Paul Geheeb: Die Odenwaldschule im Lichte der Erziehungsaufgaben der Gegenwart. Vortrag, gehalten in der Volkshochschule in Halle a.S. am 2. Juni 1930. Übertragen von Martin Näf (Basel) und Dietmar Haubfleisch (Marburg). Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1999/0013.html -
Der Vortrag wurde erstmals (im Vortragsstil) veröffentlicht in: Aufsätze aus dem Mitarbeiterkreis der Odenwaldschule zu ihrem zwanzigjährigen Bestehen (Paul Geheeb zum 60. Geburtstag), Oberhambach: Waldkauzdruckerei der Odenwaldschule, 1930, S. 73-89;
in veränderter (u.a. den Vortragsstil aufgebender) Fassung wieder in: Die Pädagogische Hochschule. Wissenschaftliche Vierteljahrsschrift des Badischen Lehrervereins, Jg. 3 (1931), S. 11-32; erneut (mit leichten Abweichungen gegenüber der Fassung von 1931) wieder in: Erziehung zur Humanität. Paul Geheeb zum 90. Geburtstag. Hrsg. von Mitarbeitern der Odenwaldschule, Heidelberg
1960, S. 131-154; gekürzt wieder in: 75 Jahre Odenwaldschule. Programmheft (=OSO-Hefte. N.F., 9), Heppenheim 1985, S. 13-33 (die elektronische Fassung 1999 folgt der Veröffentlichung von 1960).
Die Odenwaldschule im Lichte der Erziehungsaufgaben der Gegenwart
Vortrag von Paul Geheeb
gehalten in der Volkshochschule in Halle a.S.
am 2. Juni 1930.
Übertragen von Martin Näf (Basel) und Dietmar Haubfleisch (Marburg)
Die Odenwaldschule, als Äußerung einer fast 1 1/2
Jahrhunderte alten kulturellen Bewegung, als deren Ahnherren Goethe und
Fichte anzusprechen sind, sucht zur Lösung der uns von der Gegenwart
gestellten Erziehungsaufgaben in bescheidenem Rahmen beizutragen.
"Die größte Angelegenheit des Menschen ist, zu wissen,
wie er seine Stelle in der Schöpfung gehörig erfülle, und
recht zu verstehen, was man sein muß, um ein Mensch zu sein", äußert
Kant einmal. Höchster Zweck der Erziehung und letztes Ziel
aller Kultur ist die Entwicklung zum Menschen, zum Menschen im vollen und
höchsten Sinne; darüber sind die großen Weisen aller
Zeiten und Völker miteinander einig. Man wird nicht von mir erwarten,
daß ich sage, was ein Mensch sei; niemand vermöchte dies zu erschöpfendem
Ausdruck zu bringen; hat doch ein jeder von uns sein Leben lang sich mit
den von den großen Menschen aller Zeiten aufgestellten Idealen des
Menschentums auseinanderzusetzen, um sich ein annäherndes Bild des
Menschen zu schaffen und es zu verwirklichen.
Wenn es nun schon, einfach biologisch gesehen, im Interesse der
menschlichen Rasse liegt, alle Kräfte aufzubieten, um den Menschen in
möglichster Vollkommenheit zu entwickeln, so kommen immer wieder Zeiten
der Entartung, in denen das Menschentum in der Zivilisation zu
versinken droht. Nicht nur durch die Nachtseiten der Zivilisation mit all
ihrem physischen und moralischen Elend, sondern auch dadurch, daß
Institutionen wie Schule und Kirche, die ursprünglich der
Menschenbildung dienten, zeitweise der Veräußerlichung und
Verknöcherung, oder etwa das geistige Leben einem einseitigen
Intellektualismus anheimfallen, wird die Entwicklung zum Menschen gefährdet,
wenn nicht geradezu zerstört. Und wie in den Fluten ein Ertrinkender
nach Rettung schreit, so ruft in solchen Zeiten das Volk nach Menschen zur Rettung des Menschentums, und die großen Menschen von Platon
und Sophokles und den alt- und neutestamentlichen Propheten bis auf Goethe
stehen auf, um das Menschentum zu retten.
Es würde zu weit führen, kulturhistorisch darzulegen, wie im
deutschen Volke im Laufe des 18. Jahrhunderts die angstvolle Sorge, daß
das Menschentum in der Zivilisation versänke, ihren Höhepunkt
erreichte, so daß immer leidenschaftlicher der Ruf ertönte:
Nicht Priester noch Gelehrte, nicht Beamte noch zukünftige Handwerker
brauchen wir, sondern: Menschen! Da erscholl Rousseaus Ruf "Zurück
zur Natur!" - nicht im Sinne einer Abkehr von der Kultur; denn
Rousseau dachte nicht daran, sich mit seinem Zögling in die Höhle
eines Urwaldes zurückzuziehen, sondern rief auf zu wahrem
Menschentum, und wir wissen, wie Kant und Goethe von Rousseaus "Emile"
erschüttert und erfüllt waren und der junge Pestalozzi das
damals in der Schweiz verbotene Buch mit glühenden Wangen heimlich
verschlang. Da wurde die Magna Charta neuer Erziehung entrollt in
Goethes "Wilhelm Meister", der die kulturelle Bewegung
einleitete, in der wir heute mitten drinstehen, und die, im Banne Goethes
stehend, des größten Weisen, der auf deutscher Erde gewachsen
ist, eine Erziehungsauffassung geschaffen hat, die unter Erziehung weniger
die Tätigkeit des älteren, reiferen Menschen versteht, der bemüht
ist, die Jugend zu beeinflussen, zu leiten und zu unterrichten, als
vielmehr den Entwicklungsprozeß, in dem sich jeder Mensch
von der Geburt bis zum Tode, den Prozeß andauernder, zunächst
unbewußter, allmählich bewußt werdender
Auseinandersetzung, in der sich jedes Individuum mit seiner Umgebung, mit
Menschen und Dingen, mit Natur und Kultur befindet, die empfangenen Eindrücke
teils fruchtbar verarbeitend und als Bildungsstoffe zum Aufbau der eigenen
Individualität assimilierend, teils aber ablehnend. Diese
Erziehungslehre beginnt nicht mit einer philosophischen Erörterung
der Kulturgüter und ihres schlechthinnigen Wertes als Bildungsgüter
für die Jugend oder mit der Aufstellung von Erziehungszielen, die von
außen an die Jugend herangebracht werden, auch nicht mit einem
Kapitel über Zucht und ein System der Strafen, noch mit der Überlegung,
wie ein Erzieher es anfangen müsse, um seinen Zöglingen Autorität
zu werden und sie fest in der Hand zu behalten und ihnen möglichst
viele Kenntnisse beizubringen. Vielmehr gehen wir vom Kinde aus,
und im Vordergrund des Interesses steht uns das Studium der unerschöpflichen
Fülle der kindlichen Kräfte und Anlagen und des unendlichen
Reichtums der Individualitäten. Was können wir dazu tun, daß
alle diese Anlagen und Kräfte sich möglichst stark und schöpferisch
entfalten zur Totalität der harmonischen Persönlichkeit? Wie läßt
sich jeder Anlaß zur Verkümmerung und Verbildung vermeiden? Wie
muß die Umgebung des Kindes eingerichtet sein, damit das Bedürfnis
jedes noch gesund empfindenden Kindes nach Ordnung und Disziplin
ebensosehr befriedigt werden, wie das zur vollen Entwicklung seiner
Spontaneität und Aktivität nötige Maß von Bewegungsfreiheit vorhanden sei - Freiheit im Sinne des Wortes Paul de Lagardes: "Frei
ist nicht, wer tun kann, was er will, sondern wer werden darf, was er
soll!" - "soll" im Sinne der seiner Individualität
innewohnenden Gesetze. Wie kann der jedem Kinde von Geburt
innewohnende Trieb, sich in Spiel und Arbeit zu betätigen und
seine Kräfte zu entwickeln und zu üben, zu einer das Kind selbst
und seine Umgebung beglückenden Stärke und Stetigkeit gesteigert
werden, so daß es überhaupt keine faulen Schüler gäbe?
Wie kann die Schule, anstatt zu einem Orte des Seufzens und der Qual, zu
einer Stätte der Freude gestaltet werden, mit der der Erwachsene später
seine frohesten Kindheitserinnerungen verbindet?
