Paul Geheeb: Die Odenwaldschule im Lichte der Erziehungsaufgaben der Gegenwart. Vortrag, gehalten in der Volkshochschule in Halle a.S. am 2. Juni 1930. Übertragen von Martin Näf (Basel) und Dietmar Haubfleisch (Marburg). Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1999/0013.html - Der Vortrag wurde erstmals (im Vortragsstil) veröffentlicht in: Aufsätze aus dem Mitarbeiterkreis der Odenwaldschule zu ihrem zwanzigjährigen Bestehen (Paul Geheeb zum 60. Geburtstag), Oberhambach: Waldkauzdruckerei der Odenwaldschule, 1930, S. 73-89; in veränderter (u.a. den Vortragsstil aufgebender) Fassung wieder in: Die Pädagogische Hochschule. Wissenschaftliche Vierteljahrsschrift des Badischen Lehrervereins, Jg. 3 (1931), S. 11-32; erneut (mit leichten Abweichungen gegenüber der Fassung von 1931) wieder in: Erziehung zur Humanität. Paul Geheeb zum 90. Geburtstag. Hrsg. von Mitarbeitern der Odenwaldschule, Heidelberg 1960, S. 131-154; gekürzt wieder in: 75 Jahre Odenwaldschule. Programmheft (=OSO-Hefte. N.F., 9), Heppenheim 1985, S. 13-33 (die elektronische Fassung 1999 folgt der Veröffentlichung von 1960).



Die Odenwaldschule im Lichte der Erziehungsaufgaben der Gegenwart

Vortrag von Paul Geheeb
gehalten in der Volkshochschule in Halle a.S.
am 2. Juni 1930.

Übertragen von Martin Näf (Basel) und Dietmar Haubfleisch (Marburg)



Die Odenwaldschule, als Äußerung einer fast 1 1/2 Jahrhunderte alten kulturellen Bewegung, als deren Ahnherren Goethe und Fichte anzusprechen sind, sucht zur Lösung der uns von der Gegenwart gestellten Erziehungsaufgaben in bescheidenem Rahmen beizutragen.

"Die größte Angelegenheit des Menschen ist, zu wissen, wie er seine Stelle in der Schöpfung gehörig erfülle, und recht zu verstehen, was man sein muß, um ein Mensch zu sein", äußert Kant einmal. Höchster Zweck der Erziehung und letztes Ziel aller Kultur ist die Entwicklung zum Menschen, zum Menschen im vollen und höchsten Sinne; darüber sind die großen Weisen aller Zeiten und Völker miteinander einig. Man wird nicht von mir erwarten, daß ich sage, was ein Mensch sei; niemand vermöchte dies zu erschöpfendem Ausdruck zu bringen; hat doch ein jeder von uns sein Leben lang sich mit den von den großen Menschen aller Zeiten aufgestellten Idealen des Menschentums auseinanderzusetzen, um sich ein annäherndes Bild des Menschen zu schaffen und es zu verwirklichen.

Wenn es nun schon, einfach biologisch gesehen, im Interesse der menschlichen Rasse liegt, alle Kräfte aufzubieten, um den Menschen in möglichster Vollkommenheit zu entwickeln, so kommen immer wieder Zeiten der Entartung, in denen das Menschentum in der Zivilisation zu versinken droht. Nicht nur durch die Nachtseiten der Zivilisation mit all ihrem physischen und moralischen Elend, sondern auch dadurch, daß Institutionen wie Schule und Kirche, die ursprünglich der Menschenbildung dienten, zeitweise der Veräußerlichung und Verknöcherung, oder etwa das geistige Leben einem einseitigen Intellektualismus anheimfallen, wird die Entwicklung zum Menschen gefährdet, wenn nicht geradezu zerstört. Und wie in den Fluten ein Ertrinkender nach Rettung schreit, so ruft in solchen Zeiten das Volk nach Menschen zur Rettung des Menschentums, und die großen Menschen von Platon und Sophokles und den alt- und neutestamentlichen Propheten bis auf Goethe stehen auf, um das Menschentum zu retten.

Es würde zu weit führen, kulturhistorisch darzulegen, wie im deutschen Volke im Laufe des 18. Jahrhunderts die angstvolle Sorge, daß das Menschentum in der Zivilisation versänke, ihren Höhepunkt erreichte, so daß immer leidenschaftlicher der Ruf ertönte: Nicht Priester noch Gelehrte, nicht Beamte noch zukünftige Handwerker brauchen wir, sondern: Menschen! Da erscholl Rousseaus Ruf "Zurück zur Natur!" - nicht im Sinne einer Abkehr von der Kultur; denn Rousseau dachte nicht daran, sich mit seinem Zögling in die Höhle eines Urwaldes zurückzuziehen, sondern rief auf zu wahrem Menschentum, und wir wissen, wie Kant und Goethe von Rousseaus "Emile" erschüttert und erfüllt waren und der junge Pestalozzi das damals in der Schweiz verbotene Buch mit glühenden Wangen heimlich verschlang. Da wurde die Magna Charta neuer Erziehung entrollt in Goethes "Wilhelm Meister", der die kulturelle Bewegung einleitete, in der wir heute mitten drinstehen, und die, im Banne Goethes stehend, des größten Weisen, der auf deutscher Erde gewachsen ist, eine Erziehungsauffassung geschaffen hat, die unter Erziehung weniger die Tätigkeit des älteren, reiferen Menschen versteht, der bemüht ist, die Jugend zu beeinflussen, zu leiten und zu unterrichten, als vielmehr den Entwicklungsprozeß, in dem sich jeder Mensch von der Geburt bis zum Tode, den Prozeß andauernder, zunächst unbewußter, allmählich bewußt werdender Auseinandersetzung, in der sich jedes Individuum mit seiner Umgebung, mit Menschen und Dingen, mit Natur und Kultur befindet, die empfangenen Eindrücke teils fruchtbar verarbeitend und als Bildungsstoffe zum Aufbau der eigenen Individualität assimilierend, teils aber ablehnend. Diese Erziehungslehre beginnt nicht mit einer philosophischen Erörterung der Kulturgüter und ihres schlechthinnigen Wertes als Bildungsgüter für die Jugend oder mit der Aufstellung von Erziehungszielen, die von außen an die Jugend herangebracht werden, auch nicht mit einem Kapitel über Zucht und ein System der Strafen, noch mit der Überlegung, wie ein Erzieher es anfangen müsse, um seinen Zöglingen Autorität zu werden und sie fest in der Hand zu behalten und ihnen möglichst viele Kenntnisse beizubringen. Vielmehr gehen wir vom Kinde aus, und im Vordergrund des Interesses steht uns das Studium der unerschöpflichen Fülle der kindlichen Kräfte und Anlagen und des unendlichen Reichtums der Individualitäten. Was können wir dazu tun, daß alle diese Anlagen und Kräfte sich möglichst stark und schöpferisch entfalten zur Totalität der harmonischen Persönlichkeit? Wie läßt sich jeder Anlaß zur Verkümmerung und Verbildung vermeiden? Wie muß die Umgebung des Kindes eingerichtet sein, damit das Bedürfnis jedes noch gesund empfindenden Kindes nach Ordnung und Disziplin ebensosehr befriedigt werden, wie das zur vollen Entwicklung seiner Spontaneität und Aktivität nötige Maß von Bewegungsfreiheit vorhanden sei - Freiheit im Sinne des Wortes Paul de Lagardes: "Frei ist nicht, wer tun kann, was er will, sondern wer werden darf, was er soll!" - "soll" im Sinne der seiner Individualität innewohnenden Gesetze. Wie kann der jedem Kinde von Geburt innewohnende Trieb, sich in Spiel und Arbeit zu betätigen und seine Kräfte zu entwickeln und zu üben, zu einer das Kind selbst und seine Umgebung beglückenden Stärke und Stetigkeit gesteigert werden, so daß es überhaupt keine faulen Schüler gäbe? Wie kann die Schule, anstatt zu einem Orte des Seufzens und der Qual, zu einer Stätte der Freude gestaltet werden, mit der der Erwachsene später seine frohesten Kindheitserinnerungen verbindet?

