Hanno Schmitt: Die Besucherbücher der Odenwaldschule (1910-1933). in: Nationale und internationale Verbindungen der Versuchs- und Reformschulen in der Weimarer Republik. Beiträge zur schulgeschichtlichen Tagung vom 17. bis 18. November 1992 im Hamburger Schulmuseum, hrsg. von Reiner Lehberger (=Hamburger Schriftenreihe zur Schul- und Unterrichtsgeschichte, 5), Hamburg 1993, S. 130-135. - Mit aktualisiertem Anmerkungsteil wieder: Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/1999/0006.html



Hanno Schmitt

Die Besucherbücher der Odenwaldschule (1910-1933)


Die Besucherbücher der Odenwaldschule beginnen am 15. Mai 1910, also mit Gründung der Schule [Anm. 1]. Bis zum politischen Sieg der Nationalsozialisten im März 1933 waren sie auf 668 dichtbeschriebene Seiten angewachsen. Sieht man von den sicherlich auch vergessenen Eintragungen ab, so ist die Quelle vollständig, denn es gibt bis 1933 keine zeitlichen Lücken. Die eigenhändigen Einträge enthalten in der Regel Datum des Besuchs, Name und Vorname der Besucherinnen oder der Besucher. Hinzu kommen zumeist Angaben über Wohnort und akademische Titel (in Einzelfällen auch über den Beruf) sowie bei Ausländerinnen und Ausländern das Herkunftsland.

Ich halte die Besucherbücher der Odenwaldschule für eine außerordentlich interessante und aussagekräftige Quelle für die Erforschung nationaler und internationaler Verbindungen der Versuchs- und Reformschulen in der Weimarer Republik. Vermutlich gibt es kaum eine zweite Quelle, die rund 11500 Namen (zwischen 1910-1933) von Personen verzeichnet, die aus allen Erdteilen unseres Globus, natürlich auch aus ganz Europa und allen Teilen Deutschlands nachweislich zu einer deutschen Versuchs- und Reformschule (eben der Odenwaldschule) gereist sind.

Bisher habe ich die Besucherbücher im Archiv der Odenwaldschule kopiert und sie mir für diesen kleinen Bericht etwas genauer angeschaut. Meine selbstverständlich vorläufigen Arbeitsergebnisse möchte ich Ihnen in sechs thesenartigen Punkten vorstellen, um dann am Schluß noch einige Überlegungen zur weiteren Auswertung der Quelle zur Diskussion stellen.

  1. Selbstverständlich gab es ganz unterschiedliche "Gäste" der Odenwaldschule. Eine interessante Differenzierung bietet in diesem Zusammenhang ein Schülerbericht mit dem Titel "Gäste der Odenwaldschule" im "Neuen Waldkauz" vom Oktober 1927: "Vor kurzem war eine große Gruppe von Gästen hier. Sie blieb nur einen Tag und wollte natürlich die ganze Odenwaldschule kennenlernen. Sie liefen von einem Kurs zum andern, blieben 10 Minuten und verschwanden wieder [...]. Uns ist es bei diesen Leuten gleich, ob sie da sind oder nicht, aber wenn sie so das ganze Zimmer verdrehen, haben weder sie, noch wir etwas davon. [...] Aber solche große Gruppen von Gästen kommen nicht oft. Im allgemeinen kommen die Gäste einzeln oder in ganz kleinen Gruppen. Am heufigsten besuchen uns Lehrer oder Leute, die sich für die neuen Schulen interessieren. Manche leben nur einfach neben uns her, ohne daß sie uns weiter bemerkbar sind, viele, die sich für uns interessieren, sind auch für uns interessant. [... Sie halten zuweilen] Vorträge über Wissenschaftliches, über andere Menschen und Länder, über Politik [...]. Oft haben wir uns mit Gästen, die von sehr weit herkamen, so gut verstanden, daß sie bald ganz zu uns gehörten. das sind uns die liebsten Gäste, die bald keine Gäste mehr sind" [Anm. 2]. Zu den geliebten Gästen der Anfangsphase zählten beispielsweise Otto Erdmann und vor allem Martin Wagenschein, die beide später Lehrer der Odenwaldschule wurden.

