wenn es da "rechtlich" eine neue "Trägerschaft"
gab) zwischen 1934 und 1945, umgegangen ist, hat jedenfalls meinem
Geheeb-Bild einen ziemlichen Knacks verpaßt.
- Auch für die Landerziehungsheime gilt wie für das gesamte
deutsche Schulwesen und die Erziehungswissenschaft, daß ihre Rolle
während der Nazizeit beileibe nicht wirklich aufgearbeitet ist,
beziehungsweise, daß einschlägige Untersuchungen,
ausgewertete Quellen und Zeitzeugenberichte nicht in das Bewußtsein
(und damit nicht in die eigene Geschichtsschreibung) der Heime
eingedrungen sind. Selbst vorsichtig-abwägende, aber ein wenig
kritische Anmerkungen zur Rolle eines Heimes (oder seines Leiters) während
der Nazizeit rufen fast immer erregte Proteste von Altschülern
hervor, die alles ganz anders erlebt zu haben meinen. Diesem Phänomen
und seinen vermutlichen Ursachen kann ich hier nicht weiter nachgehen.
Es werden zu dem Thema "Übergänge" (nämlich jenen
von 1933 und jenen von 1945) in den Landerziehungsheimen hoffentlich im
nächsten oder im übernächsten Jahr die Untersuchungen von
HARTMUT ALPHEI und anderen vorliegen. Im Zusammenhang meiner
Überlegungen nur dies: Es spricht alles dafür, daß das
Verhalten 1933 und danach nicht ohne Vorgeschichte gewesen sein kann, daß
die Blindheiten gegenüber der barbarischen Grundierung der braunen "Bewegung"
ebenso wenig rein zufällig gewesen sind wie die Affinitäten zu
manchen ihrer Denkmuster, auch und gerade den pädagogischen. Auch
deshalb wurde nach 1945 die Geschichte der Landerziehungsheime vor 1933
zu einem höchst sensiblen Bereich mit Tabus und sorgfältig
kultivierten Legenden, mit selektiver Wahrnehmung und Persil-Scheinen.
Das hat sich - bis heute fortwinkend - gleichsam generalisiert: auch die
eigentliche Gründungsgeschichte (zwei bis dreieinhalb Jahrzehnte
vor 1933!) ist für den, der sie schreibt, kein neutraler
Gegenstand. Was man mitteilt, was man wegläßt, was man in
welchem Zusammenhang deutet, wie bewertet, unterliegt - oft unbewußten! - Vorentscheidungen, wie sie, in einem ganz anderen Kontext, Bertolt
Brecht in seinen "Fünf Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit"
meisterhaft erläutert hat.
Diesen kleinen Exkurs zur "Quellenlage" beende ich also mit
dem Fazit, daß gerade in Hinsicht auf die Landerziehungsheime die
Zeugnisse und Selbstzeugnisse kritisch (und hier und da bitte auch mit
freundlichem Schmunzeln) gelesen werden müssen, seien sie nun
panegyrisch oder anklagend bis vernichtend.
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Derzeit arbeiten in der "Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime"
siebzehn Landerziehungsheime in Deutschland und die Schweizer Ecole
d'Humanité zusammen, nicht immer spannungslos, aber doch einigermaßen
produktiv. Es ist ein eher lockerer Zusammenschluß. Die einzelnen
Landerziehungsheime sind selbständig, haben jeweils ihren eigenen Träger,
sei es eine Stiftung, einen gemeinnützigen Verein, eine gemeinnützige
GmbH oder eine Genossenschaft. Die Unterschiede sind erheblich. Im
kleinsten Landerziehungsheim leben als Interne kaum 50 Schülerinnen
und Schüler, im größten (verteilt auf drei Zweigschulen)
mehr als 470. Manche Landerziehungsheime haben überhaupt keine
externen Schüler, bei anderen übersteigt ihre Zahl inzwischen
die der internen, so daß die Frage erlaubt sein muß (und auch
gestellt wird!), ob es sich nun eigentlich noch um Landerziehungsheime
oder nicht um mehr oder weniger reformpädagogisch orientierte
Tagesschulen mit einem angeschlossenen Internat handele.
Gemeinsam ist allen Landerziehungsheimen immerhin, daß sie sich,
als legitime oder illegitime Kinder, auf mehr oder weniger direkten Wegen
auf den geistigen Urgroßvater Hermann Lietz berufen können,
wobei jedoch zum Beispiel in der Odenwaldschule Paul Geheeb, in Salem KURT
HAHN, in Schondorf vielleicht JULIUS LOHMANN und ERNST REISINGER usw. als
viel wichtiger empfunden werden als jener Hermann Lietz, der dann jeweils
die Rolle eines entfernten und nicht ohne eine gewisse Skepsis
betrachteten Verwandten hat - soweit man überhaupt Genaueres über
ihn weiß.
Gemessen daran, daß die Landerziehungsheime mit ihren derzeit kaum
3000 internen Schülerinnen und Schülern (von insgesamt rund
4600) etwa gegenüber den konfessionellen Schulen oder den
Waldorf-Schulen eine kleine Gruppe sind, ist die Beachtung, die sie in der
pädagogischen Literatur dieses Jahrhunderts (insbesondere, wenn es um
die Zeit bis 1933 geht) gefunden haben, erheblich. Eine bis ins Jahr 1970
reichende Bibliographie von KARL SCHWARZ (2) zählt etwa 2700 Titel auf, darunter
allerdings auch viel "graues Material" und vieles, was entweder
nicht unbedingt landerziehungsheimtypisch ist (obschon eins von ihnen da
jeweils vorkommt) oder auch nicht von besonderem Gewicht.
Einen deutlich größeren Anteil als heute an der Gesamtzahl
der Schulen bzw. der Privatschulen haben die Landerziehungsheime auch in
den Jahren vor 1933 nicht gehabt. Das verblüffende Interesse galt
also vermutlich einem Gesamtentwurf oder bestimmten pädagogischen
Vorstellungen, die in ihnen verwirklicht waren oder zu sein schienen,
Vorstellungen, die so auffallend vom mainstream der allgemeinen
Schulpraxis und ihrer Theorie abwichen, daß sie diese Aufmerksamkeit
erwecken konnten.
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Im Kreis der Landerziehungsheime sprechen wir gern von der "Zeit
der großen Gründer" und meinen damit aus der Zeit vor dem
1. Weltkrieg vor allem Hermann Lietz mit seinen Heimen, Paul Geheeb
(Odenwaldschule 1910), GUSTAV WYNEKEN für Wickersdorf
(3) im südlichen Thüringer Wald
1906), ALFRED KRAMER und THEOPHIL LEHMANN (Holzminden 1909/1910), JULIUS
LOHMANN (Schondorf am Ammersee 1905) - und in den 20er Jahren dann noch
BERNHARD UFFRECHT (Freie Schulgemeinde Letzlingen [bei Gardelegen,
Altmark] 1919), KURT HAHN (Salem 1920), MARTIN LUSERKE (Schule am Meer auf
der Insel Juist 1925), MAX BONDY (Schule Marienau bei Lüneburg 1928),
BERNHARD HELL (Urspringschule bei Schelklingen in Schwaben 1930). Fast
alle Gründer standen irgendwann für kürzere oder längere
Zeit in Kontakt mit Hermann Lietz, viele waren für einige Zeit
Mitarbeiter an einem seiner Heime gewesen und hatten sich, meist nach
heftigen Auseinandersetzungen, von ihm getrennt.
Von heute aus betrachtet scheinen die Anfänge der einzelnen Heime,
von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum vorstellbar. Fast alle Gründungen
waren - finanziell und unter kaufmännischen Gesichtspunkten
betrachtet - schlicht unverantwortlich, lebten von der Hand in den Mund und
finanzierten ihren weiteren Ausbau durch immer neue Schulden oder in der
Hoffnung auf Spenden. Lietz begann 1898 in Ilsenburg mit sieben Schülern
in gemieteten Gebäuden, Paul Geheeb 1910 in der Odenwaldschule mit
vierzehn, von denen mehr als die Hälfte knapp vier Wochen vorher noch
nicht einmal "in Sicht" war. Ich bin sicher, daß heute nur
wenige Eltern, insbesondere, wenn sie (wie praktisch alle Eltern der
ersten Schüler) der "großbürgerlichen" Schicht
angehören, ihre Kinder in so "windige" Unternehmungen geben
würden. (4) Genehmigungen der Behörden
waren auch damals erforderlich, aber sie wurden offensichtlich weit
unkomplizierter erteilt als das heute möglich wäre,
(5) es sei denn, man rührte an
wirkliche Tabus wie Geheeb mit seinem Beharren auf konsequenter
Koedukation. Das war selbst in jenen eher unverregelten Zeiten nur in
einem liberalen Land wie Sachsen-Meiningen (mit persönlicher Rückendeckung
durch den Herzog) oder dann später im Großherzogtum
Hessen-Darmstadt möglich.