Oberstes Erziehungsziel und höchster Zweck aller Kultur ist uns die
Entwicklung zum Menschen im vollen Sinne des Wortes; dieses Ziel
ist uns noch wichtiger als alle Fragen nach Stand und Beruf, Konfession
und Nation und Rasse; und diese Aufgabe, diese Lebensbestimmung ist allen
Menschen gemeinsam. Ihr gegenüber steht eine Aufgabe, der ein
weiteres Kapitel unserer Erziehungslehre gewidmet ist, indem wir mit
Goetheschen Augen die unendliche Fülle der Individualitäten
schauen und uns an der Mannigfaltigkeit der individuellen Formen freuen.
Von allen Wundern der an Wundern schier unerschöpflich und im
strengen Sinne unendlich reichen Schöpfung ist das größte
und wunderbarste: Die Natur streut täglich eine verschwenderische Fülle
von Keimen aus, und nicht eins der Geschöpfe, die sich aus ihnen
entwickeln, ist einem andern völlig gleich; von den Tausenden von
Kindern, wie sie auf der Erde täglich aus dem Schoße der Mutter
kommen, ist nie eins dem andern durchaus gleich. je jünger die
Kinder, desto mehr pflegen wir uns an ihnen zu freuen; dies beruht auf
unserem Entzücken über die Fülle des Originellen und
Individuellen. Dann ist eine schlechte Erziehung, die auf Unterdrückung
und Vergewaltigung hinausläuft, bemüht, zu nivellieren (häufig
beruht dies auf mißverstandenem Sozialisierenwollen), der
Nachahmungstrieb spielt eine üble Rolle, die Leute werden immer
gleichartiger und langweiliger (was sie oft symbolisch durch ihre
Kleidung, zumal die männliche, auszudrücken suchen) und
entwickeln sich zu kümmerlichen Karikaturen dessen, was sie ihrer
individuellen Bestimmung nach hätten werden sollen. Die menschliche
Kultur aber hätte das stärkste Interesse daran, den unendlichen
Reichtum der Individualitäten zu erhalten und aufs kraftvollste zu
entwickeln. Die positive, besondere Aufgabe, die sich von hier aus jedem
einzelnen stellt - im Gegensatz zu der allen gemeinsamen, von der vorhin
die Rede war -, läßt sich kurz in drei Worten des alten
griechischen Weisen Pindar ausdrücken: genoio ojos essi, "Werde,
der du bist!", entwickle dein individuelles Selbst zu höchstmöglicher
Vollkommenheit! Werde ein Selbst, werde das Selbst, das auf der ganzen
Welt nur du, unersetzlich und unvergleichlich, durch kraftvolle
Entwicklung der dir innewohnenden Individualität vermagst! Dies ist
das höchste Erziehungsziel, das dem einzelnen gesteckt ist und dem er
- im Einklang mit der Lösung jener allen gemeinsamen Aufgabe der
Entwicklung zum Menschen - zuzustreben hat.
Das Prinzip der Entwicklung der Individualität zu möglichst
vollkommener Ausprägung hat sich in der Geschichte der Pädagogik
der letzten hundert Jahre als äußerst fruchtbar erwiesen;
konsequenterweise führt es zur Forderung der Autonomie des
Individuums auf allen Gebieten und in allen Hinsichten menschlichen
Seins. Fichte erklärt: "Niemand wird kultiviert,
sondern jeder hat sich selbst zu kultivieren. Alles bloß
leidende Verhalten ist das gerade Gegenteil der Kultur; Bildung
geschieht durch Selbsttätigkeit und zweckt auf Selbsttätigkeit
ab."
In ethischer Hinsicht führt die Forderung der individuellen
Autonomie zu dem Bestreben, schon in dem Kinde möglichst früh
ein starkes Verantwortungsgefühl zu entwickeln, Verantwortung für
sich selbst sowie für die Gemeinschaft, in der es lebt; man erzieht
zur moralischen Selbständigkeit dadurch, daß man auf die
Gewissenhaftigkeit der Kinder vertraut, ihren Gemeinschaften eine weitgehende
Selbstverwaltung zugesteht und dahin wirkt, daß die Disziplin
sich aus den Kindern selbst entwickele, anstatt durch Vorgesetzte und
Autorität von außen erzwungen zu werden.
Auf den Gebieten der Willensbildung und Arbeitsmethoden hat das Prinzip
der Autonomie zu den Bestrebungen der Arbeitsschule geführt, die in
bedeutsamen Schriften Georg Kerschensteiners ihre klassische Formulierung
gefunden haben. Während bei schlechter Unterrichtsmethode der Schüler
sich - dem aktiven Lehrer gegenüber - fast ganz rezeptiv, um nicht zu
sagen: passiv verhält, werden jetzt Aktivität und Initiative
des Schülers im höchsten Grade gesteigert, so daß er
sich den Unterrichtsstoff in hohem Maße erarbeitet und den Fortgang
der Unterrichtsarbeit herbeiführt.
Aber nicht nur das "Wie" der Bildungsarbeit, sondern auch das "Was"
untersteht der Maxime "genoio ojos essi". Bildung ist
nicht eine Masse von Kulturgütern, nicht ein Ding, das einer sich auf
Wunsch anschaffen kann, sondern ein Sein, ein Werden: der auf Formung der
Individualität - gemäß den dieser innewohnenden Gesetzen -
ausgehende Entwicklungsprozeß, der sich in steter Auseinandersetzung
mit der Natur und den Kulturgütern der Umgebung vollzieht, ihre
Inhalte teils ablehnend, teils fruchtbar verarbeitend, niemals zu einem
Abschlusse gelangend. Die Bildung des Individuums wird jedoch nur durch
jene Kulturgüter ermöglicht, deren geistige Struktur ganz oder
teilweise der Struktur der individuellen Psyche adäquat ist. Jedes
Kind also, von dem denkbar größten Reichtum von Kulturgütern
umgeben, muß aus diesen, mit Hilfe seiner erwachsenen, erfahrenen
und sachkundigen Freunde, diejenigen Bildungsgüter herausfinden, mit
denen es sich, seiner individuellen Veranlagung und Entwicklungsstufe
entsprechend, fruchtbar auseinanderzusetzen, an denen es zu wachsen, sich
zu bilden vermag. "Weise Männer lassen den Knaben unter der Hand
dasjenige finden, was ihm gemäß ist", heißt es im "Wilhelm
Meister".
Macht man sich in diesem Zusammenhange klar, daß im Laufe der
Jahrhunderte und Jahrtausende sich immer größere Kulturmassen
aufspeichern, so wird man die Angst derjenigen Pädagogen verstehen,
die noch immer vom Idol der "allgemeinen Bildung" besessen
sind; verzweifelt fragen sie, wo sie auf längst überlasteten
Lehrplänen immer noch neue Unterrichtsfächer und Stoffmassen
unterbringen sollen. Den Schlüssel zur Lösung auch dieses
Problems hat uns bereits Goethe gegeben: "Narrenpossen sind eure
allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu. Daß der Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie nicht leicht
ein anderer in der nächsten Umgebung, darauf kommt es an ... Eines recht wissen und ausüben gibt höhere Bildung als Halbheit im
Hundertfältigen." Also auch hier die Lösung des Problems
nicht von den Kulturmassen, sondern vom Bildungssubjekte, dem Kinde, her!
Es gehört zu den beglückendsten Ereignissen der letzten zehn
Jahre, daß die Schulregierungen der meisten deutschen Staaten, die
preußische voran, diesen von Goethe gewiesenen Weg beschritten
haben, um das Schulwesen in wirkliche Bildungsstätten umzuwandeln;
aus diesem Gesichtspunkte hat man die Reform der Lehrpläne und der
Reifeprüfungen sowie der Organisation der höheren Schulen in
Angriff genommen. Manchem mißmutigen Beobachter hat sich dies aus
der Ferne so dargestellt, als sei das einst so berühmte geistige
Niveau unserer höheren Schulen gesunken, seien die Anforderungen an
die Schüler in der Reifeprüfung herabgedrückt; in
Wirklichkeit hat das Ideal des wandelnden Konversationslexikons dem des
gebildeten Menschen Platz gemacht.
