Dietmar Haubfleisch: Dr. Alfred Ehrentreich (1896-1998). Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1999/0014.html



Dr. Alfred Ehrentreich (1896-1998)

Von Dietmar Haubfleisch


Alfred Ehrentreich, geboren am 18. Juni 1896, entstammte einer kleinbürgerlichen Familie. Seine Entscheidung Gymnasiallehrer zu werden, hätte sicher zu einer ganz 'normalen' Gymnasiallehrerbiographie geführt, hätte ihn nicht ein gesundheitliches Leiden in Kontakt mit der Lebensreformbewegung (Vortrupp-Bewegung) gebracht. Aufgrund dieser Verbindung aber kamen Entwicklungen in Gang, die zu einem von einer 'normalen' Gymnasiallehrerbiographie stark abweichenden Lebenslauf führten.

Über die Lebensreformbewegung kam Ehrentreich während seines Studiums - in Freiburg im Breisgau und in Berlin (Englisch, Französisch, Deutsch) - mit der Freideutschen Jugendbewegung in Verbindung. In deren Schriften wurde er auf Gustav Wynekens (1875-1964) 'Freie Schulgemeinde Wickersdorf', einer der damals exponiertesten Stätten praktischer Reformpädagogik, aufmerksam. Ein Besuch dieses privaten Internats und ein Gespräch mit dem damaligem Leiter Martin Luserke (1880-1968) führte 1922 dazu, daß Ehrentreich hier als Lehrer tätig wurde.

In Wickersdorf lernte er das dortige neuartige Jugendleben, die aktive Beteiligung der Jugend am gesamten Schulleben (Schulgemeinde!) kennen und schätzen. Den fachlichen Unterricht dagegen bezeichnet Ehrentreich in der Rückschau als - mit Ausnahme der musischen Fächer - traditionell, z.T. regelrecht enttäuschend, dem außerunterrichtlichen Leben eindeutig nachgeordnet.

Während das in isolierter Lage gelegene Wickersdorf laut Ehrentreich von anderen pädagogischen Neuerungen ziemlich unbeeinflußt blieb, führte die auch auf Ehrentreich wirkende Anziehungskraft der Freien Schulgemeinde zu wahren Besucherströmen. Dabei wurden laut Ehrentreich die Besucher teilweise produktiv in das Unterrichtsgeschehen einbezogen - so daß sie zumindest teilweise nicht als Störung, sondern als ein regelrechter Gewinn betrachtet wurden.

Einer der Wickersdorfer Besucher war im Jahr 1924 Fritz Karsen (1885-1951), profilierter Reformpädagoge, der in Berlin-Neukölln einen Schulenkomplex leitete, der 1930 den Namen 'Karl-Marx-Schule' erhielt und einer der wenigen konsequenten öffentlichen Schulversuche auf dem Gebiet des höheren Schulwesens der Weimarer Republik darstellte. Obwohl öffentliche Schule, ermöglichte eine sozialistische Mehrheit im Arbeiterbezirk Neukölln Karsen enorme pädagogische Gestaltungsspielräume, die der Schulleiter Karsen zu nutzen wußte. So hatte er zum Beispiel die Freiheit, sich seine Lehrer selbst auszusuchen. Mit gutem Gespür suchte und fand der Sozialist Karsen reformpädagogisch arbeitende Pädagogen - eine bunte Mischung von Sozialisten, Kommunisten, Utopisten u.a., die in pluralistischer Gesinnung an seiner Schule unterrichteten.

Bei seinem Wickersdorfer Besuch bewegte Karsen Ehrentreich dazu, sich seinem Kollegium anzuschließen. Dieser Wechsel bedeutete für Ehrentreich eine deutliche Veränderung - herrschte doch an der Schule im Berliner Arbeiterbezirk Neukölln eine ganz andere Atmosphäre, weniger 'erlebnispädagogisch', als 'arbeitsunterrichtlich', weniger durch ein intimes Lehrer-Schüler-Verhältnis, als durch ein produktives Unterrichtsklima geprägt.

Mit Beginn des 'Dritten Reiches' wurde die Karl-Marx-Schule von den Nationalsozialisten geschlossen - und zwar laut Ehrentreich so überraschend schnell, daß innerhalb des Kollegiums keine Zeit für interne Diskussionen und Gegenmaßnahmen gegen ein drohenes Ende geblieben sei. Ehrentreich selbst erhielt zunächst Berufsverbot, wurde nach einigen Monaten an eine Berliner Mädchenschule versetzt, an der er, quasi in 'innerer Emigration' lebend, weitgehend unbehelligt arbeiten konnte.