Diese Bereitschaft, Neues zu wagen (und es durch eine "Gründung"
einfach anzufangen), ebenso wie die Vorstellung, daß das als Gründungstat
eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe geschehen könne und müsse,
hatte wohl vor allem mit der "Zeitstimmung", dem
Entrepreneurgeist der Wilhelminischen Epoche zu tun, die ja nicht nur
durch Säbelrasseln, Offiziersarroganz und byzantinisches
Beamtengehabe gekennzeichnet war, sondern gleichzeitig auch durch unerhörte
Modernisierungsschübe in allen Bereichen des wirtschaftlichen,
gesellschaftlichen und kulturellen Lebens.
WOLF JOBST SIEDLER schreibt in einem anregenden Aufsatz mit dem Titel "Die
Modernität des Wilhelminismus": "In nahezu jedem Betracht
werden in der Zeit Wilhelms II die Tore in eine neue Ära aufgestoßen.
Und dies ist keine rückwärts gewandte Erkenntnis. Die unerhörte
Modernität der Epoche ist vielmehr schon im ersten Jahrzehnt des
Jahrhunderts sehr deutlich gesehen worden, und nur die Erschütterungen
des unmittelbar folgenden Umsturzes haben den Eindruck aufkommen lassen,
die zwanziger Jahre, die von der Kunst bis zur Physik fast überall
nur frühere Tendenzen vollstreckten, hätten den eigentlichen
Neuanfang gesetzt. In Wirklichkeit ist die Nachkriegszeit [sc. die 20er
Jahre], verglichen mit dem revolutionären Elan der Jahrzehnte, die
dem Krieg vorausgingen, weit eher der Vollzugsbeamte der Geschichte
gewesen."
In diesem Klima des Umbruchs, der "Umwertung aller Werte" (wie
das damals formuliert wurde), des Gefühls, daß unbedingt Neues
gewagt werden müsse, die Zeit für radikale Lösungen überreif
sei - auch wenn diese Lösungen gar nicht nach vorn, sondern
kulturkritisch-romantisch nach rückwärts gewandt waren -, liegt
wohl eine der Ursachen für die uns heute eher befremdlich anmutende
Bereitschaft von Eltern, ihre Kinder nicht etwa einem renommierten "Institut"
oder einer "bewährten" und berühmten Klosterschule zu übergeben,
sondern sie einem jungen Mann anzuvertrauen, der außer Promotion und
Oberlehrerexamen und einer (mit Leidenschaft, aber auch mit allerlei
romantisierend-sentimentalem Schwarmgeist geschriebenen, als utopischer
Erzählung verkleideten) Programmschrift kaum etwas vorzuweisen hatte
als eine eher irritierend rastlose Energie und Entschlossenheit, an seinem
30. Geburtstag eine neue Schule zu gründen. (6)
Eine zweite Ursache stellen vermutlich die, insbesondere von etwas
empfindsameren Zeitgenossen als entsetzlich und hoffnungslos
anachronistisch empfundenen Verhältnisse an den öffentlichen
Gymnasien dar. Hannos Schultag in den "Buddenbrooks" liefert ja
nur ein Bild, das von vielen anderen Schilderungen bestätigt wird.
Dieser geisttötende Leerlauf und stets ausbruchsbereite Sadismus war
zwar seit mehreren Jahrzehnten immer wieder und immer anklagender
beschrieben worden, geändert hatte sich aber offensichtlich nichts.
(7) Vielleicht war dies "System" überhaupt
nicht reformierbar. Für die eigenen Kinder wollte man jedenfalls
nicht länger warten. Alles andere konnte nur besser sein als dies
Gymnasium.
Inhaltsverzeichnis
Paul Geheeb und Hermann Lietz haben sich, soweit wir wissen, 1892 im
religionsphilosophischen Seminar in Jena kennengelernt. Geheeb war damals
22, Lietz 24 Jahre alt. Sie sind miteinander in Verbindung geblieben.
Geheeb hat zum Beispiel Lietz' allegorisch-utopische Programmschrift "Emlohstobba"
redigiert. Aber ihre eigentliche (kurze) Zusammenarbeit begann erst zehn
Jahre später, als Geheeb als Lehrer in das von Lietz gegründete
Haubinda kam und zwei Jahre später dessen Leiter wurde. (Lietz hatte
mittlerweile Bieberstein gegründet.)
Hermann Lietz hatte bereits ein Studium der Theologie in Halle und Jena
mit einer philosophischen Promotion, dem Ersten theologischen Examen und
der Staatsprüfung für das höhere Lehramt in den Fächern
Philosophie, Deutsch, Religion und Hebräisch abgeschlossen.
Unterrichtet hat er später bevorzugt Geschichte und Religion, diese
in Form einer Art Religionskunde.
Inhaltsverzeichnis
Paul Geheeb hatte nach dem Abitur im Jahre 1889 ebenfalls (zuerst ein
Jahr formal in Gießen immatrikuliert, später in Berlin und
Jena) ein Theologiestudium aufgenommen, hat auch 1893 das Erste
theologische Examen, aber erst 1899, also nach insgesamt 20 Semestern,
sein Oberlehrerexamen in protestantischer Theologie und orientalischen
Sprachen abgelegt. Diese lange Studienzeit war nicht etwa das Ergebnis
eines Bummelstudiums, sondern unter anderem wohl die Folge der Tatsache,
daß Geheeb spätestens seit Beginn seines Studiums in Berlin
versuchte, "der theoretischen Bemühung um den menschlichen
Standort die Tat beizugeben", wie WALTER SCHÄFER in seiner
Geheeb-Biographie schreibt. (8) Er war in
der Antialkoholikerbewegung tätig, kümmerte sich um
Kindergruppen in "Kinderhorten" der Berliner Arbeiterviertel,
kam in Kontakt und (durch eine enge Beziehung mit MINNA CAUER) sozusagen
in eines der Zentren der Frauenbewegung, verkehrte regelmäßig
in dem Kreis religiöser Pazifisten um MORITZ VON EGIDY, wo zum
Beispiel auch FRIEDRICH NAUMANN und BERTA VON SUTTNER zu Hause waren,
versuchte, für diesen Kreis auch Verbindungen zu AUGUST BEBEL zu knüpfen,
und war mit ROSA LUXEMBURG zumindest bekannt. Viele seiner späteren "Verbindungen"
stammen schon aus diesen Jahren. Dazu kam eine enge Beziehung zu
liberal-demokratischen Kreisen: Paul Geheebs Bruder REINHOLD GEHEEB, den
er besonders schätzte, war Chefredakteur des "Simplizissimus".
Es ergaben sich Bekanntschaften mit Künstlern und Kritikern aus dem
Umfeld dieser Zeitschrift.
WALTER SCHÄFER schreibt zusammenfassend (9),
Paul Geheeb sei während seiner Studienjahre mit den
fortschrittlichsten Kräften seiner Zeit in sachlichen und persönlichen
Kontakt gekommen: "der Frauenbewegung, dem Sozialismus, dem
liberal-demokratischen Gedanken und der Fürsorgearbeit in den
Berliner Armutsvierteln." Dieser Gesamthorizont, den man auch "lebensreformerisch"
nennen könnte, wenn dieser Begriff nicht damals meist sehr eingeengt
auf gewisse hygienische und dietätische Fragen verwendet worden wäre,
verband sich nun bei Paul Geheeb nach dem Ausweis seiner wenigen Schriften
(10) und nach seinen vielen Briefen offenbar
mit zumindest drei weiteren Feldern seines Interesses:
- Einer an Ideen und Literatur der deutschen Klassik und des
Neuhumanismus, aber auch der antiken, insbesondere der griechischem
Philosophie orientierten Hinwendung zu allgemeinen Menschheitsfragen.