Oberstes Erziehungsziel und höchster Zweck aller Kultur ist uns die Entwicklung zum Menschen im vollen Sinne des Wortes; dieses Ziel ist uns noch wichtiger als alle Fragen nach Stand und Beruf, Konfession und Nation und Rasse; und diese Aufgabe, diese Lebensbestimmung ist allen Menschen gemeinsam. Ihr gegenüber steht eine Aufgabe, der ein weiteres Kapitel unserer Erziehungslehre gewidmet ist, indem wir mit Goetheschen Augen die unendliche Fülle der Individualitäten schauen und uns an der Mannigfaltigkeit der individuellen Formen freuen. Von allen Wundern der an Wundern schier unerschöpflich und im strengen Sinne unendlich reichen Schöpfung ist das größte und wunderbarste: Die Natur streut täglich eine verschwenderische Fülle von Keimen aus, und nicht eins der Geschöpfe, die sich aus ihnen entwickeln, ist einem andern völlig gleich; von den Tausenden von Kindern, wie sie auf der Erde täglich aus dem Schoße der Mutter kommen, ist nie eins dem andern durchaus gleich. je jünger die Kinder, desto mehr pflegen wir uns an ihnen zu freuen; dies beruht auf unserem Entzücken über die Fülle des Originellen und Individuellen. Dann ist eine schlechte Erziehung, die auf Unterdrückung und Vergewaltigung hinausläuft, bemüht, zu nivellieren (häufig beruht dies auf mißverstandenem Sozialisierenwollen), der Nachahmungstrieb spielt eine üble Rolle, die Leute werden immer gleichartiger und langweiliger (was sie oft symbolisch durch ihre Kleidung, zumal die männliche, auszudrücken suchen) und entwickeln sich zu kümmerlichen Karikaturen dessen, was sie ihrer individuellen Bestimmung nach hätten werden sollen. Die menschliche Kultur aber hätte das stärkste Interesse daran, den unendlichen Reichtum der Individualitäten zu erhalten und aufs kraftvollste zu entwickeln. Die positive, besondere Aufgabe, die sich von hier aus jedem einzelnen stellt - im Gegensatz zu der allen gemeinsamen, von der vorhin die Rede war -, läßt sich kurz in drei Worten des alten griechischen Weisen Pindar ausdrücken: genoio ojos essi, "Werde, der du bist!", entwickle dein individuelles Selbst zu höchstmöglicher Vollkommenheit! Werde ein Selbst, werde das Selbst, das auf der ganzen Welt nur du, unersetzlich und unvergleichlich, durch kraftvolle Entwicklung der dir innewohnenden Individualität vermagst! Dies ist das höchste Erziehungsziel, das dem einzelnen gesteckt ist und dem er - im Einklang mit der Lösung jener allen gemeinsamen Aufgabe der Entwicklung zum Menschen - zuzustreben hat.

Das Prinzip der Entwicklung der Individualität zu möglichst vollkommener Ausprägung hat sich in der Geschichte der Pädagogik der letzten hundert Jahre als äußerst fruchtbar erwiesen; konsequenterweise führt es zur Forderung der Autonomie des Individuums auf allen Gebieten und in allen Hinsichten menschlichen Seins. Fichte erklärt: "Niemand wird kultiviert, sondern jeder hat sich selbst zu kultivieren. Alles bloß leidende Verhalten ist das gerade Gegenteil der Kultur; Bildung geschieht durch Selbsttätigkeit und zweckt auf Selbsttätigkeit ab." In ethischer Hinsicht führt die Forderung der individuellen Autonomie zu dem Bestreben, schon in dem Kinde möglichst früh ein starkes Verantwortungsgefühl zu entwickeln, Verantwortung für sich selbst sowie für die Gemeinschaft, in der es lebt; man erzieht zur moralischen Selbständigkeit dadurch, daß man auf die Gewissenhaftigkeit der Kinder vertraut, ihren Gemeinschaften eine weitgehende Selbstverwaltung zugesteht und dahin wirkt, daß die Disziplin sich aus den Kindern selbst entwickele, anstatt durch Vorgesetzte und Autorität von außen erzwungen zu werden.

Auf den Gebieten der Willensbildung und Arbeitsmethoden hat das Prinzip der Autonomie zu den Bestrebungen der Arbeitsschule geführt, die in bedeutsamen Schriften Georg Kerschensteiners ihre klassische Formulierung gefunden haben. Während bei schlechter Unterrichtsmethode der Schüler sich - dem aktiven Lehrer gegenüber - fast ganz rezeptiv, um nicht zu sagen: passiv verhält, werden jetzt Aktivität und Initiative des Schülers im höchsten Grade gesteigert, so daß er sich den Unterrichtsstoff in hohem Maße erarbeitet und den Fortgang der Unterrichtsarbeit herbeiführt.

Aber nicht nur das "Wie" der Bildungsarbeit, sondern auch das "Was" untersteht der Maxime "genoio ojos essi". Bildung ist nicht eine Masse von Kulturgütern, nicht ein Ding, das einer sich auf Wunsch anschaffen kann, sondern ein Sein, ein Werden: der auf Formung der Individualität - gemäß den dieser innewohnenden Gesetzen - ausgehende Entwicklungsprozeß, der sich in steter Auseinandersetzung mit der Natur und den Kulturgütern der Umgebung vollzieht, ihre Inhalte teils ablehnend, teils fruchtbar verarbeitend, niemals zu einem Abschlusse gelangend. Die Bildung des Individuums wird jedoch nur durch jene Kulturgüter ermöglicht, deren geistige Struktur ganz oder teilweise der Struktur der individuellen Psyche adäquat ist. Jedes Kind also, von dem denkbar größten Reichtum von Kulturgütern umgeben, muß aus diesen, mit Hilfe seiner erwachsenen, erfahrenen und sachkundigen Freunde, diejenigen Bildungsgüter herausfinden, mit denen es sich, seiner individuellen Veranlagung und Entwicklungsstufe entsprechend, fruchtbar auseinanderzusetzen, an denen es zu wachsen, sich zu bilden vermag. "Weise Männer lassen den Knaben unter der Hand dasjenige finden, was ihm gemäß ist", heißt es im "Wilhelm Meister".

Macht man sich in diesem Zusammenhange klar, daß im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende sich immer größere Kulturmassen aufspeichern, so wird man die Angst derjenigen Pädagogen verstehen, die noch immer vom Idol der "allgemeinen Bildung" besessen sind; verzweifelt fragen sie, wo sie auf längst überlasteten Lehrplänen immer noch neue Unterrichtsfächer und Stoffmassen unterbringen sollen. Den Schlüssel zur Lösung auch dieses Problems hat uns bereits Goethe gegeben: "Narrenpossen sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu. Daß der Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein anderer in der nächsten Umgebung, darauf kommt es an ... Eines recht wissen und ausüben gibt höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen." Also auch hier die Lösung des Problems nicht von den Kulturmassen, sondern vom Bildungssubjekte, dem Kinde, her! Es gehört zu den beglückendsten Ereignissen der letzten zehn Jahre, daß die Schulregierungen der meisten deutschen Staaten, die preußische voran, diesen von Goethe gewiesenen Weg beschritten haben, um das Schulwesen in wirkliche Bildungsstätten umzuwandeln; aus diesem Gesichtspunkte hat man die Reform der Lehrpläne und der Reifeprüfungen sowie der Organisation der höheren Schulen in Angriff genommen. Manchem mißmutigen Beobachter hat sich dies aus der Ferne so dargestellt, als sei das einst so berühmte geistige Niveau unserer höheren Schulen gesunken, seien die Anforderungen an die Schüler in der Reifeprüfung herabgedrückt; in Wirklichkeit hat das Ideal des wandelnden Konversationslexikons dem des gebildeten Menschen Platz gemacht.