  2. Die reformpädagogische Praxis der Odenwaldschule hatte eine außergewöhnliche Anziehungskraft auf Maler, Schriftsteller, Dichter, Gelehrte und Intellektuelle der Weimarer Zeit. Einige der nachfolgend genannten Personen waren regelmäßige Gäste der Odenwaldschule und auch persönliche Freunde von Paul Geheeb. Die Besucherbücher nennen u. a.: Ernst Barlach, Käthe Kollwitz, Karl Schmidt-Rottluff, Fidus, Eugen Diedrichs, Alfred Kubin, Golo Mann, Ludwig Thoma, Karl Wolfskehl, Käte Kruse, Karl Barth, Max Kommerell, Alfred Weber, Martin Buber, die Familie Cassiere und Wedekind.

  3. Von den bis heute noch zuweilen genannten Reformpädagogen haben sich in die Besucherbücher eingetragen: Adophe Ferrièr, Kurt Hahn, Fritz Karsen, Wilhelm Blume, Elisabeth Rotten, Karl Wilker, Wilhelm Flittner, Franz Hilker, Ludwig Pallat, Beatrice Ensor und Eduard Spranger. - Für die in diesem Kreise diskutierte Frage nach den Kommunikations- und Öffentlichkeitsstrukturen unter den Reformpädagogen waren vermutlich die regelmäßigen Besuche von Schülern und Lehrern anderer Landerziehungsheime prägender. So kamen am 10. Mai 1923 beispielsweise "Alfred Ehrentreich mit acht Jungens aus Wickersdorf"; Wilhelm Blume kam mit dem Schülerausschuß der Schulfarm Insel Scharfenberg. Aus der Dürerschule in Dresden kam eine ganze Klasse, um die Rheinebene aber auch die Koedukation auf der Odenwaldschule zu studieren [Anm. 3]. Vom 25.-27. Oktober 1924 fand ein Treffen der Landerziehungsheime statt. Es kamen Vertreter aus Bieberstein, Wickersdorf, Hellerau, Schorndorf, Gantersheim, Letzlingen, Salem, der Bergschule Hohenwaldhausen und dem Landerziehungsheim am Solling bei Holzminden.

  4. Von besonderem öffentlichen Interesse war selbstverständlich auch die koedukative Erziehungs- und Unterrichtspraxis der Odenwaldschule. Die Zahl der Besucherinnen war sehr groß; auch waren alleinreisende Frauen keine Seltenheit: die bekanntesten unter ihnen sind wohl Klara Zetkin und Minna Cauer.- Die Debatte um Koedukation wurde von Paul Geheeb auch in den Weltbund für die Erneuerung der Erziehung [Anm. 4] eingebracht. Anläßlich des 1925 in Heidelberg stattfindendne Weltkongresses, an dem 500- 6oo Pädagoginnen und Pädagogen aus 28 Ländern teilnahmen verzeichnet das Besucherbuch die Namen führender internationaler Reformpädagogen. Auf dem Heidelberger Kongress wurde Koedukation noch kontrovers diskutiert. Zwei Jahre später schrieb Geeheb im Zusammenhang des nächsten Weltkongresses in Locarno: "Während vor zwei Jahren [...] die Koedukation noch eine umstrittene Frage gewesen so daß sich die New Education Fellowship als solche noch nicht für ihre Durchführung einzusetzen vermochte, drang jetzt die Überzeugung siegreich durch, daß Koedukation eine Notwendigkeit für alle Kinder, also keine Frage der Rassen und Zonen mehr ist, sondern alle Mitglieder unseres Kongresses sich dafür einsetzen sollten, daß das private und öffentliche Erziehungswesen der ganzen Erde im Sinne der Koedukation umgestaltet werde." [Anm. 5]