Das erste Haus in der Odenwaldschule erhielt später selbstverständlich
den Namen "Goethehaus". Die übrigen "Heroen"
der Odenwaldschule (immer durch die Benennung eines Hauses geehrt)
wurden dann sehr bewußt: Herder, Fichte, Schiller, (Wilhelm von)
Humboldt und später Pestalozzi und Maton. Das schloß eine am
Umgang mit diesen "Heroen" gewachsene und teilweise wohl auch
eklektizistisch geschulte Empfänglichkeit für Schönes, für
ästhetische Phänomene, für Dichtung, Kunst, Musik und
Theater ein, die deshalb in der Odenwaldschule (in von Zeitgenossen
deutlich empfundenem Unterschied zu den Lietz-Schulen) von Anfang an
eine besonders wichtige Rolle spielten. Zwar war es auch für Geheeb
selbstverständlich, daß seine Schule dann auf dem Land,
unmittelbar in der "Natur" liegen, den täglichen Umgang
mit ihr ermöglichen müsse, aber zugleich beharrte er darauf,
das müsse in der Nähe großer Städte und ihrer
kulturellen Möglichkeiten sein. Auch darin unterschied er sich von
Lietz, für den sich in der Großstadt alle Übel
konzentrierten und symbolisierten.(11)
- Ein Verhältnis zur Natur und ihren Erscheinungen, das, anders
als z.B. in der Jugendbewegung, nicht romantisch, aber auch nicht
exakt-naturwissenschaftlich, zergliedernd, analysierend war, sondern
gleichsam goethisch: die Vielfalt und die Kräfte des Wachstums und
der Verwandlung voll Staunen bewundernd und verehrend - in Übertragung
auf Kinder und ihre Wachstumsprozesse vermutlich einer der tragenden Gründe
für die Bejahung von Individualität und Geheebs ungewöhnliches
Vertrauen in die Kräfte und Fähigkeiten von Kindern und
Jugendlichen, den eigenen Weg auch durch Irrungen und Wirrungen schließlich
zu finden, und die daraus resultierende Geduld als pädagogische
Grundhaltung. (12)
- Kennzeichnend für Geheeb war schon in diesen Studienjahren ein
auffallendes Interesse, ein immer erneutes Bemühen, sich in
seelische Vorgänge einzufühlen und sie zu verstehen. Ein Jahr
als Teilzeitmitarbeiter in den TRÜPER'SCHEN Anstalten in Jena
(1893/94) hatte sein Interesse an Psychologie und Psychopathologie
geweckt und zu entsprechender Lektüre geführt, zeitweise war
er sich unsicher, ob er nicht lieber Arzt werden solle. (Allerdings
blieb dies Interesse dann doch auf ein - oft sehr einfühlsames,
aber höchst subjektives - deutendes Verstehen kindlichen und
jugendlichen Verhaltens beschränkt; zur Psychoanalyse oder auch zu
anderen Strömungen der Psychologie seiner Zeit hat er offenbar nie
besonderen Zugang gefunden.)
Inhaltsverzeichnis
Insgesamt haben die (langen) Studienjahre (anders als die wenigen,
konzentrierten Studienjahre von Lietz) bei dem geborenen Kleinstädter
Geheeb durchaus zu einer gewissen Weltläufigkeit geführt, die
sich hinter seinem eher skurril-waldschratartigen Auftreten mit
Leinenanzug, einschließlich Kniebundhose und wallendem
Prophetenbart, ganz hübsch tarnte. Weit intensiver als die anderen
Landerziehungsheime hat die Odenwaldschule schon bald nach ihrer Gründung
und dann nach 1918 bis 1933 ständig wichtige internationale
Beziehungen gehabt, wurde in den 20er Jahren eine Art "Mekka"
der internationalen Reformpädagogik mit häufigen Besuchern aus
aller Herren Länder (einschließlich Japan, Indien, der frühen
Sowjetunion oder Amerika), spielte schon früh eine wichtige, wenn
auch von vielen Mißverständnissen, Eifersüchteleien und
Konflikten geprägte Rolle in der deutschen Sektion des "Weltbundes
für die Erneuerung der Erziehung" (während Geheeb sehr
produktiv mit deren internationalem Dachverband, der New Education
Fellowship zusammenarbeitete). Mit ELLEN KEY war Geheeb ebenso
befreundet wie mit dem Genfer Reformpädagogen ADOLPHE FERRIÈRE,
der seinen Sohn in die Odenwaldschule schickte. Geheeb fühlte sich
zeitlebens als Deutscher, liebte seine thüringische Heimat. Doch
jeder Nationalismus einschließlich aller patriotischen Symbole wie
Kaisergeburtstagsfeiern, Sedantage und dergleichen war ihm zutiefst fremd
und zuwider.
Während Lietz mit Schülern 1913 zur Einweihung des Völkerschlachtendenkmals
nach Leipzig reiste (allerdings auch mit eher gemischten Gefühlen zurückkehrte),
war es für eine Gruppe von Odenwaldschülern selbstverständlich,
zur gleichen Zeit an der "Gegenveranstaltung", dem ersten "Freideutschen
Jugendtag" auf dem Hohen Meißner teilzunehmen.
Geheebs Neigung, im "Allgemein-Menschlichen" zu bleiben, hatte
ihre positive Seite in dieser großen Sensibilität gegenüber
aller nationalistischen Verengung, sie hatte aber auch ihre Gefahr in
einer Unterschätzung, wenn nicht Geringschätzung aller
politischen Fragen. Das hat unter den Altschülern beim zwanzigjährigen
Jubiläum der Odenwaldschule im Jahre 1930 zu einer heftigen und auf
verblüffend hohem Niveau ausgetragenen Kontroverse geführt.
Inhaltsverzeichnis
Geheebs Verhältnis zu Kindern und Jugendlichen war vor allem
gekennzeichnet durch Vertrauen und Geduld, durch Zuhörenkönnen,
aber auch durch Scharfsichtigkeit und Distanz. Insbesondere unter den jüngeren
Kindern empfanden ihn viele im Alltag allerdings wohl nicht als jemand, zu
dem man sich ohne weiteres vertrauend flüchten könne, wenn man
Not oder Kummer hatte. MARTIN WAGENSCHEIN schreibt über ihn:
"Wenn er mit seinem immer etwas eiligen, federnden Gang zwischen
den Häusern seiner Schule dahinschritt, stets zugleich gegenwärtig
und anderswo, und den Begegnenden, sofern er nicht durch ihn hindurchsah,
in seinen rätselhaften grauen Blick nahm, dann waren darin Vertrauen
und Distanz unbeschreiblich gemischt. Er hatte nicht wenig vom 'lieben
Gott' für die Kinder" (13)
Es gab auch Kinder und Jugendliche, die ein besonderes Vertrauensverhältnis
zu Paul Geheeb hatten. Aber selbst die haben sich bei Alltagssorgen oder
- Kümmernissen vermutlich lieber zu EDITH GEHEEB-CASSIRER geflüchtet,
die in jenen Jahren vorsorgend, fürsorgend, mütterlich, heilend
und tröstend in einer Weise war, die einen bis heute anrührt,
wenn man die Berichte ehemaliger Schüler über sie liest,
Berichte, die fast ausnahmslos dankbare Liebeserklärungen sind. Ich
habe darüber hinaus den Verdacht, daß es vor allem Edith
Geheeb-Cassirer war, die dafür sorgte, daß es in der
Odenwaldschule nicht nur viel gepriesene Ideen und bewunderte Entwürfe
für die Strukturen des Zusammenlebens (das "Familiensystem",
die "Schulgemeinde") gab, sondern einen verläßlichen,
schönen und für (fast) alle befriedigenden Alltag, so daß
die Odenwaldschule tatsächlich für viele Kinder und Jugendliche
ein lebenslang geliebtes "zweites Zuhause" wer den konnte.
Inhaltsverzeichnis
Paul Geheeb besaß offenbar noch eine andere Eigenschaft (oder soll
man es Einstellung oder Verhaltensbereitschaft nennen?), die ihn von Lietz
und allen anderen Landerziehungsheimgründern unterschied. Vielleicht
hing sie mit seinem Vertrauen in die Wachstumskräfte, mit seiner
Achtung vor der Individualität des einzelnen Kindes und mit seiner Überzeugung
zusammen, daß jeder in seiner Entwicklung seinen eigenen Weg gehen müsse.
Sie wirkte sich auf den Unterricht in der Odenwaldschule aus. Ob Geheeb
selbst eigentlich ein besonders eindrucksvoller Lehrer gewesen ist, weiß
ich nicht. Die wenigen Zeugnisse, die ich erinnere, sind zu deutlich von
Liebe und Verehrung geprägt. Aber er war bereit, sich von Anfang an
auf eine im Vergleich zu allen anderen Landerziehungsheimen (zumindest in
deren Gründungsjahren) sehr radikale Neustrukturierung des
Unterrichts einzulassen. Das Ergebnis war die Kursorganisation des
Unterrichts, also die Auflösung des Klassenverbandes, die konsequente
Verwirklichung des Grundsatzes "Nur weniges gleichzeitig, aber das gründlich."
In Entwurf und Ausgestaltung war diese Kursorganisation wohl vor allem das
Werk von OTTO ERDMANN und MARIO JONA (einem ehemaligen Schüler
Geheebs aus Haubinda und Wickersdorf, mittlerweile Student), aber Geheeb
hat sich mit diesem Entwurf vorbehaltlos identifiziert, das Kurssystem der
Odenwaldschule immer wieder neben der Koedukation und der "Schulgemeinde"
als das entscheidende Merkmal der Odenwaldschule hervorgehoben.