Diese Erziehungsbewegung also, deren Grundgedanken ich hier zu skizzieren versucht habe, wurde vor fast anderthalb Jahrhunderten durch Goethes "Wilhelm Meister" eingeleitet. Aus dem Kreise aber der Kant, Goethe, Pestalozzi, die von Rousseau stark beeinflußt waren, ging der größte Prophet dieser Bewegung hervor, Johann Gottlieb Fichte, dessen epochemachende Tat in der Forderung bestand, die Jugenderziehung ausdrücklich in den Dienst des Kampfes ums Menschentum zu stellen. Angesichts des politischen und moralischen Zusammenbruchs Deutschlands in der napoleonischen Ära hielt Fichte, ganz erfüllt von der Persönlichkeit und den Ideen Pestalozzis, im Winter 1807/08 in Berlin die berühmten "Reden an die deutsche Nation"; als allein mögliches Rettungsmittel aus dem allgemeinen Elend forderte er die deutsche Nationalerziehung, unter der er folgendes verstand: Die Welt der Erwachsenen sei von Grund aus und unheilbar verderbt; der Staat müsse überall in deutschen Landen in herrlicher Natur, weitab von den Städten, Erziehungsheime errichten, alle Kinder von ihren Eltern trennen und in diese Heime schicken, damit daselbst ein neues, starkes Geschlecht aufwachse; die hierzu nötigen Lehrer und Erzieher könne man aus den Pestalozzischen Anstalten beziehen. Sehr eingehend legt Fichte, besonders in der 9., 10. und 11. Rede, in Anlehnung an Pestalozzi die Ideen der deutschen Nationalerziehung und die Einrichtungen der gedachten Erziehungsheime dar. Bekanntlich blieb Fichtes Forderung damals unerfüllt, und unser Vaterland rettete sich auf andere Weise aus der Not. -

Es war gegen Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als ich als Student der Universität Jena in einem religionsphilosophischen Seminar Hermann Lietz, den schlichten, kraftvollen Gutsbesitzerssohn aus Rügen, kennnenlernte; zwei Jahre älter als ich, hatte er seine Universitätsstudien schon ziemlich vollendet und unterrichtete in der Übungsschule des Pädagogischen Universitätsseminars Wilhelm Reins und am Gymnasium. Zwischen Lietz und mir entstand bald eine innige und ungemein fruchtbare Freundschaft; gemeinsam vertieften wir uns in die Philosophie Fichtes und entwickelten unsere pädagogischen Ideen. Wir hatten viel in Städten gelebt, einen Teil unserer Studienzeit in Berlin zugebracht, wo uns das soziale Elend der Großstadt mit Grauen erfüllte; und durchdrungen von der Überzeugung, daß nicht nur vor hundertjahren dieWelt mehr oder weniger verderbt gewesen sei, wurden wir in dem starken Gefühle für den Antagonismus zwischen wahrem Menschentum und den Übeln der Zivilisation begeisterte jünger Fichtes. Uns beschäftigten also nicht eigentlich die damals allmählich in Fluß kommenden Fragen der Schulreform; ja, es ist für Lietz charakteristisch, daß er sich den großen Kongressen, die der später über ganz Deutschland verbreitete "Bund für Schulreform" in Dresden, München, Breslau veranstaltete, und seinen Arbeiten geflissentlich fernhielt. Vielmehr interessierte uns der Mensch in seiner Totalität; mit warmem Interesse verfolgten wir, im Verkehr mit Bebel und anderen sozialistischen Führern, die damals immer mächtiger anwachsende sozialdemokratische Bewegung, und es war hauptsächlich das unerquickliche parteipolitische Treiben, das uns hinderte, ihr uns anzuschließen. Uns handelte es sich um das Problem, das gesamte Leben der Menschen auf eine völlig neue, gesündere Basis zu stellen, und zwar vermittelst einer von Grund aus neuen Erziehung, wie Fichte sie in seinen "Reden an die deutsche Nation" gepredigt. "Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen" -, hat einmal Fichtes großer Lehrer Immanuel Kant geäußert; und er fährt fort: "Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand hervorgebracht werde." Im Landerziehungsheim sollen die Kinder in reiner Luft, unverkümmert und unverbogen, sich zu wahrem Menschentum entwickeln, bewahrt vor den Übeln der Zivilisation, von denen die Welt draußen voll ist; die heranreifenden Jünglinge und Mädchen sollen durch den Unterricht in der Kulturgeschichte, den Naturwissenschaften und der Technik sowie durch Studienreisen mit dem wirklichen Zustand der menschlichen Gesellschaft und ihrem Elend vertraut gemacht, der Gegensatz zwischen wahrem Menschentum und der wirklichen Welt ihnen zum Bewußtsein gebracht, der tiefe Sinn des Goetheschen Bekenntnisses ihnen eingepflanzt werden: "Mensch sein heißt ein Kämpfer sein!" Die Jugend soll zu tapferen Kämpferscharen erzogen werden, die sich nicht feige in die Welt, die in vielen Hinsichten immer verderbt ist, hineinfügen, sondern gelernt haben, gegen den Strom zu schwimmen, der Mode und Konvention auf äußeren und geistigen Gebieten und allem, was jeweils "modern" genannt wird, souverän gegenüberzustehen, entschlossen Front zu machen gegen die besonderen Unarten und Entartungserscheinungen jeder Zeit und ihr ganzes Leben hindurch, bis zum letzten Atemzug, um eine immer vollkommene Gestaltung ihres Menschenturns zu kämpfen! Jeder Jüngling, jedes Mädchen lernt im Landerziehungsheim, als veranwortungsvolles Glied einer kleinen Gemeinschaft zu leben, um als Staatsbürger später mit voller Hingabe dem Wohle der Nation zu dienen. So soll die neue Jugend weit über den Rahmen ihrer Heime hinaus wirken zur völligen Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft!

Hermann Lietz, dem man auf den ersten Blick den Mann der Tat ansah, war mit seinem Enschlusse schnell fertig. Obwohl fast ganz ohne wirtschaftliche Mittel, vermochte er bereits im Frühling 1898 bei Ilsenburg im Harz sein erstes Deutsches Landerziehungsheim zu eröffnen. Drei Jahre später folgte die Gründung des zweiten Heimes auf dem Rittergute Haubinda am Südrande des Thüringer Waldes; wieder drei Jahre danach wurde das dritte Heim in Schloß Bieberstein in der Rhön eröffnet; auch ein Waisenheim wurde in Veckenstedt im Harz gegründet. Die Bewegung erstarkte und wuchs mächtig an, griff auch aufs Ausland, besonders auf England und die Schweiz über. Obgleich anscheinend eine Bärennatur, hat Lietz seine Körperkräfte zu schnell verbraucht; er starb schon vor elf Jahren (1919). Seine Nachfolger gründeten noch mehrere neue Heime. Teils in freundschaftlichem Konnex mit Lietz, teils durch Sezessionen aus seinen Heimen entstand in Deutschland noch eine Anzahl weiterer Landerziehungsheime, so daß wir im ganzen jetzt 15 - 18 derartige Heime zählen, die, nach Grundsätzen und Organisation, eine weitgehende sachliche Differenzierung der Bewegung darstellen.

Eine großzügige Natur und von reinstem Idealismus erfüllt, verfolgte Lietz von Anfang an den Grundsatz, die den Kindern bzw. ihren Eltern aufzuerlegenden Erziehungskosten möglichst niedrig zu bemessen, so niedrig, als die Notwendigkeit zuließ, daß diese Anstalten, denen niemals öffentliche Unterstützung zuteil geworden ist, sich wirtschaftlich gerade selbst über Wasser hielten; um bildungsfähige Kinder war es ihm zu tun, nicht um Gelderwerb, und er war besonders beglückt, wenn die Masse seiner Schüler es ihm gestattete, einige nichtszahlende Proletarierkinder aufzunehmen. Diesem Grundsatz sind alle Landerziehungsheime treu geblieben; die meisten von ihnen sind in letzter Zeit öffentliche Stiftungen geworden.