Diese Erziehungsbewegung also, deren Grundgedanken ich hier zu
skizzieren versucht habe, wurde vor fast anderthalb Jahrhunderten durch
Goethes "Wilhelm Meister" eingeleitet. Aus dem Kreise aber der Kant,
Goethe, Pestalozzi, die von Rousseau stark beeinflußt waren, ging
der größte Prophet dieser Bewegung hervor, Johann Gottlieb
Fichte, dessen epochemachende Tat in der Forderung bestand, die
Jugenderziehung ausdrücklich in den Dienst des Kampfes ums
Menschentum zu stellen. Angesichts des politischen und moralischen
Zusammenbruchs Deutschlands in der napoleonischen Ära hielt Fichte,
ganz erfüllt von der Persönlichkeit und den Ideen Pestalozzis,
im Winter 1807/08 in Berlin die berühmten "Reden an die
deutsche Nation"; als allein mögliches Rettungsmittel aus
dem allgemeinen Elend forderte er die deutsche Nationalerziehung, unter
der er folgendes verstand: Die Welt der Erwachsenen sei von Grund aus und
unheilbar verderbt; der Staat müsse überall in deutschen Landen
in herrlicher Natur, weitab von den Städten, Erziehungsheime
errichten, alle Kinder von ihren Eltern trennen und in diese Heime
schicken, damit daselbst ein neues, starkes Geschlecht aufwachse; die
hierzu nötigen Lehrer und Erzieher könne man aus den
Pestalozzischen Anstalten beziehen. Sehr eingehend legt Fichte, besonders
in der 9., 10. und 11. Rede, in Anlehnung an Pestalozzi die Ideen der
deutschen Nationalerziehung und die Einrichtungen der gedachten
Erziehungsheime dar. Bekanntlich blieb Fichtes Forderung damals unerfüllt,
und unser Vaterland rettete sich auf andere Weise aus der Not. -
Es war gegen Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als ich als
Student der Universität Jena in einem religionsphilosophischen
Seminar Hermann Lietz, den schlichten, kraftvollen
Gutsbesitzerssohn aus Rügen, kennnenlernte; zwei Jahre älter als
ich, hatte er seine Universitätsstudien schon ziemlich vollendet und
unterrichtete in der Übungsschule des Pädagogischen Universitätsseminars
Wilhelm Reins und am Gymnasium. Zwischen Lietz und mir entstand bald eine
innige und ungemein fruchtbare Freundschaft; gemeinsam vertieften
wir uns in die Philosophie Fichtes und entwickelten unsere pädagogischen
Ideen. Wir hatten viel in Städten gelebt, einen Teil unserer
Studienzeit in Berlin zugebracht, wo uns das soziale Elend der Großstadt
mit Grauen erfüllte; und durchdrungen von der Überzeugung,
daß nicht nur vor hundertjahren dieWelt mehr oder weniger verderbt
gewesen sei, wurden wir in dem starken Gefühle für den
Antagonismus zwischen wahrem Menschentum und den Übeln der
Zivilisation begeisterte jünger Fichtes. Uns beschäftigten also
nicht eigentlich die damals allmählich in Fluß kommenden Fragen
der Schulreform; ja, es ist für Lietz charakteristisch, daß er
sich den großen Kongressen, die der später über ganz
Deutschland verbreitete "Bund für Schulreform" in Dresden,
München, Breslau veranstaltete, und seinen Arbeiten geflissentlich
fernhielt. Vielmehr interessierte uns der Mensch in seiner Totalität;
mit warmem Interesse verfolgten wir, im Verkehr mit Bebel und anderen
sozialistischen Führern, die damals immer mächtiger anwachsende
sozialdemokratische Bewegung, und es war hauptsächlich das
unerquickliche parteipolitische Treiben, das uns hinderte, ihr uns
anzuschließen. Uns handelte es sich um das Problem, das gesamte
Leben der Menschen auf eine völlig neue, gesündere Basis zu
stellen, und zwar vermittelst einer von Grund aus neuen Erziehung, wie
Fichte sie in seinen "Reden an die deutsche Nation" gepredigt.
"Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die
gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen" -, hat einmal
Fichtes großer Lehrer Immanuel Kant geäußert; und er fährt
fort: "Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger
besserer Zustand hervorgebracht werde."
Im Landerziehungsheim sollen die Kinder in reiner Luft, unverkümmert
und unverbogen, sich zu wahrem Menschentum entwickeln, bewahrt vor
den Übeln der Zivilisation, von denen die Welt draußen voll
ist; die heranreifenden Jünglinge und Mädchen sollen durch den
Unterricht in der Kulturgeschichte, den Naturwissenschaften und der
Technik sowie durch Studienreisen mit dem wirklichen Zustand der
menschlichen Gesellschaft und ihrem Elend vertraut gemacht, der Gegensatz
zwischen wahrem Menschentum und der wirklichen Welt ihnen zum Bewußtsein
gebracht, der tiefe Sinn des Goetheschen Bekenntnisses ihnen eingepflanzt
werden: "Mensch sein heißt ein Kämpfer sein!"
Die Jugend soll zu tapferen Kämpferscharen erzogen werden, die sich
nicht feige in die Welt, die in vielen Hinsichten immer verderbt ist,
hineinfügen, sondern gelernt haben, gegen den Strom zu
schwimmen, der Mode und Konvention auf äußeren und geistigen
Gebieten und allem, was jeweils "modern" genannt wird, souverän
gegenüberzustehen, entschlossen Front zu machen gegen die besonderen
Unarten und Entartungserscheinungen jeder Zeit und ihr ganzes Leben
hindurch, bis zum letzten Atemzug, um eine immer vollkommene Gestaltung
ihres Menschenturns zu kämpfen! Jeder Jüngling, jedes Mädchen
lernt im Landerziehungsheim, als veranwortungsvolles Glied einer kleinen
Gemeinschaft zu leben, um als Staatsbürger später mit voller
Hingabe dem Wohle der Nation zu dienen. So soll die neue Jugend weit über
den Rahmen ihrer Heime hinaus wirken zur völligen Umgestaltung der
menschlichen Gesellschaft!
Hermann Lietz, dem man auf den ersten Blick den Mann der Tat ansah, war
mit seinem Enschlusse schnell fertig. Obwohl fast ganz ohne
wirtschaftliche Mittel, vermochte er bereits im Frühling 1898
bei Ilsenburg im Harz sein erstes Deutsches Landerziehungsheim
zu eröffnen. Drei Jahre später folgte die Gründung des
zweiten Heimes auf dem Rittergute Haubinda am Südrande des Thüringer
Waldes; wieder drei Jahre danach wurde das dritte Heim in Schloß
Bieberstein in der Rhön eröffnet; auch ein Waisenheim wurde in
Veckenstedt im Harz gegründet. Die Bewegung erstarkte und wuchs mächtig
an, griff auch aufs Ausland, besonders auf England und die Schweiz über.
Obgleich anscheinend eine Bärennatur, hat Lietz seine Körperkräfte
zu schnell verbraucht; er starb schon vor elf Jahren (1919). Seine
Nachfolger gründeten noch mehrere neue Heime. Teils in
freundschaftlichem Konnex mit Lietz, teils durch Sezessionen aus seinen
Heimen entstand in Deutschland noch eine Anzahl weiterer
Landerziehungsheime, so daß wir im ganzen jetzt 15 - 18 derartige
Heime zählen, die, nach Grundsätzen und Organisation, eine
weitgehende sachliche Differenzierung der Bewegung darstellen.
Eine großzügige Natur und von reinstem Idealismus erfüllt,
verfolgte Lietz von Anfang an den Grundsatz, die den Kindern bzw. ihren
Eltern aufzuerlegenden Erziehungskosten möglichst niedrig zu
bemessen, so niedrig, als die Notwendigkeit zuließ, daß diese
Anstalten, denen niemals öffentliche Unterstützung zuteil
geworden ist, sich wirtschaftlich gerade selbst über Wasser hielten;
um bildungsfähige Kinder war es ihm zu tun, nicht um Gelderwerb, und
er war besonders beglückt, wenn die Masse seiner Schüler es ihm
gestattete, einige nichtszahlende Proletarierkinder aufzunehmen. Diesem
Grundsatz sind alle Landerziehungsheime treu geblieben; die meisten von
ihnen sind in letzter Zeit öffentliche Stiftungen geworden.
Nachdem ich jahrelang mit Lietz zusammengearbeitet, auch Haubinda einige
Jahre geleitet hatte, gründete ich im Frühling 1910 die
Odenwaldschule, die, abweichend von den meisten anderen Heimen,
besonders den Lietz'schen, schon dadurch ein eigenartiges Gepräge
erhielt, daß in ihr die Koedukation konsequent durchgeführt
ist. Es lag tief in Lietz' Persönlichkeit begründet, daß
er in der 10. der Fichteschen "Reden an die deutsche Nation" den
Passus übersah, wo es heißt: "Es versteht sich ohne unser
besonderes Bemerken, daß beiden Geschlechtern diese Erziehung auf
dieselbe Weise zuteil werden müsse. Eine Absonderung dieser
Geschlechter in besondere Anstalten für Knaben und Mädchen würde
zweckwidrig sein und mehrere Hauptstücke der Erziehung zum
vollkommenen Menschen aufheben. Die Gegenstände des Unterrichts sind
für beide Geschlechter gleich; der in den Arbeiten
stattfindende Unterschied kann, auch bei Gemeinschaftlichkeit der übrigen
Erziehung, leicht beobachtet werden. Die kleinere Gesellschaft, in der sie
zu Menschen gebildet werden, muß ebenso wie die größere,
in die sie einst als vollendete Menschen eintreten sollen, aus einer
Vereinigung beider Geschlechter bestehen; beide müssen erst
gegenseitig ineinander die gemeinsame Menschheit anerkennen und lieben
lernen und Freunde haben und Freundinnen, ehe sich ihre Aufmerksamkeit auf
den Geschlechtsunterschied richtet und sie Gatten und Gattinnen werden."