Diese Identifikation ist vermutlich folgerichtig auf dem Hintergrund von
Geheebs Bildungsvorstellung. Walter Schäfer schreibt dazu: "Hier
war der Ausgangspunkt des Unterweisens, das nach Geheeb nur ein Helfen
sein konnte, um den Prozeß der Auseinandersetzung des Subjekts mit
dem Objekt zu begünstigen. Der Mensch ist das Subjekt und die Objekte
umstehen ihn ... Wir halten also fest: die Grundspannung des Subjektes auf
die Objekte ist bei Geheeb gegeben, wenn in Auseinandersetzung mit ihnen
der Mensch sich ausformt. Dabei ist Hilfe seitens der Erwachsenen
erforderlich." (14) Das war nun in der
Tat eine Grundlage, auf der etwas anderes entstehen mußte als die
Unterrichtspläne der anderen Heime, die zwar auch die Vorgaben der
verhaßten staatlichen Lernschule modifizieren wollten, aber als
Grundentscheidung doch dem Schema des Fachunterrichts im Klassenverband
verhaftet blieben und es für den größten denkbaren
Fortschritt hielten, wenn Lektionen nicht mehr nur aus Lehrervortrag und
-demonstration bestanden, sondern Schülerexperimente oder
Eigenaktivitäten der Schüler hinzukamen und der Lehrervortrag
zeitweilig durch etwas ersetzt wurde, was damals wie heute die "fragend-entwickelnde"
Methode heißt und durchaus nicht darauf verzichten will, die
Erkenntnisarbeit der Schülerinnen und Schüler zu lenken und
(letztlich) kleinschrittig zu bevormunden.
Lietz hat zwar, insbesondere in seinen späteren Schriften, ein paar
einschneidende Vorschläge zum Lehrplan gemacht. Insbesondere der
Fremdsprachenunterricht erregte seine Kritik, er schlug vor, ihn erheblich
einzuschränken und erst deutlich später beginnen zu lassen. Die
Motive sind einerseits durchaus "didaktisch", andererseits
jedoch auch von seiner Vorstellung einer "deutschen" Schule
bestimmt. Aber wie auch immer: das blieb, nicht anders als die
Stundentafelveränderungen, wie sie uns die Kultusministerien bis
heute von Zeit zu Zeit bescheren, letztlich "im System",
manipulierte am Lehrplan, stellte ihn jedoch nicht grundsätzlich in
Frage.
Im Kontrast dazu noch einmal WALTER SCHÄFER über Geheebs
Vorstellungen von den Aufgaben schulischer Bildung und schulischen
Lernens: "Da konnte es keinen Lehrplan geben - er würde die Dinge
wieder "verhaften" -, keine von den Menschen den Dingen
mitgegebenen Werte. Die Normen müssen, wenn überhaupt, im Umgang
mit den Dingen gefunden werden. Es kann nicht geleugnet werden, daß
hiermit eine Ursituation der Menschenbildung war, von Eleganz und
Strahlkraft. Freilich", fährt der skeptische und schulerfahrene
Walter Schäfer dann fort: "ist diese im Denken beglückende
Ursituation: der freie Mensch in einer befreiten Welt auch im wahren Sinne
diskutabel." (15)
Das war sie auch in der Odenwaldschule. Aus vielen Briefen Geheebs an
die Eltern von Schülerinnen und Schülern wissen wir, daß
ihm sehr genau bewußt war, was etwa der "Stand" in den
verschiedenen "Fächern" des "normalen" Gymnasiums
am Ende der Untersekunda oder der Oberprima zu sein habe und wann zum
Beispiel er darum einen Jungen oder ein Mädchen zum (bis Anfang der
30er Jahre externen) Abitur in einem Gymnasium der benachbarten Städte
anmelden konnte. Aber das Grundprinzip des individuellen Bildungsplanes für
jeden einzelnen und der selbständigen Vertiefung gab er darum nicht
auf.
Für Lehrer, die selbst frei von den verinnerlichten Systemzwängen
der Normalschule waren - oder sich zu befreien lernten - eine wirklich
grundlegend neue, herausfordernde und beglückende Situation, die die
Odenwaldschule vermutlich auch noch in den 20er Jahren von fast allen
Landerziehungsheimen deutlich unterschied.
Inhaltsverzeichnis
Auch sonst gab es wohl Unterschiede zu den anderen Landerziehungsheimen:
Zwar lebte man auch in den Lietz-Heimen in "Familien", aber dort
gab es eben nur Jungen oder nur Mädchen, außerdem nur solche
aus der gleichen Schulstufe. Zwar gab es auch in Wickersdorf eine
Schulgemeinde, aber sie war, anders als in der Odenwaldschule, wohl nicht
der Ort an dem zumindest in der Theorie - Große und Kleine, Kinder,
Jugendliche und Erwachsene, Schnelle und Langsame, Redegewandte und Schüchterne
sich sozusagen in einem ständig wieder aufgenommenen Gespräch
befanden, um Konflikte zu lösen, sich auf das zu verständigen,
was der Gemeinschaft dienlich sei, ohne den Einzelnen unnötig zur
Anpassung und Unterwerfung zu zwingen (16),
sondern die "Schulgemeinde" war in Wickersdorf der Ort, an dem
immer wieder der gemeinsame "Geist", das "Objektive",
beschworen wurde, das nach WYNEKENS Vorstellung letzte Richtschnur zu sein
hatte und deshalb von allen Mitgliedern der Schule, Schülern wie
Lehrern, verinnerlicht werden mußte. (Diese Frage der Schulgemeinde
und ihrer Aufgabe war der Anlaß zum endgültigen Bruch zwischen
Geheeb und Wyneken und für Geheebs Ausscheiden aus Wickersdorf im Frühjahr
1909.) Lietz lehnte die "Schulgemeinde" überhaupt ab ("falsch
verstandener und verderblicher Parlamentarismus"). Sein Modell für
das Landerziehungsheim war nicht die eine oder andere Form von "Gemeinde",
sondern (darin Hahn ähnlich) ein Staat, letztlich ein absolutistisch
gedachter, mit einem Patriarchen an der Spitze, der, gütig, streng
und allwissend zugleich, sich Tag und Nacht in Sorge und Arbeit für
sein Staatsvolk verzehrte.
Inhaltsverzeichnis
Aber immerhin: in fast allen Landerziehungsheimen war den Lehrern eine
andere Rolle als die des nur Unterrichtenden angesonnen: sie sollten "erziehen"
und sich dabei (dies hatte nun gerade Lietz immer wieder betont) als "Kameraden
und Freunde" ihrer Zöglinge fühlen und benehmen - eine unerhörte
Veränderung gegenüber der Vorstellung des vor allem Disziplin
haltenden, strengen und gerechten Lehrers der "normalen"
staatlichen Schule, bei dem jede Art von menschlicher Nähe sich
sozusagen von selbst verbot, weil sie seine "Objektivität"
zu beeinträchtigen geeignet war. Die Lehrer (und die anfangs, bis auf
die Odenwaldschule, fast nicht vorhandenen Lehrerinnen) an
Landerziehungsheimen sollten sich auch um praktische Arbeit, um das
Alltagsleben im Heim kümmern.
Diese neue Rolle des Lehrers als Erzieher, älterer Kamerad und
Freund war übrigens anfangs weder selbstverständlich noch überall
und immer verwirklicht. Lietz hat in seinen ersten Jahren in Ilsenburg
allen Lehrern, wenn nicht von vorneherein, dann sehr bald, mißtraut
(sich oft Dritten gegenüber bitter über sie beklagt): eigentlich
gab es, so lange er in Ilsenburg war, nur einen Erzieher, Freund und
Kameraden der Zöglinge: ihn selbst. Fast alle Lehrer wohnten im
Ur-Landerziehungsheim Ilsenburg darum auch nicht etwa im Heim, sondern in
der Stadt, kamen nur zum Unterricht. Kleine Wohngruppen und für sie
verantwortliche Erwachsene (die sog. "Heimfamilien") gab es
erstmals in Haubinda, als Geheeb dort Mitarbeiter wurde. Auch später,
als Hermann Lietz als "Oberleiter" mit einer geradezu mörderischen
Einsatzbereitschaft ständig zwischen seinen Heimen hin und her
reiste, verstand er sich letztlich immer noch als der Ober-Erzieher, der
seine Erziehungsautorität an die anderen nur delegiert hatte. In
diesem Selbstverständnis übrigens in Übereinstimmung mit
manchen anderen, nicht nur mit WYNEKEN, sondern zum Beispiel auch mit KURT
HAHN, der Lehrer, von Ausnahmen abgesehen, als eher mediokre Figuren,
sozusagen als Belehr-Domestiken empfand, oder auch mit ALEXANDER NEILL, in
dessen Büchern über Summerhill andere Erwachsene als Alexander
Neill nur am Rande vorkommen.
Aber im Internatsalltag wurde von den Lehrerinnen und Lehrern dann doch
in fast allen Landerziehungsheimen ziemlich ähnliches erwartet und
gefordert.
Inhaltsverzeichnis
In Hinsicht auf den Unterricht galt das nach meinem Eindruck für
die Odenwaldschule vor 1933 nicht (man könnte sogar sagen: vor 1938,
denn erst da wurde das Kurssystem auf Weisung der Nazis endgültig
abgeschafft). Aus der Rückschau des Lehrers MARTIN WAGENSCHEIN, mehr
als fünfzig Jahre später, liest sich das so:
"Die Schule Paul Geheebs, diese einmalige pädagogische
Republik, hat ja wohl im Gefolge der Lietz'schen Schulgründungen als
einzige den Unterricht wirklich ernst genommen. Er war dort in die alles
Leben und Treiben durchdringende erzieherischeAtmosphäre ganz
einbezogen. Die Art, wie wir miteinander umgingen, war nicht "antiautoritär",
aber unautoritär machtfrei und angstfrei beiderseits gerichtet auf
Achtung.