Nachdem ich jahrelang mit Lietz zusammengearbeitet, auch Haubinda einige Jahre geleitet hatte, gründete ich im Frühling 1910 die Odenwaldschule, die, abweichend von den meisten anderen Heimen, besonders den Lietz'schen, schon dadurch ein eigenartiges Gepräge erhielt, daß in ihr die Koedukation konsequent durchgeführt ist. Es lag tief in Lietz' Persönlichkeit begründet, daß er in der 10. der Fichteschen "Reden an die deutsche Nation" den Passus übersah, wo es heißt: "Es versteht sich ohne unser besonderes Bemerken, daß beiden Geschlechtern diese Erziehung auf dieselbe Weise zuteil werden müsse. Eine Absonderung dieser Geschlechter in besondere Anstalten für Knaben und Mädchen würde zweckwidrig sein und mehrere Hauptstücke der Erziehung zum vollkommenen Menschen aufheben. Die Gegenstände des Unterrichts sind für beide Geschlechter gleich; der in den Arbeiten stattfindende Unterschied kann, auch bei Gemeinschaftlichkeit der übrigen Erziehung, leicht beobachtet werden. Die kleinere Gesellschaft, in der sie zu Menschen gebildet werden, muß ebenso wie die größere, in die sie einst als vollendete Menschen eintreten sollen, aus einer Vereinigung beider Geschlechter bestehen; beide müssen erst gegenseitig ineinander die gemeinsame Menschheit anerkennen und lieben lernen und Freunde haben und Freundinnen, ehe sich ihre Aufmerksamkeit auf den Geschlechtsunterschied richtet und sie Gatten und Gattinnen werden." So weit Fichte. In eine von männlichen und weiblichen Elementen erfüllte Welt, durchströmt von der Polarität der Geschlechter, wird das Kind hineingeboren und wächst heran, und zwar als männlich oder weiblich geprägtes Wesen mit entsprechender Reaktionsfähigkeit. Diese wunderbare Welt der zweigeschlechtigen Differenzierung auch aus dem Gesichtspunkte der Erziehung freudig bejahen und den aus ihr quellenden Reichtum auf allen Lebens- und Kulturgebieten pädagogisch verarbeiten und für die Erziehung der Kinder möglichst fruchtbar werden zu lassen: das ist der Inbegriff der Koedukation. Wenn der wirkliche Erziehungsprozeß in der zunächst unbewußten, allmählich mehr und mehr bewußten Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt - im vollsten Sinne - besteht, so bildet die Koedukation einen ganz wesentlichen Bestandteil aller Erziehung. Gibt es doch nirgends ein Kind, das in sexueller Isolierung aufwüchse; vielmehr entwickelt sich der Knabe oder das Mädchen in seinen niemals und auf keine Weise auszuschaltenden, wechselseitigen Beziehungen zum anderen Geschlecht. Der Knabe verfolgt das Ziel, sich zum möglichst vollkommenen Mann, das Mädchen, sich zur möglichst vollkommenen Frau zu entwickeln, so daß die Synthese beider das vollkommene Menschentum darstelle. Aber erst durch häufige und intensive Auseinandersetzung mit Individuen des andern Geschlechts vermag der Knabe oder das Mädchen seine Eigenart kraftvoll und ausgeprägt zu entwickeln. Ist ja doch die sexuelle Differenzierung so wunderbar eingerichtet, daß Individuen verschiedenen Geschlechts in ihrer Auseinandersetzung nicht imitativ aufeinander reagieren (so daß die gemeinsame Erziehung nivellierend wirken könnte), sondern die Gegenwart des Knaben Züge weiblicher Eigenart im Mädchen hervorlockt, und umgekehrt. Durch bewußte und planmäßige Koedukation werden die Auseinandersetzungsgelegenheiten zwischen Kindern verschiedenen Geschlechte in Spiel und Arbeit und auf allen übrigen Gebieten kindlichen Lebens nach Möglichkeit gesteigert und fruchtbar gestaltet; man fürchtet sie nicht als Komplikation und Erschwerung der Erziehungsarbeit, sondern schätzt sie als der unermeßlichen Fülle des Lebens entsprechende Bereicherung. Je größer die Schwierigkeiten sind, in die ein Kind, aus konstitutionellen oder zufälligen Ursachen, durch Einwirkungen seitens des anderen Geschlechtes gerät, desto dringender ist die Notwendigkeit gemeinsamer Erziehung im Sinne der Forderung, daß dieses Individuum unter bewußter und verantwortlicher Führung sich mit den vom anderen Geschlechte ausgehenden Einflüssen auseinanderzusetzen hat, anstatt daß man es nicht zu verantwortenden Zufällen überlasse. Denn solche Kinder haben es doch gerade am allernötigsten: daß die Knaben Selbstbeherrschung und Ritterlichkeit die Mädchen Selbstbewahrung, Zurückhaltung und weibliche Würde entwickeln, beide Geschlechter sich praktisch in der seltenen Kunst üben, daß Menschen verschiedenen Geschlechts trotz, ja gerade in ihrer Verschiedenheit einander verstehen und würdig miteinander leben, erfüllt von dem klaren und starken, zu einem festen Bestandteile des Charakters gewordenen Bewußtsein von der besonderen Art schwerer Verantwortung, die jeder Mensch gegenüber Angehörigen des anderen Geschlechts zu tragen hat. Koedukation in Kindheit und Jugend, und dann wahrhafte Kooperation freier Frauen und freier Männer, die verständnisvoll einander gegenüberstehen in ungeahnter Fülle gemeinsamen Wirkens zur Schaffung wahrer Menschheitskultur! - Eine Koedukationsgemeinschaft ist zugleich eins der wirksamsten Mittel in dem - trotz Inkrafttretens der Weimarer Verfassung wohl noch Generationen hindurch notwendigen - Kampfe gegen den Aberglauben an die Inferiorität des weiblichen Geschlechts; und in einer Schule, die den Mädchen ganz die gleiche Bewegungs- und Entwicklungsfreiheit wie den Knaben läßt und in der alle Machtmittel ausgeschaltet sind, deren die Welt der Erwachsenen sich bisher den Kindern, im Männerstaate das herrschende Geschlecht dem weiblichen gegenüber bediente (ich darf auf die aufschlußreichen Untersuchungen Mathilde Vaertings in ihrem neuesten Buche "Die Macht der Massen in der Erziehung" hinweisen): in einer solchen Schule vermag sich im Laufe von Generationen endlich genuine weibliche Eigenart und Bildung zu entwickeln. -

Meine Schule besteht aus 12 Landhäusern, die am oberen Ende eines von der Bergstraße sich nach Osten in den Odenwald emporziehenden Tales liegen, in herrlicher Landschaft, zwischen Bergen, Laubwäldern und Wiesen; 180 Kinder und junge Leute, von denen etwa ein Drittel Mädchen, sind auf sieben Häuser verteilt; in kleinen Gruppen, die wir Familien nennen, wohnen sie mit je einem Erwachsenen, zuweilen einem Ehepaar, zusammen. Ungefähr 30 pädagogisch vorgebildete Männer und Frauen leben und arbeiten für diese Schar von Kindern, deren jüngste sich im dritten oder vierten, manchmal sogar erst im ersten Lebensjahre befinden; dazu kommen einige 40 Menschen, die in der wirtschaftlichen Verwaltung, im Haushalt, in den Werkstätten und im Garten tätig sind.