So weit Fichte.
In eine von männlichen und weiblichen Elementen erfüllte Welt,
durchströmt von der Polarität der Geschlechter, wird das Kind
hineingeboren und wächst heran, und zwar als männlich oder
weiblich geprägtes Wesen mit entsprechender Reaktionsfähigkeit.
Diese wunderbare Welt der zweigeschlechtigen Differenzierung auch aus dem
Gesichtspunkte der Erziehung freudig bejahen und den aus ihr quellenden
Reichtum auf allen Lebens- und Kulturgebieten pädagogisch verarbeiten
und für die Erziehung der Kinder möglichst fruchtbar werden zu
lassen: das ist der Inbegriff der Koedukation. Wenn der wirkliche
Erziehungsprozeß in der zunächst unbewußten, allmählich
mehr und mehr bewußten Auseinandersetzung des Individuums mit seiner
Umwelt - im vollsten Sinne - besteht, so bildet die Koedukation einen ganz
wesentlichen Bestandteil aller Erziehung. Gibt es doch nirgends ein Kind,
das in sexueller Isolierung aufwüchse; vielmehr entwickelt sich der
Knabe oder das Mädchen in seinen niemals und auf keine Weise
auszuschaltenden, wechselseitigen Beziehungen zum anderen Geschlecht. Der
Knabe verfolgt das Ziel, sich zum möglichst vollkommenen Mann, das Mädchen,
sich zur möglichst vollkommenen Frau zu entwickeln, so daß die
Synthese beider das vollkommene Menschentum darstelle. Aber erst durch häufige
und intensive Auseinandersetzung mit Individuen des andern Geschlechts
vermag der Knabe oder das Mädchen seine Eigenart kraftvoll und
ausgeprägt zu entwickeln. Ist ja doch die sexuelle Differenzierung so
wunderbar eingerichtet, daß Individuen verschiedenen Geschlechts in
ihrer Auseinandersetzung nicht imitativ aufeinander reagieren (so daß
die gemeinsame Erziehung nivellierend wirken könnte), sondern die
Gegenwart des Knaben Züge weiblicher Eigenart im Mädchen
hervorlockt, und umgekehrt. Durch bewußte und planmäßige
Koedukation werden die Auseinandersetzungsgelegenheiten zwischen Kindern
verschiedenen Geschlechte in Spiel und Arbeit und auf allen übrigen
Gebieten kindlichen Lebens nach Möglichkeit gesteigert und fruchtbar
gestaltet; man fürchtet sie nicht als Komplikation und Erschwerung
der Erziehungsarbeit, sondern schätzt sie als der unermeßlichen
Fülle des Lebens entsprechende Bereicherung.
Je größer die Schwierigkeiten sind, in die ein Kind, aus
konstitutionellen oder zufälligen Ursachen, durch Einwirkungen
seitens des anderen Geschlechtes gerät, desto dringender ist die
Notwendigkeit gemeinsamer Erziehung im Sinne der Forderung, daß
dieses Individuum unter bewußter und verantwortlicher Führung
sich mit den vom anderen Geschlechte ausgehenden Einflüssen
auseinanderzusetzen hat, anstatt daß man es nicht zu verantwortenden
Zufällen überlasse. Denn solche Kinder haben es doch gerade am
allernötigsten: daß die Knaben Selbstbeherrschung und
Ritterlichkeit die Mädchen Selbstbewahrung, Zurückhaltung und
weibliche Würde entwickeln, beide Geschlechter sich praktisch in der
seltenen Kunst üben, daß Menschen verschiedenen Geschlechts
trotz, ja gerade in ihrer Verschiedenheit einander verstehen und würdig
miteinander leben, erfüllt von dem klaren und starken, zu einem
festen Bestandteile des Charakters gewordenen Bewußtsein von der
besonderen Art schwerer Verantwortung, die jeder Mensch gegenüber
Angehörigen des anderen Geschlechts zu tragen hat. Koedukation in
Kindheit und Jugend, und dann wahrhafte Kooperation freier Frauen
und freier Männer, die verständnisvoll einander gegenüberstehen
in ungeahnter Fülle gemeinsamen Wirkens zur Schaffung wahrer
Menschheitskultur! - Eine Koedukationsgemeinschaft ist zugleich eins der
wirksamsten Mittel in dem - trotz Inkrafttretens der Weimarer Verfassung
wohl noch Generationen hindurch notwendigen - Kampfe gegen den Aberglauben
an die Inferiorität des weiblichen Geschlechts; und in einer Schule,
die den Mädchen ganz die gleiche Bewegungs- und Entwicklungsfreiheit
wie den Knaben läßt und in der alle Machtmittel ausgeschaltet
sind, deren die Welt der Erwachsenen sich bisher den Kindern, im Männerstaate
das herrschende Geschlecht dem weiblichen gegenüber bediente (ich
darf auf die aufschlußreichen Untersuchungen Mathilde Vaertings in
ihrem neuesten Buche "Die Macht der Massen in der Erziehung"
hinweisen): in einer solchen Schule vermag sich im Laufe von Generationen
endlich genuine weibliche Eigenart und Bildung zu entwickeln. -
Meine Schule besteht aus 12 Landhäusern, die am oberen Ende eines
von der Bergstraße sich nach Osten in den Odenwald emporziehenden
Tales liegen, in herrlicher Landschaft, zwischen Bergen, Laubwäldern
und Wiesen; 180 Kinder und junge Leute, von denen etwa ein Drittel
Mädchen, sind auf sieben Häuser verteilt; in kleinen
Gruppen, die wir Familien nennen, wohnen sie mit je einem Erwachsenen,
zuweilen einem Ehepaar, zusammen. Ungefähr 30 pädagogisch
vorgebildete Männer und Frauen leben und arbeiten für diese
Schar von Kindern, deren jüngste sich im dritten oder vierten,
manchmal sogar erst im ersten Lebensjahre befinden; dazu kommen einige
40 Menschen, die in der wirtschaftlichen Verwaltung, im Haushalt,
in den Werkstätten und im Garten tätig sind.
Es ist nicht leicht, die Struktur dieser Lebensgemeinschaft zu
schildern, die sich im Laufe von 20 Jahren im Odenwald entwickelt hat und
in der 250 Menschen der verschiedensten Altersstufen miteinander leben,
alle unter der gemeinsamen Idee vom Goetheschen Menschen stehend und
bestrebt, einander zu verstehen und zu helfen. Jeder Vergleich mit einem
politischen Gemeinwesen führt zu Schiefheiten; Ausdrücke wie "Kinderrepublik",
"Selbstregierung", der "Regierungsapparat" der
Schulgemeinde mit "gleichem Stimmrecht" für alt und
jung führen notwendig zu Mißverständnissen. "Regiert"
wird bei uns überhaupt nicht; es ist tatsächlich ein Gemeinwesen
ohne irgendwelches Vorgesetztentum, eine "Schule ohne Direktor" obgleich
ich, selbst wenn ich längere Zeit nicht zum Unterrichten komme, an
chronischer Arbeitsüberlastung leide; um "Rechte" hat man
sich bei uns nie gestritten, für "Gleichberechtigung" von jung
und alt sich nie interessiert. Die zentrale Idee unserer Gemeinschaft ist
eben die der Verantwortung, der Verantwortung jedes einzelnen für
sich selbst und für die Gesamtheit; und die ganze bei uns herrschende
Atmosphäre und alle Einrichtungen zielen darauf ab, die Kinder schon
möglichst früh mit einem starken Verantwortungsgefühl
zu erfüllen, zugleich das Vertrauen der noch hilflosen
und führungsbedürftigen Kinder zu den reiferen Kameraden und zu
menschlich hochentwickelten Persönlichkeiten zu pflegen und so zu
bewirken, daß eine wahre Aristokratie, äußerlich
unkenntlich und auf den verschiedenen Lebensgebieten wechselnd, den stärksten
Einfluß auf die Lebensgestaltung der Gesamtheit wie jedes einzelnen
ausübe.