Diese Haltung bestimmte auch die Form des Unterrichts: das Gespräch
in der Gruppe, das eine problematische Sache bis zur letzten Klärung
umkreiste und durchdrang. Später habe ich versucht, die Regeln einer
solchen Gesprächsdisziplin zu fassen:
«Tugend des einzelnen Schülers: alles den anderen zu sagen,
was er zur Sache denkt. Tugend des Lehrers: zu führen durch die möglichste
Zurückhaltung seiner selbst (wozu gehört, umfassend zuhören
und, wenn nötig, das Gespräch bei der Sache zu halten). Tugend
eines jeden Teilnehmers: sich dafür mitverantwortlich fühlen, daß
alle verstehen».
In der öffentlichen Schule habe ich dann erprobt, daß dies
Bestreben, den Unterricht in den Dienst der gegenseitigen Achtung zu
stellen, dort nicht unterzugehen braucht, auch wenn der Lehrer sich oft
damit begnügen muß, «Sanitäter» zu sein (was ja
nichts geringes ist).'' (17)
Es ist natürlich müßig und eigentlich unerlaubt zu
spekulieren: Was wäre gewesen, wenn? Aber ich bin mir sehr unsicher,
ob Martin Wagenschein eigentlich zu dem Martin Wagenschein geworden wäre,
hätte es ihn 1923 nicht in die Odenwaldschule verschlagen, sondern
zum Beispiel in jenes süddeutsche Landerziehungsheim, von dem Paul
Geheeb in einem Brief vom 5.11.1923 schreibt:
"Die Gastfreundschaft, die uns Leitern der verschiedenen
Landerziehungsheime in Schondorf gewährt wurde und das
Entgegenkommen, mit dem man uns einen möglichst tiefen Einblick in
das dortige Schulleben zu ermöglichen suchte, waren wahrhaft
kollegial und geradezu vorbildlich. Im Vertrauen freilich muß ich
Ihnen, lieber Freund, gestehen, daß es mich tief deprimiert hat, zu
bemerken, daß eine äußerlich blühende Anstalt (sie
besteht aus einer großen Anzahl herrlicher Häuser mit etwa 140
Knaben in wunderbarer Lage an dem weiten Ammersee mit den Bayerischen
Alpen In Hintergrund) so völlig konservativ erstarrt und ganz unberührt
vom neuen Geiste dahinleben kann, obgleich sie sich zur
Landerziehungsheim-Bewegung zählt. Wir durften auch
Unterrichtsstunden beiwohnen: es wurde dort genau so unterrichtet wie vor
50 Jahren in einem königl. preuß. oder bayerischen Gymnasium!
Im Schulleben, im Unterricht ganz derselbe Geist, dieselbe Arbeitsmethode
(ohne eine Spur von Arbeitsschulprinzip!) wie an irgend einem königl.
bayerischen Gymnasium in München; dabei streng nationalistischer und
auf allen kulturellen Gebieten reaktionärer Geist; nur eben, daß
dies alles hinaus in herrliche Natur verlegt ist, auch vortreffiche Werkstätten
und Gärten eingerichtet sind und daß auch die körperliche
Entwicklung und die praktische Arbeit aufs erfreulichste gepflegt wird!
Interessant war mir auch der Unterschied zwischen dem dortigen und meinem
hiesigen Menschenmaterial: dort alt und jung ganz undifferenzierte,
einfache, brave, biedere Menschen, die ohne jede Problematik fröhlich
ihre Pflichten tun - hier bei uns eine immer von Problemen geladene Atmosphäre,
die Mitarbeiter meist ungemein differenzierte, eigenartige, mehr oder
weniger schwierige Menschen, die Kinder äußerst differenziert,
unsagbar interessant durch ihre Kompliziertheit und ihre Schwierigkeiten,
zum größten Teil von ungewöhnlicher Begabung - unser Milieu
auch dadurch so kompliziert und differenziert, daß fast alle
denkbaren Rassen und Nationen vertreten sind, unser Milieu in
erfreulichstem Sinne international ist und auf politischem wie religiösem
Gebiete die denkbar größte Differenzierung besteht! Ich brauche
gar nicht in das Menschenmeer einer großen Stadt zu gehen: hier auf
unserer kleinen Insel im Odenwald finde ich vollstes und reichstes
modernes Leben; und in unseren jeden Freitag stattfindenden theoretischen
Konferenzen sind wir mit einer wohl glücklichen Lösung von
Problemen beschäftigt, von deren Vorhandensein in den meisten anderen
Heimen noch nicht einmal eine Ahnung war. "
(18)
Doch vermutlich hätte Martin Wagenschein, anders als in der
Odenwaldschule, nach einem ersten Besuch, gar nicht erst versucht, dort
Mitarbeiter zu werden.
Inhaltsverzeichnis
Hermann Lietz besaß trotz mehrerer Auslandsreisen weder die Weltläufigkeit
noch den weitgespannten Interessenhorizont Paul Geheebs, auch nicht die
arrogant-elitäre "Geistigkeit" Gustav Wynekens. Alle
Darstellungen, die ein Bild des Menschen Hermann Lietz zu zeichnen
versuchen (die überzeugendste und bei mancher Kritik einfühlsamste
scheint mir bis heute das 1965 erschienene Buch "Asketische Erziehung"
von Erich Meissner), weisen immer wieder auf sein Aufwachsen auf einem Großbauernhof
auf der Insel Rügen hin, einer Lebensform, der er lebenslang
verhaftet geblieben sei.
GUSTAV WYNEKEN, der sich zusammen mit Paul Geheeb und einigen anderen in
einem von beiden Seiten mit äußerster Erbitterung geführten
Streit von Lietz getrennt hatte, hat mehr als zwanzig Jahre nach Lietz'
Tod über ihn eine längere Abhandlung geschrieben, die mit dem
Satz schließt: "Ich habe bei der Nachricht von Lietz' Tode
[1919] meiner Dankbarkeit und Achtung in einer Gedächtnisrede in
Wickersdorf Ausdruck gegeben, und ich habe später in Haubinda an
seinem Grabe gestanden - ein wenig traurig, daß es mir und ihm nicht
vergönnt war, Freunde zu sein." (19)
In dieser Abhandlung findet sich folgende Kennzeichnung von Hermann Lietz:
"Im Kern seines Wesens war er etwas, was sich nicht lernen läßt:
ein Bauer; mehr Bauer als mancher moderne Bauer von Beruf. Seine »Mentalität«
war durchaus - wie soll man sagen? - nicht bäurisch und auch nicht bäuerlich,
sondern bauerhaft. Seine echte Verbundenheit mit der Scholle, das sich
deutlich bekundende Gefühl der Überlegenheit des Landbewohners über
den Städter, die ironische Einstellung zu städtischem Leben und
städtischen Wertungen, ein Einschlag von Bauernschlauheit und
Bauernvorsicht - das alles lag ihm im Blut."(20)
Eine zweite Eigenschaft wird ebenfalls immer wieder besonders
hervorgehoben: eine geradezu selbstausbeuterische Einsatzbereitschaft,
die ihn von einem Projekt zum nächsten trieb, ein Innehalten nur in
seltenen Ausnahme-Augenblicken erlaubte. Die Gründungen erfolgten
sozusagen Schlag auf Schlag: 28.4.1898 Ilsenburg; 1900 Landerziehungsheim
für Mädchen in Stolpe am Wannsee, 1904 nach Gaienhofen am
Bodensee verlegt; 28.4.1902 Haubinda; 28.4.1904 Bieberstein. Alles zwar
immer wieder von Gönnern, die Lietz vor allem unter den Eltern seiner
Schüler zu begeistern wußte, tatkräftig unterstützt,
aber doch finanziell ständig am seidenen Faden hängend. Er war
nicht nur sein eigener Geschäftsführer, sondern auch sein
Bauleiter, zugleich wäre er gern der eigentliche Leiter jedes
einzelnen Heimes geblieben, rastlos von einem zum anderen eilend, sich
immer letzte Entscheidungen vorbehaltend, oder die Entscheidungen von
anderen korrigierend oder kassierend (was deren Autorität nicht
gerade nützte). Außerdem liebte er es zu unterrichten,
vorwiegend Geschichte und Religionskunde. Die "Kapellen", jene
besinnlichen Abendveranstaltungen (21), übernahm
er fast immer selbst, wo er anwesend war. An der praktischen Arbeit
(Landarbeit, aber auch Handwerk und Hausbau) seiner Zöglinge
beteiligte er sich bis zur körperlichen Erschöpfung. Von
Erwachsenen verlangte er bedingungslose Gefolgschaft. War er ihrer nicht
sicher, wurde und blieb er mißtrauisch, konnte darum eigentlich
nichts wirklich delegieren. Das aus all diesem sich ergebende, im Grunde
die Kraft eines Menschen übersteigende Arbeitspensum versuchte er
durch eine äußerst asketische Lebensweise und durch immer
weniger Schlaf zu ermöglichen - nicht so erfolgreich wie er selbst
glaubte. Es wird berichtet, daß er immer wieder, sogar wenn er
selbst unterrichtete, auch tagsüber eingeschlafen sei.