Es ist nicht leicht, die Struktur dieser Lebensgemeinschaft zu schildern, die sich im Laufe von 20 Jahren im Odenwald entwickelt hat und in der 250 Menschen der verschiedensten Altersstufen miteinander leben, alle unter der gemeinsamen Idee vom Goetheschen Menschen stehend und bestrebt, einander zu verstehen und zu helfen. Jeder Vergleich mit einem politischen Gemeinwesen führt zu Schiefheiten; Ausdrücke wie "Kinderrepublik", "Selbstregierung", der "Regierungsapparat" der Schulgemeinde mit "gleichem Stimmrecht" für alt und jung führen notwendig zu Mißverständnissen. "Regiert" wird bei uns überhaupt nicht; es ist tatsächlich ein Gemeinwesen ohne irgendwelches Vorgesetztentum, eine "Schule ohne Direktor" obgleich ich, selbst wenn ich längere Zeit nicht zum Unterrichten komme, an chronischer Arbeitsüberlastung leide; um "Rechte" hat man sich bei uns nie gestritten, für "Gleichberechtigung" von jung und alt sich nie interessiert. Die zentrale Idee unserer Gemeinschaft ist eben die der Verantwortung, der Verantwortung jedes einzelnen für sich selbst und für die Gesamtheit; und die ganze bei uns herrschende Atmosphäre und alle Einrichtungen zielen darauf ab, die Kinder schon möglichst früh mit einem starken Verantwortungsgefühl zu erfüllen, zugleich das Vertrauen der noch hilflosen und führungsbedürftigen Kinder zu den reiferen Kameraden und zu menschlich hochentwickelten Persönlichkeiten zu pflegen und so zu bewirken, daß eine wahre Aristokratie, äußerlich unkenntlich und auf den verschiedenen Lebensgebieten wechselnd, den stärksten Einfluß auf die Lebensgestaltung der Gesamtheit wie jedes einzelnen ausübe. Kommen wir durchschnittlich alle 14 Tage als Schulgemeinde zusammen, alle Erwachsenen und Kinder, natürlich nur bis zu einer gewissen unteren Altersgrenze, und wird diese sich in parlamentarischer Ordnung vollziehende Zusammenkunft von einem größeren Knaben oder Mädchen geleitet, so dient unsere Aussprache der gemeinschaftlichen Klärung dieser und jener großen und kleinen Fragen unseres Schullebens. Kommt es zu einer gemeinsamen Willenskundgebung oder drückt sich die Verständigung durch eine Abstimmung aus, so darf ein achtjähriges Kind ebenso eine Stimme abgeben wie ein 50jähriger Mann; diese Einrichtung gilt als Symbol der Auffassung, daß jedes Mitglied der Gemeinschaft, unabhängig von Alter und Reife, grundsätzlich dem Ganzen in gleichem Maße verpflichtet ist wenngleich wir uns klar darüber sind, daß der Grad des Verantwortungsbewußtseins jedes einzelnen abhängig ist von Lebenserfahrung und Reife. Die Idee der Verantwortung wirkt sich auf allen Gebieten unseres Gemeinschaftslebens, selbst in den geringfügigsten Alltäglichkeiten aus. Nirgends, weder beim Spiel noch bei der Arbeit, gibt es Aufsichtspersonen; die Disziplin im Unterricht ist Sache der Kinder selbst, kein Lehrer hat sich darum zu kümmern. Schon mancher Vertreter der öffentlichen Schule hat uns um unsere Disziplin beneidet, die eben deshalb so zuverlässig ist, weil sie in den Kindern von innen heraus entwickelt wird, anstatt von außen her, durch Respektspersonen, erzeugt zu werden. Wenn nach diesen Darlegungen noch der Verdacht bestehen sollte, daß die bei uns aufwachsende Jugend niemals die Kunst des Gehorchens lerne und ihr Sinn für Autorität unentwickelt bliebe, so sei ausdrücklich betont, daß wir die ",Entwicklung der Ehrfurcht" zu den grundlegend den Notwendigkeiten aller Erziehung rechnen, im Sinne der bekannten Goetheschen Äußerungen in der "Pädagogischen Provinz": "Wohlgeborene, gesunde Kinder bringen viel mit; die Natur hat jedem alles gegeben, was er für Zeit und Dauer nötig hätte; dieses zu entwickeln, ist unsere Pflicht, öfters entwickelt sich's besser von selbst. Aber eins bringt niemand mit auf die Welt, und doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei: ",Ehrfurcht!" Aus diesem Gedanken Goethes freilich glauben wir eine besondere Philosophie der Erziehung entwickeln zu sollen, die ich mit einigen Worten andeuten möchte.

Der Bildungsprozeß, die Entwicklung zum Menschen besteht in der andauernden Auseinandersetzung des Individuums mit den Mächten und Kulturgütern seiner Umgebung. Nun liegt es einmal in der Natur des Menschen, zumal des jungen Menschen, des Kindes, daß diese Auseinandersetzung viel fruchtbarer und erfolgreicher mit Persönlichkeiten und personifiziert gefühlten Dingen erfolgt, als mit objektiven Sachen. Der Erfolg aber dieser Auseinandersetzung hängt ganz und gar von dem Maße der Ehrfurcht ab, das dem Kinde, dem Menschen eigen ist; denn Ehrfurcht, im Sinne der Goetheschen Äußerungen, ist eben die Fähigkeit des jungen Menschen, so an den reiferen Menschen oder an einen Menschen höherer Art heranzutreten, daß man in persönliche Berührung und in wirklich fruchtbare Auseinandersetzung mit ihm kommt. In jedem sogenannten christlichen Hause befindet sich ein Neues Testament, und auch in Kirchen und Schulen ist sehr viel von Jesus die Rede; wie wenig aber ist vom Geiste, vom Wesen Jesu in die Menschen übergegangen, weil es eben nur höchst selten einem Menschen glückt, in eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit Jesu zu gelangen, - während es doch wünschenswert wäre, daß jeder Mensch sein Leben lang immer wieder in eine recht heftige Auseinandersetzung mit Jesus käme! - Auch Goethes Werke beispielsweise stehen in jedem sogenannten gebildeten Hause; aber wie wenig Goethesche Weisheit ist unter die Menschen gekommen - eben weil sie den Zugang zu Goethe's Persönlichkeit nicht gefunden haben. Wie nutze ich einen großen Mann? Wie ist die Ehrfurcht, d. h. die Fähigkeit zu entwickeln, mit einer Persönlichkeit höherer Art, als ich es bin, in fruchtbare Auseinandersetzung zu kommen, so daß ich an ihr wachse und mich bilde? Jeder Mensch hat eine obere und eine untere Grenze seines Wesens. Mit der unteren berührt er die obere Grenze von Menschen, die niedrigerer Art sind, als er selbst, und droht, wenn noch jung und ungefestigt, zu ihnen herabzusinken. Aber mit der oberen Grenze seines Wesens vermag er die untere Grenze eines Menschen zu berühren, der höherer Art ist, als er; steht dieser aber zu hoch, so daß keine Berührungspunkte bleiben, so vermag er vielleicht durch Mittelspersonen mit ihm in fruchtbare Auseinandersetzung zu gelangen. Habe ich ein wenigstens ahnendes Verständnis für das Wesen eines Menschen höherer Art und blicke ehrfürchtig zu ihm auf, so gerate ich in einen Zustand von Spannung, die sich zur Beunruhigung und Erschütterung steigern kann und in mir die Sehnsucht erweckt, mich zur Lebensform jenes höheren Menschen zu entwickeln. Diese Sehnsucht ist nicht gleichbedeutend mit der Liebe, wenngleich letztere einen sehr wirksamen Faktor in aller höheren menschlichen Entwicklung bilden kann. Jeder wirkliche Erzieher wird vom Kinde als ein Mensch höherer Art empfunden; seine Wirksamkeit hängt ganz und gar davon ab, ob es ihm gelingt, im jüngeren Menschen die soeben beschriebene Spannung zu erzeugen und somit sein Organ für höhere und ewige Werte zu entwickeln. -

Eine pädagogische Kolonie, die in herrlicher deutscher Landschaft liegt und ihre Jugend in erster Linie in den Reichtum deutscher Kultur einführt, stellt natürlich eine deutsche Schule dar. Wenn wir aber die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft - als den beiden Brennpunkten der Ellipse aller kulturellen Entwicklung - tagtäglich erleben, wollen wir, soweit dies in unserem kleinen Rahmen möglich, unsere Jugend auch die auf das Verhältnis der Nation zur Menschheit erweiterte Spannung praktisch erleben lassen. So besteht die Schar unserer Kinder annähernd zu einem Fünftel aus Ausländern; und in unserem pädagogischen Kollegium befinden sich zur Zeit Mitarbeiter aus der Schweiz, Österreich, Frankreich, England, Nordamerika, Indien. Analog ist unsere Stellungnahme zu der Differenzierung der Religionen und Konfessionen; wir lieben es, Kinder aus allen religiösen und konfessionellen Lagern zu haben, und unsere Schule als solche bemüht sich einer sozusagen überkonfessionellen Einstellung. Der frühere preußische Kultusminister Becker hat kürzlich in einem auch als Buch erschienenen Vortrag aus einer genialen Schau "Das Problem in der Kulturkrise der Gegenwart" skizziert; gegen Ende der Schrift sagt er: "Nur wenn der Mensch im anderen Menschen, welcher Nation, Klasse oder Religion auch immer, das Ewige und Göttliche anerkennt, das er in sich selbst erlebt und für das er den Respekt der Mitmenschen fordert, dann ist die seelische Voraussetzung geschaffen, auf der der Tempel einer neuen Menschheit sich erheben kann. Aus der Zusammenarbeit der Völker kann eine internationale Organisation entstehen, ein internationaler Geist aber aus nur einer neuen Gesinnung zwischen Mensch und Mensch. Man muß den Mut aufbringen zu einer seelischen Haltung, die jedem andern das zubilligt, was man für sich selber fordert. Der Wunsch, den internationalen Gedanken zu pflegen, führt an die Basis der nationalen Erziehung Überhaupt. Nur von hier aus kann, so utopisch es zunächst erscheinen mag, etwas wirklich Fruchtbares geschaffen werden. jede nationale Erziehung muß der Überbrückung und Versöhnung der Klassengegensätze, wie der religiösen Toleranz dienen. Wird diese Erziehung - und sie muß es, um wirksam zu sein - vom rein Menschlichen ausgehen, so dient sie damit zugleich auch der Völkerversöhnung."