Kommen wir durchschnittlich alle 14 Tage als Schulgemeinde zusammen,
alle Erwachsenen und Kinder,
natürlich nur bis zu einer gewissen unteren Altersgrenze, und wird
diese sich in parlamentarischer Ordnung vollziehende Zusammenkunft von
einem größeren Knaben oder Mädchen geleitet, so dient
unsere Aussprache der gemeinschaftlichen Klärung dieser und jener großen
und kleinen Fragen unseres Schullebens. Kommt es zu einer gemeinsamen
Willenskundgebung oder drückt sich die Verständigung durch eine
Abstimmung aus, so darf ein achtjähriges Kind ebenso eine Stimme
abgeben wie ein 50jähriger Mann; diese Einrichtung gilt als Symbol
der Auffassung, daß jedes Mitglied der Gemeinschaft, unabhängig
von Alter und Reife, grundsätzlich dem Ganzen in gleichem Maße
verpflichtet ist wenngleich wir uns klar darüber sind, daß der
Grad des Verantwortungsbewußtseins jedes einzelnen abhängig ist
von Lebenserfahrung und Reife.
Die Idee der Verantwortung wirkt sich auf allen Gebieten unseres
Gemeinschaftslebens, selbst in den geringfügigsten Alltäglichkeiten
aus. Nirgends, weder beim Spiel noch bei der Arbeit, gibt es
Aufsichtspersonen; die Disziplin im Unterricht ist Sache der Kinder
selbst, kein Lehrer hat sich darum zu kümmern. Schon mancher
Vertreter der öffentlichen Schule hat uns um unsere Disziplin
beneidet, die eben deshalb so zuverlässig ist, weil sie in den
Kindern von innen heraus entwickelt wird, anstatt von außen her,
durch Respektspersonen, erzeugt zu werden. Wenn nach diesen Darlegungen
noch der Verdacht bestehen sollte, daß die bei uns aufwachsende
Jugend niemals die Kunst des Gehorchens lerne und ihr Sinn für
Autorität unentwickelt bliebe, so sei ausdrücklich betont, daß
wir die ",Entwicklung der Ehrfurcht" zu den grundlegend den
Notwendigkeiten aller Erziehung rechnen, im Sinne der bekannten
Goetheschen Äußerungen in der "Pädagogischen Provinz":
"Wohlgeborene, gesunde Kinder bringen viel mit; die Natur hat jedem
alles gegeben, was er für Zeit und Dauer nötig hätte;
dieses zu entwickeln, ist unsere Pflicht, öfters entwickelt sich's
besser von selbst. Aber eins bringt niemand mit auf die Welt, und
doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten
zu ein Mensch sei: ",Ehrfurcht!" Aus diesem Gedanken Goethes freilich
glauben wir eine besondere Philosophie der Erziehung entwickeln zu sollen,
die ich mit einigen Worten andeuten möchte.
Der Bildungsprozeß, die Entwicklung zum Menschen besteht
in der andauernden Auseinandersetzung des Individuums mit den Mächten
und Kulturgütern seiner Umgebung. Nun liegt es einmal in der Natur
des Menschen, zumal des jungen Menschen, des Kindes, daß diese
Auseinandersetzung viel fruchtbarer und erfolgreicher mit Persönlichkeiten
und personifiziert gefühlten Dingen erfolgt, als mit objektiven
Sachen. Der Erfolg aber dieser Auseinandersetzung hängt ganz und gar
von dem Maße der Ehrfurcht ab, das dem Kinde, dem Menschen eigen
ist; denn Ehrfurcht, im Sinne der Goetheschen Äußerungen, ist
eben die Fähigkeit des jungen Menschen, so an den reiferen Menschen
oder an einen Menschen höherer Art heranzutreten, daß man in
persönliche Berührung und in wirklich fruchtbare
Auseinandersetzung mit ihm kommt. In jedem sogenannten christlichen Hause
befindet sich ein Neues Testament, und auch in Kirchen und Schulen ist
sehr viel von Jesus die Rede; wie wenig aber ist vom Geiste, vom Wesen
Jesu in die Menschen übergegangen, weil es eben nur höchst
selten einem Menschen glückt, in eine fruchtbare Auseinandersetzung
mit der Persönlichkeit Jesu zu gelangen, - während es doch wünschenswert
wäre, daß jeder Mensch sein Leben lang immer wieder in eine
recht heftige Auseinandersetzung mit Jesus käme! - Auch Goethes Werke
beispielsweise stehen in jedem sogenannten gebildeten Hause; aber wie
wenig Goethesche Weisheit ist unter die Menschen gekommen - eben weil sie
den Zugang zu Goethe's Persönlichkeit nicht gefunden haben. Wie nutze
ich einen großen Mann? Wie ist die Ehrfurcht, d. h. die Fähigkeit
zu entwickeln, mit einer Persönlichkeit höherer Art, als ich es
bin, in fruchtbare Auseinandersetzung zu kommen, so daß ich an ihr
wachse und mich bilde? Jeder Mensch hat eine obere und eine untere Grenze
seines Wesens. Mit der unteren berührt er die obere Grenze von
Menschen, die niedrigerer Art sind, als er selbst, und droht, wenn noch
jung und ungefestigt, zu ihnen herabzusinken. Aber mit der oberen Grenze
seines Wesens vermag er die untere Grenze eines Menschen zu berühren,
der höherer Art ist, als er; steht dieser aber zu hoch, so daß
keine Berührungspunkte bleiben, so vermag er vielleicht durch
Mittelspersonen mit ihm in fruchtbare Auseinandersetzung zu gelangen. Habe
ich ein wenigstens ahnendes Verständnis für das Wesen eines
Menschen höherer Art und blicke ehrfürchtig zu ihm auf, so
gerate ich in einen Zustand von Spannung, die sich zur Beunruhigung und
Erschütterung steigern kann und in mir die Sehnsucht erweckt, mich
zur Lebensform jenes höheren Menschen zu entwickeln. Diese Sehnsucht
ist nicht gleichbedeutend mit der Liebe, wenngleich letztere einen sehr
wirksamen Faktor in aller höheren menschlichen Entwicklung bilden
kann. Jeder wirkliche Erzieher wird vom Kinde als ein Mensch höherer
Art empfunden; seine Wirksamkeit hängt ganz und gar davon ab, ob es
ihm gelingt, im jüngeren Menschen die soeben beschriebene Spannung zu
erzeugen und somit sein Organ für höhere und ewige Werte zu
entwickeln. -
Eine pädagogische Kolonie, die in herrlicher deutscher Landschaft
liegt und ihre Jugend in erster Linie in den Reichtum deutscher Kultur
einführt, stellt natürlich eine deutsche Schule dar.
Wenn wir aber die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft - als den
beiden Brennpunkten der Ellipse aller kulturellen Entwicklung - tagtäglich
erleben, wollen wir, soweit dies in unserem kleinen Rahmen möglich,
unsere Jugend auch die auf das Verhältnis der Nation zur Menschheit
erweiterte Spannung praktisch erleben lassen. So besteht die Schar unserer
Kinder annähernd zu einem Fünftel aus Ausländern; und in
unserem pädagogischen Kollegium befinden sich zur Zeit Mitarbeiter
aus der Schweiz, Österreich, Frankreich, England, Nordamerika,
Indien. Analog ist unsere Stellungnahme zu der Differenzierung der
Religionen und Konfessionen; wir lieben es, Kinder aus allen religiösen
und konfessionellen Lagern zu haben, und unsere Schule als solche bemüht
sich einer sozusagen überkonfessionellen Einstellung. Der frühere
preußische Kultusminister Becker hat kürzlich in einem auch als
Buch erschienenen Vortrag aus einer genialen Schau "Das Problem in der Kulturkrise
der Gegenwart" skizziert; gegen Ende der Schrift sagt er: "Nur
wenn der Mensch im anderen Menschen, welcher Nation, Klasse oder Religion
auch immer, das Ewige und Göttliche anerkennt, das er in sich selbst
erlebt und für das er den Respekt der Mitmenschen fordert, dann ist
die seelische Voraussetzung geschaffen, auf der der Tempel einer neuen
Menschheit sich erheben kann. Aus der Zusammenarbeit der Völker
kann eine internationale Organisation entstehen, ein internationaler
Geist aber aus nur einer neuen Gesinnung zwischen Mensch und Mensch. Man
muß den Mut aufbringen zu einer seelischen Haltung, die jedem andern
das zubilligt, was man für sich selber fordert. Der Wunsch, den
internationalen Gedanken zu pflegen, führt an die Basis der
nationalen Erziehung Überhaupt. Nur von hier aus kann, so utopisch es
zunächst erscheinen mag, etwas wirklich Fruchtbares geschaffen
werden. jede nationale Erziehung muß der Überbrückung und
Versöhnung der Klassengegensätze, wie der religiösen
Toleranz dienen. Wird diese Erziehung - und sie muß es, um wirksam
zu sein - vom rein Menschlichen ausgehen, so dient sie damit
zugleich auch der Völkerversöhnung."