"Rastlosigkeit" bescheinigt ihm ERICH MEISSNER und hält
eben diese Rastlosigkeit für eine der wesentlichen Schwächen des
von ihm hochverehrten Lietz. Einen "Berserker" nennt ihn
WYNEKEN. Vor allem wohl in den Nachtstunden bis zum Morgengrauen schrieb
dieser Berserker ununterbrochen Berichte, Aufsätze, Bücher. Etwa
150 Titel verzeichnet die Bibliographie für die Jahre 1894 bis zu
seinem Tode im Jahre 1919 (22),
wobei zu bedenken ist, daß er die Jahre 1914 bis 1917 als
Freiwilliger im Krieg verbrachte. Allein 1918/19, er ist schon schwer
krank, kann sich nur noch mühsam bewegen und seinen Unterricht nicht
mehr selbst halten, erscheinen sechs kleinere Bücher, die sich nun
eher allgemeinen Themen zuwenden: "Die neue Zeit und das neue
Geschlecht", "Des Vaterlandes Not und Hoffnung", aber auch
ein umfangreicher Plan, in dem die Gründung von "Heimvolkshochschulen"
in Verbindung mit Landerziehungsheimen vorgeschlagen und begründet
wird. Die Gehetztheit der Entstehung ist den meisten Schriften anzumerken.
Vieles wirkt zwar auf den ersten Blick eindrucksvoll, tabellenartige
Ubersichten erwecken anfangs den Eindruck wohldurchdachter Systematik
(23), aber bei genauerem Hinsehen gibt es
dann immer wieder verblüffende logische Brüche, ersetzen
anklagendes Pathos oder apodiktische moralische Setzungen die sorgfältige
Analyse. Doch gibt es auch kleine Perlen, z. B. den Text "Der Beruf
des Erziehers", der, stilistisch zwar schwer erträglich, zu
betulich und sentimental geschrieben, dennoch bedenkenswerte Gedanken und
Ratschläge formuliert, eine Art "Lehrerleitbild", 75 Jahre,
bevor sich der Schweizerische Lehrerverband an diese Aufgabe machte.
Neben dem bauerhaften Menschen und dem rastlosen Berserker muß ein
dritter Hermann Lietz wenigstens angedeutet werden. Der eifersüchtige
Herrscher, der in seinem Reich keine anderen Götter neben sich
duldete, der auch von Kindern und Jugendlichen unbedingte Gefolgschaft
forderte, war in einer Schicht seiner Person dennoch zugleich ein im
Pestalozzi'schen Sinne tief mütterlicher Mensch. In manchen Berichten
wird er als ein rührend besorgter, umsichtiger, aufopferungsbereiter
Krankenpfleger geschildert. In Haubinda starb 1903 einer seiner kleinen
Schützlinge. Unter dem Titel "Freseni" hat Hermann Lietz in
einem Privatdruck ihm ein von Schwermut geprägtes Denkmal gesetzt,
das die zarte und verletzbare Seite dieses Berserkers deutlich macht. Ähnliches
gilt auch für die Schrift "Heim der Hoffnung" von 1909,
dort allerdings unter einer ungeschickt romantisierenden Erzählform
fast nicht mehr zu entdecken. (Der Versuch, sich an die "Pädagogische
Provinz" aus Goethes "Wilhelm Meister" anzulehnen - ein Stück
Literatur, das auch Geheeb immer wieder zitierte - ist unverkennbar und
macht diesen Stil dann nur noch epigonenhafter und peinlicher.)
Diese mütterlich-fürsorgende, auch "zarte" und
verletzbare Seite des Hermann Lietz wurde zwar für seine Vorstellung
von Erziehung nicht bestimmend, aber sie sagt vermutlich etwas über
die tieferen Antriebskräfte dieses Mannes aus, beziehungsweise darüber,
warum er eigentlich ein sich in seiner Arbeit selbst verzehrender Pädagoge
und nicht zum Beispiel Sozialreformer oder Gründer von
landwirtschaftlichen Produktions- und Lebensgemeinschaften geworden ist.
Der "Erzieher" Lietz kann jedoch eher durch den Kontrast zu
Geheeb beschrieben werden. Wäre Geheebs Vorstellung von "richtiger"
Erziehung zu kennzeichnen mit Worten wie: Ruhe, Warten, Beobachten,
Helfen, dann müßte man hier bei Lietz (und noch eindeutiger bei
Wyneken) einsetzen: Eifer, Fordern, Formen, Führen und Gefolgschaft.
(24)
Inhaltsverzeichnis
Lietz' Weg bis zu seiner ersten Schulgründung verlief viel
geradliniger als bei Geheeb. Seine Schulzeit, fern von zu Hause in
Stralsund und Greifswald, hatte der Bauernsohn lebenslang in entsetzlicher
Erinnerung: Langeweile, Demütigungen von Seiten der Lehrer, Verrohung
und Verwahrlosung unter den Schülern, von denen viele wie er in
privaten Pensionaten lebten. Während seines Studiums in Halle und
Jena war ihm auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen zugleich das Mittel für
die notwendige Heilung deutlich geworden. (25)
FICHTE (insbesondere die "Reden an die deutsche Nation") wurde
sein großer Herausforderer und Ratgeber. Es konnte nur um die
Erneuerung des deutschen Lebens insgesamt durch eine Erneuerung der Jugend
gehen. Von ähnlichem menschheitlichem und nationalem Eifer wie jener
Philosoph erfüllt, meinte auch Lietz, daß nur eine neue "Nationalschule"
das deutsche Volk aus seiner Not zu führen vermöge. Diese "Not"
zeigte sich ihm - darin war er ganz der konservativen Kulturkritik seiner
Zeit verhaftet - weniger in ungelösten "sozialen" Fragen
oder gar in "Klassengegensätzen", sondern vor allem in
Erscheinungen, die er als Dekadenz interpretierte. "Mammonismus,
Alkoholismus, Nikotinismus und Sexualismus" tauchen als die
entsprechenden Chiffren mehrfach bei ihm auf. Wie Fichte glaubte auch
Lietz, daß die Erneuerung nicht innerhalb der bestehenden
Institutionen geschehen könne. Als weithin sichtbares Gegenmodell
wollte er "neue" Schulen abseits der von ihm mit tiefem Mißtrauen
betrachteten städtischen Zivilisation gründen. Die Jugend sollte
wieder in einer primären Lebens- und Erfahrungswelt aufwachsen. Vor
allem praktische Arbeit und Erfahrungsreduktion sollten die Kinder und
Jugendlichen überhaupt erst wieder empfänglich für
unmittelbare ("primäre") Erfahrungen machen. Wie viele
andere Zeitgenossen war Lietz der Überzeugung, daß die
Lebensbedingungen (insbesondere in Großstädten) vom "wahren
Menschentum" wegführten und es korrumpierten.
(26)
Das Gegenmittel, die Erfahrungsreduktion, verbunden mit einem sorgfältig
geordneten Leben (das wenig selbstbestimmte Zeit ließ) in einer von
Pflichten und Arbeit, aber auch vom Gefühl des Auserwähltseins
geprägten Gemeinschaft Gleichgesinnter hat ERICH MEISSNER "asketische
Erziehung" genannt und als die eigentliche Leistung von Lietz
herausgearbeitet.
Der geistige Entwurf war mehr oder weniger fertig, als Lietz nach einem
Seminarjahr in Jena, einem "Probejahr" in Putbus (während
dessen er zugleich die elterliche Landwirtschaft in Dumgenewitz leitete),
einem Jahr als Oberlehrer an einer Übungsschule des Pädagogischen
Universitätsseminars in Jena und einem Jahr als Lehrer an einer
Privatschule mit Alumnat in Kötzschenbroda im Sommer 1896 für
ein knappes Jahr an CECIL REDDIE'S New School Abbotsholme (Derbyshire)
ging. Dort fand er viele von seinen Gedanken bereits verwirklicht, nannte
darum seine eigene (literarische) Utopie "Emlohstobba", aber für
Ilsenburg und die späteren Gründungen hat er nicht etwa
Abbotsholme einfach kopiert, sondern seinem eigenen Entwurf anverwandelt.
Der war "grundsätzlicher", wollte mehr und letztlich über
die Schule Hinausweisendes. Sein Erziehungsprogramm ist nach seiner Rückkehr
aus England in den Grundzügen unverändert geblieben, auch wenn
er im Lauf der Jahre einiges hinzugefügt hat, zum Beispiel die
Teilung in Stufenschulen oder neben der praktischen Arbeit
expeditionsartige Reisen in ferne Länder (bis Ägypten oder
Norwegen) als ein wichtiges Element.