Um ein in seinen wesentlichen Zügen vollständiges Bild unserer LebensGemeinschaft zu geben, bedarf es noch einer Schilderung unserer Arbeitsorganisation, die zu verwirklichen sucht, was Kerschensteiner in seiner von Goetheschem Geiste erfüllten Schrift fordert: "Das Grundaxiom des Bildungsprozesses und seine Folgerungen für die Schulorganisation."

Eine Bildungsstätte im Sinne Goethes kann, ihrem Programme nach, selbstverständlich nicht auf eine der historisch entwickelten Schulgattungen festgelegt sein; auch existiert bei uns kein für die Gesamtheit gültiger Lehrplan, für keinen Schüler ein Jahrespensum, und die Einteilung der Schule in Klassen ist völlig beseitigt. Aufgabe unseres Lehrerkollegiums ist es, dafür zu sorgen, daß den Kindern aller Altersstufen und Veranlagungsformen reichliche Betätigungsmöglichkeit gewährleistet ist auf allen Gebieten, nicht nur den üblichen theoretischen, sondern auch praktischen, künstlerischen, sozialen, und was sonst den Bedürfnissen kindlichen und jugendlichen Lebens entspricht. Diesen Betätigungsmöglichkeiten gegenüber besteht für die Kinder grundsätzlich völlige Wahlfreiheit, von der freilich die jüngeren, noch kindlichen Schüler und Schülerinnen einen nur beschränkten Gebrauch machen; gerne lassen sie sich von uns Erwachsenen, mit denen sie naturgemäß in nahem, mehr oder weniger freundschaftlichem Kontakt stehen, beraten und führen. Wichtig ist vor allem, daß die Kinder überhaupt Wünsche äußern, sich bald diesem, bald jenem Arbeitsgebiet mit voller, vielleicht begeisterter Hingabe widmen; bewußte Pflege einseitiger Veranlagungen wird von uns unterstützt. Niemals haben wir einen bedauerlichen Mißbrauch der Wahlfreiheit beobachtet, überall aber eine beglückende Entwicklung hingebender Arbeitsfreudigkeit und tiefgehender sachlicher Interessen. Ein Kind pflegt bei uns nur auf zwei Gebieten zu gleicher Zeit zu arbeiten, manchmal nur auf einem einzigen, selten auf drei oder mehr Gebieten mindestens einen Monat lang; zuweilen werden dieselben Gebiete mehrere Monate hindurch beibehalten. Unter den Kindern, die dasselbe Arbeitsgebiet gewählt haben, treten diejenigen, die sich zufällig auf demselben Niveau befinden, zur Arbeitsgemeinschaften zusammen, und so entstehen wirklich homogene Gruppen, die manchmal Jahre hindurch beisammen bleiben.

Als im Laufe der Entwicklung die Gefahr auftrat, daß diese Gruppen zu stabil würden, zur Erleichterung der Organisation auch auf Arbeitsgebiete angewandt würden, denen sie nicht entsprächen, und somit sich dem Charakter der Schulklassen näherten, hielten wir Erwachsenen mit den reifsten Schülern eine Reihe von Konferenzen ab, in denen wir uns sehr eingehend mit dem Daltonplan auseinandersetzten (durch Helen Parkhursts Besuch angeregt); die Folge war eine Auflockerung, zum Teil Auflösung der Gruppen zugunsten einer stärkeren Betonung der selbständigen, individuellen Arbeit. Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß das Arbeitsschulprinzip in allen seinen praktischen Abwandlungsmöglichkeiten bei uns durchgeführt wird. Auch wird man bei uns nicht die üblichen Schulklassenzimmer erwarten. Jedem Arbeitsgebiet ist ein Raum, mehr einem Laboratorium oder einer Werkstatt oder einer Bibliothek gleichend, gewidmet; jedes Kind sucht also, nach jeweiligem Bedürfnis, das Geschichtszimmer oder das Altsprachenzimmer oder das physikalische Laboratorium auf, wo es alle Bücher, Bildersammlungen, Apparate und sonstigen Lehrrnittel des betreffenden Gebietes vorfindet; die Verantwortung für die in jedem Arbeitsraum erwünschte Ordnung trägt natürlich ein Schüler. In den letzten Jahren vor dem Abiturium berücksichtigt der Schüler die offiziellen Anforderungen derjenigen Schulgattung, die annähernd seinem individuellen Bildungsweg entspricht; dann legt er die Reifeprüfung an der entsprechenden öffentlichen Schule ab. Obgleich wir mit diesen Extraneerprüfungen sehr gute Erfahrungen machten, haben wir uns, einer Anregung des hessischen Kultusministeriums folgend, soeben entschlossen, in Zukunft unsere eigene Reifeprüfung, aus der Goetheschen Bildungsidee heraus ganz frei unseren Auffassungen entsprechend gestaltet, in der Odenwaldschule selbst abzuhalten. -

In der Aula des Hauses, das von der Bergeshöhe hinab ins Tal und fern in die weite Rheinebene schaut, ist die Büste Platons aufgestellt als des unerschöpflichen und unversiegbaren Urquells aller Kultur des Abendlandes. Die übrigen fünf Hauptgebäude der Odenwaldschule sind an hervorragender Stelle mit den Bildnissen Goethes, Herders, Fichtes, Schillers und Wilhelm von Humboldts geschmückt - nicht zur Dekoration, sondern weil wir uns zu ihnen als unseren Heroen bekennen. Die Auswahl mag befremden; es kommt eben auch hier der subjektiv-persönliche Charakter der Erziehung zum Vorschein. Meiner persönlichen Artung nach habe ich zu der Überzeugung kommen müssen, daß gerade diese fünf Männer uns noch auf absehbare Zeit das Wichtigste über Menschenbildung zu sagen haben. Ihre Jahrestage, an deren würdiger Vorbereitung Kinder und Erwachsene viele Wochen hindurch beteiligt sind, werden in besonderen Festen begangen; durch diese, wie auch dadurch, daß immer wieder reifere Schüler und Schülerinnen sich für längere Zeit ein Spezialstudium aus den im allgemeinen weniger bekannten und zugänglichen Persönlichkeiten, wie Herder und Wilhelm von Humboldt, machen, wird bewirkt, daß unsere Heroen lebendig vor unseren Augen erstehen und die Atmosphäre unserer Gemeinschaft beeinflussen. Hierbei interessiert uns beispielsweise Humboldt, der große Unbekannte, nicht in erster Linie als der Begründer der vergleichenden Sprachwissenschaft noch als der feinsinnige Kunstgelehrte, sondern als die lebendige Verkörperung der Maxime "genoio oios essi" in der Gestaltung seines Lebens. Ob er nun beschaulich und in gelehrten Studien ein Privatleben führte oder das preußische Bildungswesen leitete oder als Gesandter in Rom oder England oder als Vertreter Preußens auf dem Wiener Kongreß tätig war: alle Lebensumstände und jede Berufstätigkeit stellte er bewußt in den Dienst der Aufgabe, seine Individualität zu höchster menschlicher Vollendung zu entwickeln. Als er als 24jähriger Jüngling aus dem kaum begonnenen Staatsdienste ausgeschieden war und sich mit seiner jungen Frau auf seine thüringischen Güter ins Privatleben zurückgezogen hatte, machte ihm sein Freund Forster Vorwürfe und forderte, ein Mann habe die Pflicht, ins Große und Ganze zu wirken. Humboldt erwiderte hierauf: "Jeder Mensch muß in das Große und Ganze wirken; nur was dies Große und Ganze genannt wird, darin liegt meinem Gefühl nach so viel Täuschung. Mir heißt in das Große und Ganze wirken: auf den Charakter der Menschheit wirken; und darauf wirkt jeder, sobald er auf sich und bloß auf sich wirkt. Der wahren Moral erstes Gesetz: Bilde dich selbst! und erst ihr zweites: Wirke auf andere durch das, was du bist!" Und an einer anderen Stelle desselben Briefes: "Man sei nur groß und viel; so werden die Menschen es sehen und nützen; man habe nur viel zu geben, so werden die Menschen es genießen, und der Genuß wird der Vater neuer Kraft sein. Wenn unter uns so wenig geschieht, so ist es nicht, weil unsere Lagen und Verhältnisse uns hinderten, zu wirken, sondern weil sie uns hindern, zu werden und zu sein."