  5. Die Besucherbücher dokumentieren schon durch die Zahl von schätzungsweise 2000 ausländischen Besucherinnen und Besuchern die internationale Bedeutung der Odenwaldschule. Die Kontakte zum Weltbund waren bestens, wobei der Vorstand (Adolphe Ferrièr, Beatrice Ensor, Piere Bovet, Elisabeth Rotten) häufige Besucher der Odenwaldschule waren. Paul Geheeb schrieb über den Zusammenhang anläßlich des von 1200 Personen besucht Weltkongresses zur Erneuerung der Erziehung im Jahr 1927 (Locarno): "Mich mußte es immer wieder aufs tiefste ergreifen, daß die führenden Menschen aus den verschiedesten Ländern und Erdteile gerade diejenigen Erziehungsideale vertraten und sich mit denselben Problemen beschäftigten, die im Mittelpunkt unserer Arbeit in der Odenwaldschule stehen, und daß jene Menschen mit dieser aufs genaueste vertraut schienen und von unserer Schule wie von der ihrigen sprachen. Wir sind uns der schweren Verpflichtung bewußt, die große Hoffnungen zu erfüllen, die die besten Menschen unserer Zeit ihre Augen auf den Odenwald gerichtet sein lassen. Der Internationale Arbeitskreis für Erneuerung der Erziehung (New Education Fellowship) und die Odenwaldschule: wir gehören fest und unauflöslich zusammen." [Anm. 6]

  6. Die Besucherbücher sind auch ein Indikator für das Interesse der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit an reformpädagogischen Alternativen im ersten Drittel unseres Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang ergeben die jährlichen Besucherzahlen ein deutliches Bild. Von den rund 11500 Besucherinnen und Besuchern im Untersuchungszeitraum 1910 - 1933 kamen im Gründungsjahr der Schule immerhin 161 Personen. Diese Zahl blieb konstant bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges. 1914 besuchten nur 11 Personen die Odenwaldschule. Am Kriegsende (1918) stiegen die Zahlen bereits auf 341, um 1921 mit 710 einen ersten Höhepunkt zu erreichen.
    1925 stiegen die Besucherzahlen auf über 800 und erreichten 1930 die Höchstzahl von 1037 Besucherinnen und Besuchern.

Die genannten Zahlen belegen (wie übrigens auch statistische Angaben zu den Versuchsschulklassen) [Anm. 7], daß das öffentliche Interesse an reformpädagogischer Erziehungs- und Unterrichtspraxis in der Zeit der Weimarer Republik sich kontinuierlich verbreitert hat. Die heute immer noch vertretene Forschungsthese von der "Krise der Reformpädagogik um 1927" bedarf deshalb dringend einer Revision. Nicht die "Wiederentdeckung der Grenzen" (Zeidler) sondern der politische Sieg des Nationalsozialismus hat die reformpädagogische Schulwirklichkeit der Weimarer Republik zerstört.

Ich komme zum Schluß:

Die hier vorgetragenen Überlegungen zu den Besucherbüchern der Odenwaldschule können selbstverständlich eine empirische, computergesteuerte Auswertung des breiten Datenmaterials nicht ersetzen. Diese Arbeiten sind aber äußerst mühevoll und zeitaufwendig! Noch relativ einfach sind dabei eine empirisch haltbare Differenzierung nach Geschlecht und nationaler bzw. internationaler geographischer Herkunft der Besucher. Wieviele der 11500 Einträge durch Gelehrtenkalender und andere biographische Hilfsmittel genauer rekonstruiert und kommentiert werden können ist ein forschungspraktisches Problem. Durch Vergleich mit den im Archiv der Odenwaldschule liegenden Schülerlisten werden sich weitere Eintragungen entschlüsseln lassen. Aus langjähriger Erfahrung bei der Kommentierung von Briefen weiß ich, daß sehr viel möglich, aber auch ein immenser Zeitaufwand nötig ist! Für die auf kurzfristige Publikationserfolge ausgerichtete Forschungspraxis ein wenig lohnendes Unternehmen.

Andererseits haben die bisher aus dem 18. Jahrhundert publizierten und kommentierten Gästebücher die Erforschung der Öffentlichkeitsstruktur der Spätaufklärung präzisieren können. Ich denke dabei vor allem an die Besucherlisten der 1773 durch Friedrich Eberhard von Rochow in Reckham erbaute Dorfschule [Anm. 8] oder auch an das Gästebuch der philanthropischen Erziehungsanstalt des Dichters Pfeffel in Colmar [Anm.9]. -

Haben die Besucherbücher der Odenwaldschule eine ähnliche Relevanz für die Erforschung reformpädagogischer Öffentlichkeitsstrukturen der Weimarer Zeit? Ich bin mir da noch sehr unsicher, besonders im Hinblick auf das Verhältnis von Zeitaufwand und Forschungsergebnis.