Inhaltsverzeichnis
Wie schon erwähnt war Lietzens Weltsicht vor allem analog zum
romantischrechten Flügel der damaligen Kulturkritik tief
zivilisationspessimistisch geprägt. Auf diesem Hintergrund ist auch
der "andere Hermann Lietz" (27)
zu sehen, der darunter litt, in seinen Schulen zu viele Kinder neureicher,
aber verantwortungsloser Eltern aufnehmen zu müssen und der deshalb
im Frühjahr 1914 bei Veckenstedt ein weiteres Landerziehungsheim gründete
(diesmal ein Waisenhaus mit einer Art verbundener Haupt- und Realschule),
das nach seiner Vorstellung durch Eigenarbeit (Landwirtschaft etc.)
weitgehend autark sein, im übrigen aus den Überschüssen der
anderen Heime unterhalten werden sollte. Auf diesem Hintergrund ist auch
der Lietz der "Deutschen Nationalerziehung" zu sehen, der noch
in seinem Todesjahr ländliche "Heimvolkshochschulen" als
Mittel der nationalen Erneuerung plante.
Lietz liebte die Natur, konnte auch lange schweigend, fast meditativ im
Anblick einer schönen Landschaft oder eines eindrucksvollen
Sonnenuntergangs verharren. Aber sein Verhältnis zur Natur war,
anders als das Geheeb'sche, nicht von staunender, fast ehrfürchtiger
Bewunderung für Vielfalt, Wachsen und Verwandlung geprägt,
sondern Natur war dem bauerhaften Menschen vor allem etwas, dem durch
harte Menschenarbeit ein Stück "Kultur" abgerungen werden
mußte.
Daß Lietz wie viele Deutsche des ausgehenden 19. und beginnenden
20. Jahrhunderts, die dem Modernisierungsschub zornig-kritisch gegenüberstanden,
zugleich konservativ und national bis nationalistisch gesinnt war, ist
schon gesagt worden. Ein weltbürgerlicher Pazifismus Geheeb'scher Prägung
war ihm völlig fremd, erschien ihm letztlich wohl gar als schwächlich,
"minderwertig" (ein Wort, das er gern benutzte) und verächtlich.
Sein Antisemitismus geht nach meiner Einschätzung kaum über
das damals in vielen bürgerlichen Kreisen Übliche hinaus. Der
abscheuliche Konflikt mit THEODOR LESSING (28)
in Haubinda im Jahre 1903 (in dem sich Lietz offensichtlich töricht
bis widerwärtig verhalten hat) ist da kein Gegenbeweis. Dieser
Konflikt war unter anderem wohl ausgelöst durch eine Anzahl besonders
kritischer jüdischer Schüler, die gegen Lietz opponierten und
deren Obstruktion und, wie er das nannte "zersetzendes"
Verhalten er auf ihr Jüdischsein zurückführte. Aber, so muß
man leider sagen, solche Zuschreibungen und Stereotypen waren bis 1945 bei
uns ja gängige Münze auch unter Gebildeten, diskriminierende
oder gehässige Vorurteile, die man ohne irgendwelche Hemmungen auch öffentlich
äußerte.
Inhaltsverzeichnis
Die - auch politisch - konservative Grundausrichtung bei gleichzeitiger "Modernität"
der Erziehungsmethoden - frische Luft, gesunde Lebensweise, aber dennoch
Ordnung und das Versprechen straffer Zucht - entsprachen durchaus dem Bedürfnis
weiter Kreise, die für ihren Sohn nach einer Alternative zu Hanno
Buddenbrooks Gymnasium suchten. Das war sicher einer der Gründe für
den Erfolg, den Hermann Lietz hatte. Aus den sieben Jungen, mit denen er
1898 in Ilsenburg begann, wurden in einem Jahr fast fünfzig. Die von
Anfang an deutlich "liberalere" Odenwaldschule war für
andere Kreise des aufgeklärten Bürgertums attraktiv. Auch wenn
das natürlich nicht bei jedem einzelnen Schüler / bei jeder
einzelnen Schülerin sich auswirkte, so haben die Lietz'schen Heime
und die Odenwaldschule doch schon damals und bis heute unterschiedliche
Eltern angezogen. Und Vergleichbares galt und gilt auch bei den übrigen
Landerziehungsheimen zumindest für die unter ihnen, die deutlich "geprägt"
sind.
Was dies bei aller Ähnlichkeit unter dem gemeinsamen "Leitbegriff"
Landerzichungsheim letztlich doch sehr unterschiedliche Erziehungskonzept
dann im Alltag für die Kinder und Jugendlichen und für ihr
Wohlbefinden bedeutete und bedeutet, steht noch einmal auf einem anderen
Blatt. Auch die Schüler der Hermann-Lietz-Schulen müssen ihre
Zeit dort oft als sehr beglückend, wenn nicht gar betäubend
empfunden haben. Anders kann ich mir weder die glühende Anhänglichkeit
vieler an "ihre" Schule erklären noch ihre Bereitschaft,
sich für sie einzusetzen, eine Bereitschaft die der ehemaliger
Odenwaldschüler nicht nachsteht, ja, sie oft übertrifft.
Ein Gedankenspiel: Hätte es auch ohne Hermann Lietz etwas den
Landerziehungsheimen Vergleichbares gegeben? Lag die "Idee" für
diese neue Schulform um die Jahrhundertwende gleichsam in der Luft, so daß
solche neuartigen Internatsschulen, vielleicht unter einem anderen Namen
auf jeden Fall entstanden wären? Ich bin da sehr unsicher. Nicht nur,
daß Hermann Lietz das erste Landerziehungsheim gründete, dem
neuen Typ von Internatsschule zugleich den Gattungsnamen gab, sondern es
scheint mir auch eher unwahrscheinlich, daß es ohne die Energie, die
Rastlosigkeit und die Bereitschaft zur rücksichtslosen
Selbstausbeutung dieses Vorangehers überhaupt Landerziehungsheime und
dann eine "Landerziehungsheimbewegung" gegeben hätte: viele
sind, wie schon erwähnt, überhaupt nur als "Sezessionen"
von seinen Heimen möglich geworden, aber selbst denen, die ohne
solche Abspaltungen, "unabhängig" gegründet wurden,
hatte er doch den Weg gebahnt.
Um jedoch zum Ende auf den Anlaß dieses Beitrags zurückzukommen,
bei einem anderen Gedankenspiel bin ich mir ziemlich gewiß: MARTIN
WAGENSCHEIN hätte in einer der Schulen des Hermann Lietz (oder auch
von dessen Nachfolger ALFRED ANDREESEN) wohl kaum den Raum und die
Herausforderung gefunden, um so seine eigentliche Berufung zu entdecken
und jene Einsichten zu gewinnen, die vielen von uns geholfen haben, besser
zu verstehen, worauf es in der Schule eigentlich ankommt.
Fußnoten
1) HARTMUT ALPHEI hat dazu mehrere,
wichtige Arbeiten vorgelegt. Von DENNIS SHIRLEY gibt es, bisher leider nur
auf Englisch, die, nach meiner Kenntnis, bisher einzige, heutigen
wissenschaftlichen Standards genügende, gründliche
Einzelfallstudie zu diesem Problemfeld, in seinem Fall zur Odenwaldschule.
2) KARL SCHWARZ: Bibliographie der deutschen Landerziehungsheime. Stuttgart (Klett) 1970 (=Aus den deutschen Landerziehungsheimen, Heft 8).
3) Diese Gleichung Wyneken-Wickersdorf ist
formal unkorrekt, sachlich aber zutreffend "Gründer" d.h. derjenige, der von der Schulbehörde des Herzogtums Sachsen-Meiningen
die entsprechende Erlaubnis erhalten hatte, war 1906 Paul Geheeb. Schon
bald wurden die Konflikte mit dem, zusammen mit Paul Geheeb und anderen aus
Haubinda gekommenen, Gustav Wyneken unüberbrückbar. Der in
vieler Hinsicht radikalere, in jedem Fall aber durchsetzungsfähigere
Wyneken "siegte" bei den meisten Lehrern und Schülern (und
ihren Eltern), Geheeb schied im Februar 1909 endgültig aus. Wyneken
betrachtete - vermutlich zu Recht! - bis zu seinem Lebensende Wickersdorf
als "seine" Gründung und "seine" Schule, auch
wenn er von den 27 Jahren Wickersdorfs bis zum Jahe 1933, mit
Unterbrechungen kaum mehr zwei Jahre offiziell dort "Leiter"
(und sechs Jahe "Wirtschafts"leiter) war.
4) Warum das damals anders war, wird
gleich zu erörtern sein.