Um ein in seinen wesentlichen Zügen vollständiges Bild unserer
LebensGemeinschaft zu geben, bedarf es noch einer Schilderung unserer Arbeitsorganisation,
die zu verwirklichen sucht, was Kerschensteiner in seiner von Goetheschem
Geiste erfüllten Schrift fordert: "Das Grundaxiom des
Bildungsprozesses und seine Folgerungen für die Schulorganisation."
Eine Bildungsstätte im Sinne Goethes kann, ihrem Programme nach,
selbstverständlich nicht auf eine der historisch entwickelten
Schulgattungen festgelegt sein; auch existiert bei uns kein für
die Gesamtheit gültiger Lehrplan, für keinen Schüler
ein Jahrespensum, und die Einteilung der Schule in Klassen ist völlig
beseitigt. Aufgabe unseres Lehrerkollegiums ist es, dafür zu sorgen,
daß den Kindern aller Altersstufen und Veranlagungsformen reichliche
Betätigungsmöglichkeit gewährleistet ist auf allen
Gebieten, nicht nur den üblichen theoretischen, sondern auch
praktischen, künstlerischen, sozialen, und was sonst den Bedürfnissen
kindlichen und jugendlichen Lebens entspricht. Diesen Betätigungsmöglichkeiten
gegenüber besteht für die Kinder grundsätzlich völlige
Wahlfreiheit, von der freilich die jüngeren, noch kindlichen
Schüler und Schülerinnen einen nur beschränkten Gebrauch
machen; gerne lassen sie sich von uns Erwachsenen, mit denen sie naturgemäß
in nahem, mehr oder weniger freundschaftlichem Kontakt stehen, beraten und
führen. Wichtig ist vor allem, daß die Kinder überhaupt Wünsche
äußern, sich bald diesem, bald jenem Arbeitsgebiet mit voller,
vielleicht begeisterter Hingabe widmen; bewußte Pflege einseitiger
Veranlagungen wird von uns unterstützt.
Niemals haben wir einen bedauerlichen Mißbrauch der Wahlfreiheit
beobachtet, überall aber eine beglückende Entwicklung
hingebender Arbeitsfreudigkeit und tiefgehender sachlicher Interessen.
Ein Kind pflegt bei uns nur auf zwei Gebieten zu gleicher Zeit zu
arbeiten, manchmal nur auf einem einzigen, selten auf drei oder mehr
Gebieten mindestens einen Monat lang; zuweilen werden dieselben Gebiete
mehrere Monate hindurch beibehalten. Unter den Kindern, die dasselbe
Arbeitsgebiet gewählt haben, treten diejenigen, die sich zufällig
auf demselben Niveau befinden, zur Arbeitsgemeinschaften zusammen, und so
entstehen wirklich homogene Gruppen, die manchmal Jahre hindurch beisammen
bleiben.
Als im Laufe der Entwicklung die Gefahr auftrat, daß diese Gruppen
zu stabil würden, zur Erleichterung der Organisation auch auf
Arbeitsgebiete angewandt würden, denen sie nicht entsprächen,
und somit sich dem Charakter der Schulklassen näherten, hielten wir
Erwachsenen mit den reifsten Schülern eine Reihe von Konferenzen ab,
in denen wir uns sehr eingehend mit dem Daltonplan auseinandersetzten
(durch Helen Parkhursts Besuch angeregt); die Folge war eine Auflockerung,
zum Teil Auflösung der Gruppen zugunsten einer stärkeren
Betonung der selbständigen, individuellen Arbeit.
Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß das Arbeitsschulprinzip
in allen seinen praktischen Abwandlungsmöglichkeiten bei uns
durchgeführt wird. Auch wird man bei uns nicht die üblichen
Schulklassenzimmer erwarten. Jedem Arbeitsgebiet ist ein Raum, mehr einem
Laboratorium oder einer Werkstatt oder einer Bibliothek gleichend,
gewidmet; jedes Kind sucht also, nach jeweiligem Bedürfnis, das
Geschichtszimmer oder das Altsprachenzimmer oder das physikalische
Laboratorium auf, wo es alle Bücher, Bildersammlungen, Apparate und
sonstigen Lehrrnittel des betreffenden Gebietes vorfindet; die
Verantwortung für die in jedem Arbeitsraum erwünschte Ordnung trägt
natürlich ein Schüler. In den letzten Jahren vor dem Abiturium
berücksichtigt der Schüler die offiziellen Anforderungen
derjenigen Schulgattung, die annähernd seinem individuellen
Bildungsweg entspricht; dann legt er die Reifeprüfung an der
entsprechenden öffentlichen Schule ab. Obgleich wir mit diesen
Extraneerprüfungen sehr gute Erfahrungen machten, haben wir uns,
einer Anregung des hessischen Kultusministeriums folgend, soeben
entschlossen, in Zukunft unsere eigene Reifeprüfung, aus der
Goetheschen Bildungsidee heraus ganz frei unseren Auffassungen
entsprechend gestaltet, in der Odenwaldschule selbst abzuhalten. -
In der Aula des Hauses, das von der Bergeshöhe hinab ins Tal und
fern in die weite Rheinebene schaut, ist die Büste Platons
aufgestellt als des unerschöpflichen und unversiegbaren Urquells
aller Kultur des Abendlandes. Die übrigen fünf Hauptgebäude
der Odenwaldschule sind an hervorragender Stelle mit den Bildnissen
Goethes, Herders, Fichtes, Schillers und Wilhelm von Humboldts geschmückt
- nicht zur Dekoration, sondern weil wir uns zu ihnen als unseren Heroen
bekennen. Die Auswahl mag befremden; es kommt eben auch hier der
subjektiv-persönliche Charakter der Erziehung zum Vorschein. Meiner
persönlichen Artung nach habe ich zu der Überzeugung kommen müssen,
daß gerade diese fünf Männer uns noch auf absehbare Zeit
das Wichtigste über Menschenbildung zu sagen haben. Ihre Jahrestage,
an deren würdiger Vorbereitung Kinder und Erwachsene viele Wochen
hindurch beteiligt sind, werden in besonderen Festen begangen; durch
diese, wie auch dadurch, daß immer wieder reifere Schüler und
Schülerinnen sich für längere Zeit ein Spezialstudium aus
den im allgemeinen weniger bekannten und zugänglichen Persönlichkeiten,
wie Herder und Wilhelm von Humboldt, machen, wird bewirkt, daß
unsere Heroen lebendig vor unseren Augen erstehen und die Atmosphäre
unserer Gemeinschaft beeinflussen. Hierbei interessiert uns beispielsweise
Humboldt, der große Unbekannte, nicht in erster Linie als der Begründer
der vergleichenden Sprachwissenschaft noch als der feinsinnige
Kunstgelehrte, sondern als die lebendige Verkörperung der Maxime "genoio
oios essi" in der Gestaltung seines Lebens. Ob er nun beschaulich und
in gelehrten Studien ein Privatleben führte oder das preußische
Bildungswesen leitete oder als Gesandter in Rom oder England oder als
Vertreter Preußens auf dem Wiener Kongreß tätig war: alle
Lebensumstände und jede Berufstätigkeit stellte er bewußt
in den Dienst der Aufgabe, seine Individualität zu höchster
menschlicher Vollendung zu entwickeln. Als er als 24jähriger Jüngling
aus dem kaum begonnenen Staatsdienste ausgeschieden war und sich mit
seiner jungen Frau auf seine thüringischen Güter ins Privatleben
zurückgezogen hatte, machte ihm sein Freund Forster Vorwürfe und
forderte, ein Mann habe die Pflicht, ins Große und Ganze zu wirken.