Vielleicht berühren diese Äußerungen einer idealistischen Lebensauffassung wie Klänge aus einer fernen, längst entschwundenen Welt, vielleicht rufen sie eine skeptische Stimmung hervor. In der bereits erwähnten Schrift Dr. Beckers wird die Krisis der gegenwärtigen Kultur und der bisherigen Bildungsgrundlagen zu geradezu erschütterndem Bewußtsein gebracht; danach heißt es: "Der charakteristische Unterschied zwischen der alten und neuen Pädagogik ist der, daß wir den jugendlichen Menschen nicht formen und gestalten nach einem uns vorschwebenden Bilde, und möge es noch so hoch und herrlich erscheinen, sondern daß wir den Menschen wachsen lassen und ihm nur den Weg zeigen, auf dem er in eigener Verantwortung und selbsttätig die hohen Ideale oder Kenntnisse ergreifen lernt, die wir ihm in eigener Selbstzucht oder ansteckender Begeisterung vorleben. Gewiß wird die ältere Generation darüber den Kopf schütteln und warnend auf das Motto von "Wahrheit und Dichtung" verweisen, aber wo wollen wir bei der geschilderten Geisteslage der Gegenwart den Mut hernehmen, ein bestimmtes Quantum Wissen jugendlichen Köpfen einzudrillen und sie damit vielleicht für ihr ganzes künftiges Leben nicht zu bilden, sondern zu verbilden? ... Das letzthin Entscheidende ist die Befreiung der schöpferischen Kraft, die irgendwie in jedem Menschen schlummert. Wir erstreben nicht Wissen, sondern Leistung; wir glauben nicht an die Macht des Wissens, sondern an die Macht der Persönlichkeit. Sie wird um so entscheidender, je stärker sich unser Leben mechanisiert und differenziert und je mehr Masse wir zu Gemeinschaften zu formen haben."

Ich erinnere ferner an die gründliche philosophische Untersuchung, in der Kerschensteiner im Maiheft [1930] der Zeitschrift "Die Erziehung" "Das Problem der Lebensnähe unserer Schulen" erörtert; und im Maiheft [1930] der Zeitschrift, die von Schülern der Odenwaldschule herausgegeben und selbst gedruckt wird, veröffentlicht Gerhard Fuchs, der in unserer Schule aufgewachsen ist und seit Jahren als stud. jur. in Leipzig lebt, ergreifende Klagen über die Schwierigkeiten des Überganges aus der Odenwaldschule in die sogenannte wirkliche, große Welt. Nur einige charakteristische Sätze darf ich anführen: "Solange man in der Odenwaldschule lebt, erscheint einem, gefangen von der Intensität ihres Lebens, nur das wichtig, was unmittelbar mit ihr im Zusammenhang steht, was in ihr selbst vorgeht, woran man selbst in diesem Augenblick, jetzt und hier, mit allen seinen Betätigungsmöglichkeiten beteiligt ist. Hierin liegt die Kraft der Odenwaldschule, die Stärke ihrer Erziehungswirkung, aber auch zugleich ihre Gefahr ... Der Abgang von der Odenwaldschule bedeutet Abbruch eines in den menschlichen Bindungen wie in der Arbeit und der geistigen Auseinandersetzung außerordentlich intensiven Lebens. Die Verbundenheit mit den geistigen Inhalten der Odenwaldschule wird abstrakt, da die unmittelbare Berührung mit den Einrichtungen und Menschen, die sie verkörpern, fehlt . . . Der Abgehende muß sich neue menschliche Beziehungen, neue Betätigungsmöglichkeiten schaffen. Er muß sich einen Ort in der menschlichen Gesellschaft suchen, der ihm, seiner geistigen Haltung und seiner individuellen Befähigung nach, Betätigungsmöglichkeit ist. Er muß sich einen geistigen Ort schaffen, von dem aus er die Erscheinungen des heutigen Lebens beurteilen kann, will er sich nicht den Vorurteilen seiner zufälligen Umgebung ausliefern. Er muß sich in den Lebensprozeß der gegenwärtigen Gesellschaft eingliedern - was nicht anpassen heißt -, um selbst Lebensmöglichkeit zu haben. Das bedeutet eine geistige Auseinandersetzung mit den Einrichtungen der Zeit: Staat, Kirche, Wirtschaftsordnung, sozialer Gliederung, mit ihren großen geistigen, kulturellen, politischen, sozialen Bewegungen. Es bedeutet zugleich eine Reihe praktischer Entscheidungen, von denen die wichtigste die Berufswahl ist. Allen diesen geistigen und praktischen Entscheidungen, die bestimmend für sein ganzes Leben sein können, also dem Aufbau seines Lebens, steht der abgehende Odenwaldschüler mit dem alleinigen Rüstzeug einer idealistischen Weltanschauung gegenüber. Ihm fehlt eine wirksame, mehr als theoretische Kenntnis der gegenwärtigen Gesellschaft . . . Die Odenwaldschule ist ein Versuch einer reinen Verwirklichung bestimmter Anschauungen über Erziehung und Menschenbildung, der Versuch einer Verwirklichung bestimmter letzter und allgemeiner Ideale im Zusammenhang von Menschen. Sie unternimmt diesen Versuch auf einem materiell verhältnismäßig gesicherten Boden, in einem Raum, der einen Idealfall von Freiheit und Ungebundenheit darstellt, in Freiheit von ungewollten äußeren Einflüssen, losgelöst von den kulturelllen, sozialen, politischen Wirklichkeiten der Gegenwart, unbelastet durch die objektiven Tatsachen alter, kultureller Tradition. Sie kann darum in Freiheit aufbauen, ohne erst entleerte, darum unwahr und unfruchtbar gewordene Einrichtungen zerstören und gegen deren Verteidiger kämpfen zu müssen. Sie wird darum nicht berührt von dem in der Gegenwart vor sich gehenden Untergang einer Kultur. Sie wird auch nicht lebensnah berührt von den Anzeichen einer neu aufsteigenden Kultur ... Muß nicht eine Erziehungsgemeinschaft in engstem Zusammenhang mit der Gegenwart stehen, um in dieser Zeit lebensfähige Menschen in dem angedeuteten idealen Sinne hervorzubringen? Oder gibt es eine ideale ErziehungsGemeinschaft, die gleich ist für alle Zeiten, weil es einen für alle Zeiten gültigen Erziehungsgrundsatz gibt? ... Die Lösung kann", so schließt der sehr ehrlich geschriebene Aufsatz, "nur gefunden werden in der Lösung des Problems: zeitgebundene oder zeitlose Erziehung. - So muß ich denn am Ende meiner Ausführungen eingestehen, daß ich dieses Problem nicht lösen kann, daß ich mich zwischen beiden Möglichkeiten nicht entscheiden kann angesichts der Schwierigkeiten des Übergangs auf der einen und der Tatsache Odenwaldschule auf der anderen Seite. Ich muß eingestehen, daß ich keine Abhilfe für jene Schwierigkeiten der alten Kameraden weiß, und muß mich begnügen, die Schwierigkeiten genannt und das Problem aufgezeigt zu haben. - Denn was bedeutet es denn, wenn ich Zeitverbundenheit, Zusammenhang mit den Problemen der Gegenwart verlange von einer Welt solcher Eigengesetzlichkeit, wie es die Odenwaldschule ist, von einer Erziehungsarbeit, deren oberster Grundsatz der Glaube an die Idee, an die Kraft der Idee im Menschen, das heißt: Glaube an den Menschen ist?!" -