5) Der Genehmigungserlaß des "Großherzoglichen
Ministeriums des Inneren" in Darmstadt beschränkt sich auf den
lapidaren Satz: "Wir erteilen Ihnen die erbetene grundsätzliche
Genehmigung. Der inAussicht gestellten besonderen Vorlage sehen wir demnächst
entgegen." (Faksimile in: OSO-HEFTE NR 9 [1985], S. 12)
6) Heute würde erst einmal eine "Studiengruppe"
eingesetzt, dann eine "Gutachterkommission" beauftragt, dann ein
"Verein" o. ä. gegründet werden, der vor allem einen "realistischen"
Finanzierungsplan zu erstellen und zu garantieren hätte, bevor es
irgendwelcheAussichten auf staatliche "Genehmigung" und (auch
finanzielle) Unterstützung gäbe. Ohne "Marktanalysen"
und "Rentabilitätskonzepte" (und entsprechende "Experten"-Gutachten)
dürfte es mittlerweile kaum wahrscheinlicher sein, für eine
solche Gründung einen großzügigen Förderer zu finden
als in der Lotterie zu gewinnen.
7) Vermutlich war das "Elend" in
den Volksschulen kaum geringer, eher noch schlimmer. Aber es gab keinen
Thomas Mann, der es schilderte, und wohl nicht viele Eltern von Volksschülern,
die solche Bücher lasen. Die Alternativen, um die es hier geht, die
Landerziehungsheime, waren zudem nur zugänglich für die Kinder
von Eltern, denen es möglich war, auch für die Kosten einer
solchen Alternative aufzukommen. Da es sich um "Internate"
handelte, waren diese Kosten, selbst bei spartanischster Lebensführung,
auch damals schon nur von den Angehörigen "vermögender
Kreise" aufzubringen. Anders als bei den kirchlichen Internaten oder
den Kadettenanstalten gab es keine finanzstarken "Träger" im
Hintergrund, die viele "Freiplätze" garantieren konnten.
Einige unter den "Gründern" der Landerziehungsheime haben
unter diesem Dilemma und ihrer Abhängigkeit von einer bestimmten
Gesellschaftsschicht durchaus gelitten. Lietz gründete 1914 - wohl
auch aus diesem Leiden heraus - das "Landwaisenheim Veckenstedt",
das durch eigene Landwirtschaft etc. möglichst "autark"
sein sollte und das er im übrigen aus den Überschüssen der
anderen Heime zu finanzieren gedachte; Geheeb gewährte immer wieder "Freistellen",
die er eigentlich nicht finanzieren konnte - und hatte das Glück, daß
sein Schwiegervater über mehr als zwei Jahrzehnte bereit war,
Defizite der Odenwaldschule auszugleichen.
8) Walter Schäfer: Paul Geheeb.
Mensch und Erzieher Eine Biographie. Stuttgart (Klett) 1960 (=Aus den
deutschen Landerziehungsheimen Heft 4), S. 14.
9) Walter Schäfer (s. Anm. 8), S. 22.
10) Die Festschrift zu seinem 90.
Geburtstag führt nicht mehr als 11 Titel auf (Mitarbeiter der Odenwaldschule [Hrsg.]: Erziehung zur Humanität. Paul Geheeb zum 90.
Geburtstag. Heidelberg [Lambert Schneider] 1960), ausnahmslos nicht
sonderlich umfangreiche Aufsätze, davon allein 4 zum Problem der
Koedukation. Die Bibliographie von KARL SCHWARZ (vgl. Anm. 2) verzeichnet
zwar noch weitere ca. 30 Arbeiten; die meisten allerdings entweder kurze
Beiträge für die Schulzeitschriften der Odenwaldschule ("Der
Waldkauz" und "Der neue Waldkauz") oder Miszellen,
Leserbriefe oder leserbriefartige Stellungnahmen und dgl.
11) Damit war Lietz durchaus kein
Sonderling, wie man heute meinen könnte, sondern befand sich in
voller Obereinstimmung mit dem kulturkritisch-pessimistischen Flügel
der damaligen Öffentlichkeit.
12) Auf Paul Geheebs Schreibtisch in
Goldern stand ein Bild ELLEN KEYS, der er nach eigenem Bekunden in einer "jahrzehntelangen,
nahen Freundschaft" verbunden war und die er 1939 in einem Brief an
eine Schweizer Zeitung "die große schwedische Prophetin"
nannte. In Ellen Keys 1900 in Schweden und 1902 in Deutschland
erschienenem Buch "Das Jahrhundert des Kindes" finden sich Sätze
wie: "Ruhig und langsam die Natur sich selbst helfen lassen und nur
sehen, daß die umgebenden Verhältnisse die Arbeit der Natur
unterstützen, das ist Erziehung ... Aber der einzig
richtigeAusgangspunkt bei der Erziehung eines Kindes zu einem sozialen
Menschen ist, es als einen solchen zu behandeln, während man
gleichzeitig den Mut des Kindes stärkt, ein individueller Mensch zu
werfen." Es überrascht nicht, daß Ellen Key sich in diesem
Zusammenhang ausdrücklich auf ROUSSEAU beruft, wenn auch in kritischer Abgrenzung. (Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes. Nachdruck der
Erstausgabe von 1902. Königstein im Taunus [Athenäum] 1978,
S. 49, 54 und 85.) Paul Geheeb hat nicht Ellen Keys "Theorie" in "Praxis"
umgesetzt, aber sein pädagogisches Denken und Handeln war von dem
gleichen Geist bestimmt.
13) Martin Wagenschein: Erinnerungen für morgen.
Eine pädagogische Autobiographie. Weinheim und Basel (Beltz) 1983, S.
35.
14) Walter Schäfer (s. Anm. 8); S. 66.
15) Walter Schäfer (s. Anm. 8), S. 61
17) Martin Wagenschein (s. Anm. 13), S. 38.
18) Paul Geheeb: Briefe (Hrsg. Alter Schäfer)
Stuttgart (Klett) 1970, S. 126f. [Brief an Adolphe Ferrière].
19) Gustav Wyneken: Erinnerungen an Hermann Lietz. In:
E. Kutzer (Hrsg):Hermann Lietz - Zeugnisse seiner Zeitgenossen. Stuttgart
(Klett) 1968 (=Aus den deutschen Landerziehungsheimen, Heft 6), S. 120.
20) Gustav Wyneken (s. Anm. 19), S. 77.
21) Lietz hatte das Wort aus seinen englischen
Erfahrungen übernommen, von der chapel, die wie in englischen
public schools so auch in Abbotsholme eine den Tag gliedernde
Rolle spielte. In den Lietz'schen Heimen (und unter anderem Namen auch in
anderen Landerziehungsheimen) waren daraus "kulturelle"
Veranstaltungen geworden meist wurde vorgelesen, seltener musiziert,
gelegentlich waren sie auch das Forum für Gäste von außen.
Viele der "Gründer" waren "säkularisierte Theologen",
die auf diese Weise wichtige Riten religiösen Lebens in den säkularisiertenAlltag
der Landerziehungsheime hinüberholten. [Diese, sicher zutreffende
Interpretation der "Kapellen'' und vergleichbarer Einrichtungen
verdanke ich HARTMUT ALPHEI.]
22) Die Zählung in der Bibliographie von KARL
SCHWARZ (S. Anm. 2) ist schwierig, weil vieles, gelegentlich unter neuem
Titel, offenbar mehrfach abgedruckt ist. Nach dem Tode von Lietz sind bis
1938 immer wieder Schriften aus seinem Nachlaß veröffentlicht
worden, teilweise euch Auszüge aus bereits veröffentlichten
Beiträgen und Büchern. Auch bei Lietz überwiegen kurze
Texte in den eigenen Veröffentlichungen seiner Heime, aber es gibt
daneben doch eine Reihe selbständiger umfangreicherer Schriften.
23) An vielen Stellen, als Beispiel nur: "Die
Deutsche Nationalschule". Veckenstadt 1. Aufl. 1911, 2. Aufl. 1920.
24) Vgl. auch Walter Schäfer (s. Anm. 8), S. 27.
25) Zum Folgenden vgl. Walter Schäfer (s. Anm. 8), S. 23f.
26) WALTER SCHÄFER weist in diesem Zusammenhang
darauf hin, daß das, was HANS FREYER später als das "sekundäre
System" analysieren würde, zwar noch nicht benannt und genau
beschrieben worlen war, aber schon von vielen (insbesondere den "lebensreformerischen")
Kreisen als das eigentliche Unglück empfunden wurde. Vgl. Walter Schäfer
(s. Anm. 8), S. 24.
27) Vgl. Hildegard Feidel-Merz / Jürgen P. Krause: Der andere Hermann Lietz. THEO ZOLLMANN und das Landwaisenheim
Veckenstedt. Frankfurt/Main 1990.
28) Später Professor für Philosophie in
Hannover, der von Nazi-Vorläufern schon in den 20er Jahren vertrieben
und dann unter letztlich nicht geklärten Umständen, vermutlich
von Nazis, in der Tschechoslowakei ermordet wurde.