Humboldt erwiderte hierauf:
"Jeder Mensch muß in das Große und Ganze wirken; nur
was dies Große und Ganze genannt wird, darin liegt meinem Gefühl
nach so viel Täuschung. Mir heißt in das Große und Ganze
wirken: auf den Charakter der Menschheit wirken; und darauf wirkt jeder,
sobald er auf sich und bloß auf sich wirkt. Der wahren Moral erstes
Gesetz: Bilde dich selbst! und erst ihr zweites: Wirke auf andere durch
das, was du bist!" Und an einer anderen Stelle desselben Briefes: "Man
sei nur groß und viel; so werden die Menschen es sehen und nützen;
man habe nur viel zu geben, so werden die Menschen es genießen, und
der Genuß wird der Vater neuer Kraft sein. Wenn unter uns so wenig
geschieht, so ist es nicht, weil unsere Lagen und Verhältnisse uns
hinderten, zu wirken, sondern weil sie uns hindern, zu werden und zu sein."
Vielleicht berühren diese Äußerungen einer
idealistischen Lebensauffassung wie Klänge aus einer fernen, längst
entschwundenen Welt, vielleicht rufen sie eine skeptische Stimmung hervor.
In der bereits erwähnten Schrift Dr. Beckers wird die Krisis der
gegenwärtigen Kultur und der bisherigen Bildungsgrundlagen zu
geradezu erschütterndem Bewußtsein gebracht; danach heißt
es: "Der charakteristische Unterschied zwischen der alten und neuen Pädagogik
ist der, daß wir den jugendlichen Menschen nicht formen und
gestalten nach einem uns vorschwebenden Bilde, und möge es noch
so hoch und herrlich erscheinen, sondern daß wir den Menschen wachsen
lassen und ihm nur den Weg zeigen, auf dem er in eigener Verantwortung
und selbsttätig die hohen Ideale oder Kenntnisse ergreifen lernt, die
wir ihm in eigener Selbstzucht oder ansteckender Begeisterung vorleben.
Gewiß wird die ältere Generation darüber den Kopf schütteln
und warnend auf das Motto von "Wahrheit und Dichtung" verweisen,
aber wo wollen wir bei der geschilderten Geisteslage der Gegenwart den Mut
hernehmen, ein bestimmtes Quantum Wissen jugendlichen Köpfen
einzudrillen und sie damit vielleicht für ihr ganzes künftiges
Leben nicht zu bilden, sondern zu verbilden? ... Das letzthin
Entscheidende ist die Befreiung der schöpferischen Kraft, die
irgendwie in jedem Menschen schlummert. Wir erstreben nicht Wissen,
sondern Leistung; wir glauben nicht an die Macht des Wissens, sondern an
die Macht der Persönlichkeit. Sie wird um so entscheidender, je stärker
sich unser Leben mechanisiert und differenziert und je mehr Masse wir zu
Gemeinschaften zu formen haben."
Ich erinnere ferner an die gründliche philosophische Untersuchung,
in der Kerschensteiner im Maiheft [1930] der Zeitschrift "Die
Erziehung" "Das Problem der Lebensnähe unserer Schulen"
erörtert; und im Maiheft [1930] der Zeitschrift, die von Schülern
der Odenwaldschule herausgegeben und selbst gedruckt wird, veröffentlicht
Gerhard Fuchs, der in unserer Schule aufgewachsen ist und seit Jahren als
stud. jur. in Leipzig lebt, ergreifende Klagen über die
Schwierigkeiten des Überganges aus der Odenwaldschule in die
sogenannte wirkliche, große Welt. Nur einige charakteristische Sätze
darf ich anführen: "Solange man in der Odenwaldschule lebt,
erscheint einem, gefangen von der Intensität ihres Lebens, nur das
wichtig, was unmittelbar mit ihr im Zusammenhang steht, was in ihr selbst
vorgeht, woran man selbst in diesem Augenblick, jetzt und hier, mit allen
seinen Betätigungsmöglichkeiten beteiligt ist. Hierin liegt die
Kraft der Odenwaldschule, die Stärke ihrer Erziehungswirkung, aber
auch zugleich ihre Gefahr ... Der Abgang von der Odenwaldschule bedeutet
Abbruch eines in den menschlichen Bindungen wie in der Arbeit und der
geistigen Auseinandersetzung außerordentlich intensiven Lebens. Die
Verbundenheit mit den geistigen Inhalten der Odenwaldschule wird abstrakt,
da die unmittelbare Berührung mit den Einrichtungen und Menschen, die
sie verkörpern, fehlt . . . Der Abgehende muß sich neue
menschliche Beziehungen, neue Betätigungsmöglichkeiten schaffen.
Er muß sich einen Ort in der menschlichen Gesellschaft suchen, der
ihm, seiner geistigen Haltung und seiner individuellen Befähigung
nach, Betätigungsmöglichkeit ist. Er muß sich einen
geistigen Ort schaffen, von dem aus er die Erscheinungen des heutigen
Lebens beurteilen kann, will er sich nicht den Vorurteilen seiner zufälligen
Umgebung ausliefern. Er muß sich in den Lebensprozeß der
gegenwärtigen Gesellschaft eingliedern - was nicht anpassen heißt
-, um selbst Lebensmöglichkeit zu haben. Das bedeutet eine geistige
Auseinandersetzung mit den Einrichtungen der Zeit: Staat, Kirche,
Wirtschaftsordnung, sozialer Gliederung, mit ihren großen geistigen,
kulturellen, politischen, sozialen Bewegungen. Es bedeutet zugleich eine
Reihe praktischer Entscheidungen, von denen die wichtigste die Berufswahl
ist. Allen diesen geistigen und praktischen Entscheidungen, die bestimmend
für sein ganzes Leben sein können, also dem Aufbau seines
Lebens, steht der abgehende Odenwaldschüler mit dem alleinigen Rüstzeug
einer idealistischen Weltanschauung gegenüber. Ihm fehlt eine
wirksame, mehr als theoretische Kenntnis der gegenwärtigen
Gesellschaft . . . Die Odenwaldschule ist ein Versuch einer reinen
Verwirklichung bestimmter Anschauungen über Erziehung und
Menschenbildung, der Versuch einer Verwirklichung bestimmter letzter und
allgemeiner Ideale im Zusammenhang von Menschen. Sie unternimmt diesen
Versuch auf einem materiell verhältnismäßig gesicherten
Boden, in einem Raum, der einen Idealfall von Freiheit und Ungebundenheit
darstellt, in Freiheit von ungewollten äußeren Einflüssen,
losgelöst von den kulturelllen, sozialen, politischen Wirklichkeiten
der Gegenwart, unbelastet durch die objektiven Tatsachen alter,
kultureller Tradition. Sie kann darum in Freiheit aufbauen, ohne erst
entleerte, darum unwahr und unfruchtbar gewordene Einrichtungen zerstören
und gegen deren Verteidiger kämpfen zu müssen. Sie wird darum
nicht berührt von dem in der Gegenwart vor sich gehenden Untergang
einer Kultur. Sie wird auch nicht lebensnah berührt von den Anzeichen
einer neu aufsteigenden Kultur ... Muß nicht eine
Erziehungsgemeinschaft in engstem Zusammenhang mit der Gegenwart stehen,
um in dieser Zeit lebensfähige Menschen in dem angedeuteten idealen
Sinne hervorzubringen? Oder gibt es eine ideale ErziehungsGemeinschaft,
die gleich ist für alle Zeiten, weil es einen für alle Zeiten gültigen
Erziehungsgrundsatz gibt? ... Die Lösung kann", so schließt
der sehr ehrlich geschriebene Aufsatz, "nur gefunden werden in der Lösung
des Problems: zeitgebundene oder zeitlose Erziehung. - So muß ich
denn am Ende meiner Ausführungen eingestehen, daß ich dieses
Problem nicht lösen kann, daß ich mich zwischen beiden Möglichkeiten
nicht entscheiden kann angesichts der Schwierigkeiten des Übergangs
auf der einen und der Tatsache Odenwaldschule auf der anderen Seite. Ich
muß eingestehen, daß ich keine Abhilfe für jene
Schwierigkeiten der alten Kameraden weiß, und muß mich begnügen,
die Schwierigkeiten genannt und das Problem aufgezeigt zu haben. - Denn
was bedeutet es denn, wenn ich Zeitverbundenheit, Zusammenhang mit den
Problemen der Gegenwart verlange von einer Welt solcher
Eigengesetzlichkeit, wie es die Odenwaldschule ist, von einer
Erziehungsarbeit, deren oberster Grundsatz der Glaube an die Idee, an die
Kraft der Idee im Menschen, das heißt: Glaube an den Menschen ist?!"