Hierauf erwidert unser früherer Schüler cand. phil. Walter Solmitz (Hamburg) in der Juli-August-Nummer [1930] unserer Schulzeitschrift: "... G. F.'s Aufsatz widerlegt sich selbst: er zeigt, daß die Erziehung der Odenwaldschule doch nicht falsch sein kann und, hier jedenfalls, erreicht hat, was sie sich vorgesetzt hat. So - eben so, wie es Gerhard Fuchs tut - soll man fragen, soll man fragen müssen, wenn man aus der Schulzeit ins Leben tritt"; gerade eben dies Verhältnis der Idee zur Wirklichkeit soll dem beginnenden Erwachsenen ein brennendes und notwendiges Problem sein; der Irrtum des Aufsatzes besteht nur darin, daß er als Schuld und Mangel der Odenwaldschule empfindet, was er ihr als besonderes Verdienst anrechnen sollte ... Sehr ernst ist auch die Frage der Berufswahl, die Gerhard anschneidet. Wie soll ein Kind, das abgetrennt von allen normalberuflich tätigen Menschen, in einem sozial luftleeren Raum aufwächst, mit allen sachlichen und menschlichen Umständen vieler Berufe ganz unbekannt, plötzlich sich selbst für einen Beruf entscheiden können? - Dieser Einwand gegen eine Erziehung auf dem Lande wäre tatsächlich sehr schwerwiegend - wenn nicht die ganze These von dem "luftleeren Raum", von dem "rein idyllischen" Charakter der Odenwaldschule auf einer sehr irrigen Abstraktion beruhte. Was tatsächlich in der Odenwaldschule vorgeht und wie dort gelebt wird, das entspricht nach meinen Erfahrungen jenen teils klassenpolitisch, teils sentimentaNromanhaft oder sonstwie verkehrten Vorstellungen von ihr in keiner Weise. - Man braucht z. B. nur daran zu erinnern, daß die Ferien, in denen die Odenwaldschüler meist in Städten leben, die Wanderungen und Schulreisen durchaus mit zum "Programm" der Ausbildung gehören. Und vor allem ist es irreführend zu sagen, daß, weil die Odenwaldschule auf dem Lande liege, ihre Einwohner, an der näheren Fühlungnahme mit "anderen" Menschen gehindert, gänzlich "isoliert" leben müssten. Die erwachsene und jugendliche Bevölkerung der Odenwaldschule setzt sich erfahrungsgemäß zusammen aus psychologisch, soziologisch und auch "weltanschaulich" so viel verschieden=, ja gegensätzlich gearteten Menschen, wie man und wie besonders ein Kind sie nicht oft in seiner Umgebung und zu seiner Verfügung findet. Das Milieu der Odenwaldschule ist so "gemischt", wie es kaum das Milieu eines Elternhauses sein dürfte - dazu dauernd erweitert durch die vorübergehende Anwesenheit von Eltern, Gastlehrern, "Interessierten" verschiedenster Provenienz . . . Die strenge idealistische Forderung der inneren Selbständigkeit, der Freiheit, will das Leben des Odenwaldschülers nicht erleichtern, sondern erschwert es mehr als irgendeine noch so strenge Lebensregelung. Die Forderung der organisch-harmonischen Einheitlichkeit des persönlichen Lebens, die Forderung der stets erneuten Besinnung auf die Idee provoziert die Problematik des eigenen Daseins. Die Gemeinschaftserziehung schärft das Organ für die Fragen sozialen Zusammenlebens. Aber die humanistisch orientierte Bildung entwickelt die Möglichkeiten des einzelnen, mit seiner Selbsttätigkeit je nach Veranlagung und Begabung fertig zu werden; in theoretischer Hinsicht veranlaßt sie ihn, einzelne Fragen auf die allgemeinen menschlichen Probleme zu beziehen und zu bemerken, daß die sogenannten "dringenden Gegenwartsfragen unserer Zeit" die Menschheit nicht erst seit heute und gestern beschäftigen." ,Die Odenwaldschulerziehung versucht also nicht, ihrem Zögling die von Gerhard beklagten Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen, sondern im Gegenteil sie ihn, in der Besinnung auf die Idee, erst recht sehen zu lehren - und seine Fähigkeiten auszubilden, mit denen er vielleicht einmal ihrer Herr werden kann. Sie versucht, ihre Schüler in jene unausweichlichen Fragestellungen zu zwingen - und bei Gerhard jedenfalls ist es ihr vortrefflich gelungen. In dieser Situation läßt sie ihren Schüler, mit voller Absicht, allein." -

"Nach allem Gesagten kann Gerhards Fragestellung: "Zeitlose oder zeitgebundene Erziehung?" in dieser Form nicht mehr recht sinnvoll erscheinen. Die Bildungsidee der Odenwaldschule, selbstverständlich historisch zeitbedingt, ist in ihrem Idealismus auch wiederum auf die Zeit eingestellt, wenn vielleicht auch mehr auf die Zukunft als auf die Gegenwart. Trotzdem wird mit Gerhards Frage vielleicht von ferne an jene Probleme gerührt, die nicht die Verwirklichung, sondern die die inneren Schwierigkeiten des idealistischen Erziehungsgedankens betreffen ..."

Anfang Oktober 1930 wurde diese Aussprache mündlich fortgesetzt. Zur Feier des 20jährigen Bestehens der Odenwaldschule und des 60. Geburtstages ihres Gründers waren gegen 150 fürhere Zöglinge, teils im Berufsleben stehende Männer und verheiratete Frauen, hierhergekommen. Nach dem eigentlichen Festtage rangen wir drei Tage lang miteinander um die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, und die früheren Mitglieder unserer Schule wurden sich ihrer Zugehörigkeit zu uns von Stunde zu Stunde stärker bewußt. Es war ergreifend zu bemerken, daß Menschen, die vor dem Kriege oder in den Kriegsjahren als Schüler hier gelebt hatten und seitdem nicht mehr hier aufgetaucht waren, noch tief verwurzelt schienen in der Welt unserer Schule.

Ich wurde bestärkt in der Überzeugung: Je chaotischer sich die heutige Welt in kultureller Hinsicht gestaltet, desto dringender brauchen unsere Kinder den Mikrokosmos einer wirklich organischen, einheitlichen LebensGemeinschaft. Trotz der bestehenden Kultur- und Bildungskrisis ist die seelische Struktur der Kinder heute noch genau dieselbe wie vor zwanzig Jahren. Wenn wir freilich - was wir sehr ungern und nur in seltenen Ausnahmefällen tun - 17- bis 18jährige Jünglinge oder Mädchen, die in der Großstadt aufgewachsen sind, noch bei uns aufnehmen, so scheinen sie sich hauptsächlich für Technik und Sport zu interessieren, können absolut nicht verstehen, daß wir uns in zigarettendunstfreier Atmosphäre wohlfühlen, und fragen ernsthaft, ob wir unsere Gebäude anstatt nach Goethe, Schiller usw. nicht besser nach zeitgenössischen Schriftstellern benennen sollten. Kommen aber Kinder - von höchstens 12 Jahren - zu uns, so zeigen sie sich vom ersten Tage an völlig empfänglich für die Atmosphäre unserer Gemeinschaft, erglühen allmählich für Schillersche Dichtung und leben später, als heranwachsende junge Menschen, mit Selbstverständlichkeit jahrelang in der Welt Goethes; viele von ihnen lernen mit größter Freudigkeit und Gründlichkeit Griechisch und wachsen in die Überzeugung hinein, daß der gewaltige Strom europäischen Geistes, und besonders des deutschen, in Hellas entspringt, und unsere größten Heroen aus Homer, Sophokles, Platon lebten. Unter zwei Voraussetzungen werden die Landerziehungsheime in Gegenwart und Zukunft eine kulturelle Bedeutung haben. Nach Gesinnung, Organisation und Arbeitsmethode müssen sie Bildungsstätten im Sinne Goethes darstellen, aus der Bildungsidee Goethes lebend, den Goetheschen Menschen vor Augen. Zugleich müssen sie sich der Mission bewußt sein, die Fichte ihnen aufgetragen hat: an die Macht der von Liebe erfüllten Erziehung als die stärkste Macht zwischen Himmel und Erde glauben, die Jugend zu tapferen Kämpfern heranwachsen lassen, die ihr Leben lang, allen irdischen Gewalten zum Trotz im Namen wahren Menschentums gegen die Übel der Zivilisation streiten, im Geiste ihres großen Propheten Fichte!