Anmerkungen

Anm. 1
Huguenien, Elisabeth: Die Odenwaldschule. Mit einem Vorwort von Peter Petersen: Die Stellung des Landerziehungsheims im Deutschen Erziehungswesen des 20. Jahrhunderts. Ein typologischer Versuch (=Forschungen und Werke zur Erziehungswissenschaft, 5), Weimar 1926. - Kurzweil, Zwi Erich: Die Odenwaldschule (1910-1934). In: Paedagogica Historica, Jg. XIII (1973), S. 23-56. - Für die Geschichte nach 1945: Hansen-Schaberg, Inge: Minna Specht - Eine Sozialistin in der Landerziehungsheimbewegung (1918-1951). Untersuchung zur pädagogischen Biographie einer Reformpädagogin (=Studien zur Bildungsreform, 22), Frankfurt [u.a.] 1992.

Anm. 2
Eine Gruppe von 12-15jährigen Kameraden: Gäste der Odenwaldschule. In: Der Neue Waldkauz, hrsg. von Schülern der Odenwaldschule, Nr. 9: Okt. 1927, S. 125f.

Anm. 3
10 Tage in der OSO, Juli 1929. Dieser von Schülern der UIIIO der Albrecht Dürer Schule angefertigte handschriftliche und bebilderte Reisebericht befindet sich ebenfalls im Archiv der Odenwaldschule.

Anm. 4
Röhrs, Hermann: Die Reform des Erziehungswesens als internationale Aufgabe. Entwicklung und Zielstellung des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung, Rheinstetten 1977; 2. Aufl. u.d.T.: Röhrs, Hermann: Der Weltbund für Erneuerung der Erziehung. Wirkungsgeschichte und Zukunftsperspektiven (=Schriftenreihe des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung, 1), Weinheim 1995; ohne wie Vorworte der 1. und 2. Aufl. sowie die Foto-Dokumentation im Anhang wieder in: Röhrs, Hermann: Reformpädagogik und innere Bildungsreform (=Hermann Röhrs. Gesammelte Schriften, 12), Weinheim 1998, S. 178-290.

Anm. 5
Geheeb, Paul: IV. Weltkongreß für Erneuerung der Erziehung. In: Der Neue Waldkauz, hrsg. von Schülern der Odenwaldschule, Nr. 8: Sept. 1927, S. 94.

Anm. 6
Ebd. S. 99f.

Anm. 7
Vgl.: Schmitt, Hanno: Topographie der Reformschulen in der Weimarer Republik: Perspektiven ihrer Erforschung. In: 'Die Alte Schule überwinden'. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, hrsg. von Ullrich Amlung, Dietmar Haubfleisch, Jörg-W. Link und Hanno Schmitt (=Sozialhistorische Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung, 15), Frankfurt 1993, S. 9-31. - Schmitt, Hanno: Versuchsschulen als Instrumente schulpädagogischer Innovation vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, hrsg. von der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Weinheim [u.a.] 1993, S. 153-178, bes. S. 162-167: 'Die reformpädagogischen Versuchsschulen der Weimarer Republik'. - Schmitt, Hanno: Zur Realität der Schulreform in der Weimarer Republik. In: Politische Reformpädagogik, hrsg. von Tobias Rülcker und Jürgen Oelkers, Bern [u.a.] 1998, S. 619-643.

Anm. 8
Verzeichnis der Besucher der Reckahnschen Schule von 1772/1805. In: Friedrich Eberhard von Rochows sämtliche pädagogische Schriften hrsg. von Fritz Jonas und Friedrich Wienecke, Bd. 4, Berlin 1910, S. 437-463.

Anm. 9
Gottlieb Konrad Pfeffels Fremdenbuch. Mit Biographischen und Culturgeschichtlichen Erläuterungen, hrsg. von H. Pfannenschmid. Colmar 1892, 454 Seiten.