-
Hierauf erwidert unser früherer Schüler cand. phil. Walter
Solmitz (Hamburg) in der Juli-August-Nummer [1930] unserer
Schulzeitschrift: "... G. F.'s Aufsatz widerlegt sich selbst: er
zeigt, daß die Erziehung der Odenwaldschule doch nicht falsch sein
kann und, hier jedenfalls, erreicht hat, was sie sich vorgesetzt hat. So -
eben so, wie es Gerhard Fuchs tut - soll man fragen, soll man
fragen müssen, wenn man aus der Schulzeit ins Leben tritt";
gerade eben dies Verhältnis der Idee zur Wirklichkeit soll dem
beginnenden Erwachsenen ein brennendes und notwendiges Problem sein;
der Irrtum des Aufsatzes besteht nur darin, daß er als Schuld und
Mangel der Odenwaldschule empfindet, was er ihr als besonderes Verdienst
anrechnen sollte ... Sehr ernst ist auch die Frage der Berufswahl,
die Gerhard anschneidet. Wie soll ein Kind, das abgetrennt von allen
normalberuflich tätigen Menschen, in einem sozial luftleeren Raum
aufwächst, mit allen sachlichen und menschlichen Umständen
vieler Berufe ganz unbekannt, plötzlich sich selbst für einen
Beruf entscheiden können? - Dieser Einwand gegen eine Erziehung auf
dem Lande wäre tatsächlich sehr schwerwiegend - wenn nicht
die ganze These von dem "luftleeren Raum", von dem "rein
idyllischen" Charakter der Odenwaldschule auf einer sehr irrigen
Abstraktion beruhte. Was tatsächlich in der Odenwaldschule vorgeht
und wie dort gelebt wird, das entspricht nach meinen Erfahrungen jenen
teils klassenpolitisch, teils sentimentaNromanhaft oder sonstwie
verkehrten Vorstellungen von ihr in keiner Weise. - Man braucht z. B. nur
daran zu erinnern, daß die Ferien, in denen die Odenwaldschüler
meist in Städten leben, die Wanderungen und Schulreisen durchaus mit
zum "Programm" der Ausbildung gehören. Und vor allem ist es
irreführend zu sagen, daß, weil die Odenwaldschule auf dem
Lande liege, ihre Einwohner, an der näheren Fühlungnahme mit
"anderen" Menschen gehindert, gänzlich "isoliert" leben müssten.
Die erwachsene und jugendliche Bevölkerung der Odenwaldschule setzt
sich erfahrungsgemäß zusammen aus psychologisch, soziologisch
und auch "weltanschaulich" so viel verschieden=, ja gegensätzlich
gearteten Menschen, wie man und wie besonders ein Kind sie nicht oft in
seiner Umgebung und zu seiner Verfügung findet. Das Milieu der
Odenwaldschule ist so "gemischt", wie es kaum das Milieu eines
Elternhauses sein dürfte - dazu dauernd erweitert durch die vorübergehende
Anwesenheit von Eltern, Gastlehrern, "Interessierten"
verschiedenster Provenienz . . . Die strenge idealistische Forderung der
inneren Selbständigkeit, der Freiheit, will das Leben des Odenwaldschülers
nicht erleichtern, sondern erschwert es mehr als irgendeine noch so
strenge Lebensregelung. Die Forderung der organisch-harmonischen
Einheitlichkeit des persönlichen Lebens, die Forderung der stets
erneuten Besinnung auf die Idee provoziert die Problematik des eigenen
Daseins. Die Gemeinschaftserziehung schärft das Organ für die
Fragen sozialen Zusammenlebens. Aber die humanistisch orientierte Bildung
entwickelt die Möglichkeiten des einzelnen, mit seiner Selbsttätigkeit
je nach Veranlagung und Begabung fertig zu werden; in theoretischer
Hinsicht veranlaßt sie ihn, einzelne Fragen auf die allgemeinen
menschlichen Probleme zu beziehen und zu bemerken, daß die
sogenannten "dringenden Gegenwartsfragen unserer Zeit" die
Menschheit nicht erst seit heute und gestern beschäftigen." ,Die
Odenwaldschulerziehung versucht also nicht, ihrem Zögling die von
Gerhard beklagten Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen, sondern im
Gegenteil sie ihn, in der Besinnung auf die Idee, erst recht sehen zu
lehren - und seine Fähigkeiten auszubilden, mit denen er vielleicht
einmal ihrer Herr werden kann. Sie versucht, ihre Schüler in jene
unausweichlichen Fragestellungen zu zwingen - und bei Gerhard jedenfalls
ist es ihr vortrefflich gelungen. In dieser Situation läßt sie
ihren Schüler, mit voller Absicht, allein." -
"Nach allem
Gesagten kann Gerhards Fragestellung: "Zeitlose oder zeitgebundene
Erziehung?" in dieser Form nicht mehr recht sinnvoll erscheinen. Die
Bildungsidee der Odenwaldschule, selbstverständlich historisch
zeitbedingt, ist in ihrem Idealismus auch wiederum auf die Zeit
eingestellt, wenn vielleicht auch mehr auf die Zukunft als auf die
Gegenwart. Trotzdem wird mit Gerhards Frage vielleicht von ferne an jene
Probleme gerührt, die nicht die Verwirklichung, sondern die die inneren Schwierigkeiten des idealistischen Erziehungsgedankens betreffen ..."
Anfang Oktober 1930 wurde diese Aussprache mündlich fortgesetzt.
Zur Feier des 20jährigen Bestehens der Odenwaldschule und des 60.
Geburtstages ihres Gründers waren gegen 150 fürhere Zöglinge,
teils im Berufsleben stehende Männer und verheiratete Frauen,
hierhergekommen. Nach dem eigentlichen Festtage rangen wir drei Tage lang
miteinander um die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, und die früheren
Mitglieder unserer Schule wurden sich ihrer Zugehörigkeit zu uns von
Stunde zu Stunde stärker bewußt. Es war ergreifend zu bemerken,
daß Menschen, die vor dem Kriege oder in den Kriegsjahren als Schüler
hier gelebt hatten und seitdem nicht mehr hier aufgetaucht waren, noch
tief verwurzelt schienen in der Welt unserer Schule.
Ich wurde bestärkt in der Überzeugung: Je chaotischer sich die
heutige Welt in kultureller Hinsicht gestaltet, desto dringender brauchen
unsere Kinder den Mikrokosmos einer wirklich organischen, einheitlichen
LebensGemeinschaft. Trotz der bestehenden Kultur- und Bildungskrisis ist die
seelische Struktur der Kinder heute noch genau dieselbe wie vor zwanzig
Jahren. Wenn wir freilich - was wir sehr ungern und nur in seltenen
Ausnahmefällen tun - 17- bis 18jährige Jünglinge oder Mädchen,
die in der Großstadt aufgewachsen sind, noch bei uns aufnehmen, so
scheinen sie sich hauptsächlich für Technik und Sport zu
interessieren, können absolut nicht verstehen, daß wir uns in
zigarettendunstfreier Atmosphäre wohlfühlen, und fragen
ernsthaft, ob wir unsere Gebäude anstatt nach Goethe, Schiller usw.
nicht besser nach zeitgenössischen Schriftstellern benennen sollten.
Kommen aber Kinder - von höchstens 12 Jahren - zu uns, so
zeigen sie sich vom ersten Tage an völlig empfänglich für
die Atmosphäre unserer Gemeinschaft, erglühen allmählich für
Schillersche Dichtung und leben später, als heranwachsende junge
Menschen, mit Selbstverständlichkeit jahrelang in der Welt Goethes;
viele von ihnen lernen mit größter Freudigkeit und Gründlichkeit
Griechisch und wachsen in die Überzeugung hinein, daß der
gewaltige Strom europäischen Geistes, und besonders des deutschen, in
Hellas entspringt, und unsere größten Heroen aus Homer,
Sophokles, Platon lebten. Unter zwei Voraussetzungen werden die
Landerziehungsheime in Gegenwart und Zukunft eine kulturelle Bedeutung
haben. Nach Gesinnung, Organisation und Arbeitsmethode müssen sie
Bildungsstätten im Sinne Goethes darstellen, aus der Bildungsidee
Goethes lebend, den Goetheschen Menschen vor Augen. Zugleich müssen
sie sich der Mission bewußt sein, die Fichte ihnen aufgetragen hat:
an die Macht der von Liebe erfüllten Erziehung als die stärkste
Macht zwischen Himmel und Erde glauben, die Jugend zu tapferen Kämpfern
heranwachsen lassen, die ihr Leben lang, allen irdischen Gewalten zum
Trotz im Namen wahren Menschentums gegen die Übel der Zivilisation
streiten, im Geiste ihres großen Propheten Fichte!