Als bald nach Beginn des Krieges die sogenannte 'erweiterte Kinderlandverschickung' (KLV), mit der vom Luftkrieg bedrohte Kinder in weniger gefährdete, ländliche Gebiete - etwa ins Protektorat Böhmen und Mähren - gebracht und dort unterrichtet und erzogen wurden, geschickt wurden, meldete sich Ehrentreich freiwillig zur Teilnahme an diesem Unternehmen. Die erweiterte Kinderlandverschickung wird bis heute politisch-pädagogisch konträr eingeschätzt. Ehrentreich betont, daß er hier die Möglichkeit gehabt habe, in einer ungewohnten Schul- und Lebensumgebung in jugendbewegter Manier zu leben und Elemente seiner reformpädagogischen Erfahrungen der 20er und frühen 30er Jahre im 'Dritten Reich' umzusetzten. Damit gibt Ehrentreich einen deutlichen Hinweis darauf, daß es den Nazis zumindest partiell gelungen sein mag, Ansätze der Jugendbewegung und der Reformpädagogik aufzunehmen und in ihrem Sinne umzuformen - und damit selbst dem System kritisch eingestellte Pädagogen zu beeindrucken und zumindest partiell dienstbar zu machen.

Nach dem Ende des Krieges unterrichtete Ehrentreich als Lehrer zunächst in Kassel. Nach kurzer Zeit wurde ihm die Leitung des Korbacher Gymnasiums, der 'Alten Landesschule', übertragen. Hier versuchte er, trotz erheblicher Schwierigkeiten durch die an alten Traditionen hängenden Korbacher, noch einmal, Elemente der Reformpädagogik der Weimarer Republik wiederzubeleben. So schuf Ehrentreich die 'Schulgemeinde' und Schülerausschüsse als Mitbestimmungsorgane der Schülerinnen und Schüler. Er förderte den Schüleraustausch und führte Projekttage ein, zu denen Fachleute eingeladen wurden, mit denen die Schüler über bestimmte Themen diskutieren konnten.

1962 wurde Ehrentreich pensioniert. Bis ins hohe Alter beteiligte er sich rege am Kulturleben Korbachs. Am 11.04.1998 verstarb er (s. u.a.: Dr. Alfred Ehrentreich +. Förderer von Kultur und Völkerverständigung. In: HNA - Waldeckische Allgemeine vom 14.04.1998).

In seinem langen Leben veröffentlichte Ehrentreich eine Vielzahl an Publikationen - von denen viele seiner pädagogischen Schriften heute wichtige Quellen zur historischen Bildungsforschung, insbesondere zur Erforschung der historischen Reformpädagogik dienen. Besonders hervorzuheben gilt es hierbei seine Autobiographie: Alfred Ehrentreich: Pädagogische Odysee. Im Wandel der Erziehungsformen, Weinheim [u.a.] 1967. - Wieder als: Alfred Ehrentreich: 50 Jahre erlebte Schulreform - Erfahrungen eines Berliner Pädagogen, hrsg. und mit einer Einleitung von Wolfgang Keim (=Studien zur Bildungsreform, 11), Frankfurt [u.a.] 1985. Die Neuauflage dieses Werkes enthält (S. 221-224) eine Auswahlbibliographie der Schriften Ehrentreichs bis 1984. Von den neueren Schriften seien hier lediglich genannt: Alfred Ehrentreich: Dresdner Elegie. Schule im Krieg: Die Kinderlandverschickung im 3. Reich, Brackwede bei Bielefeld 1985. - 90 Tage in der Neuen Welt. Nicht nur eine pädagogische Reise, Brackwede [ca. 1986]. - Alfred Ehrentreich: Sanssouci. Märkische Baumeister und Fürsten. Die Entstehung des Parks und der Wasserkünste. London [u.a.] 1989. - Alfred Ehrentreich / Dieter Barth: Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf. In: Pädagogik und Schulalltag, Jg. 47 (1992), S. 588-595.

Den bislang umfangreichsten und besten biographischen Überblick zu Ehrentreich bietet: Wolfgang Keim: Alfred Ehrentreich. geb. 1896. In: Schulreform - Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln, hrsg. von Gerd Radde, Werner Korthaase, Rudolf Rogler und Udo Gößwald im Auftrag des Bezirksamts Neukölln, Abt. Volksbildung, Kunstamt, Bd. II: 1945 bis 1972, Opladen 1993, S. 197- 200.

Kern dieser kurzen biographischen Skizze ist ein von Hanno Schmitt initiiertes und am 8. Mai 1992 mit einer kleinen Gruppe Studierender und Lehrender geführtes Gespräch mit Alfred Ehrentreich am Institut für Erziehungswissenschaft in Marburg.