Michael Neumann: Gemeinsame Wege - gemeinsame Räume. Architektonische Verpflichtungen im protestantischen Kirchenbau nach Schmalkalden und nach Eisenach. Gekürzte Fassung des Vortrags von der sechsten Tagung der Hessisch-Thüringischen Denkmalpflege in Gelnhausen 1996. In: Denkmalpflege in Hessen. Jg. 1996, Heft 1-2, S. 8-14. - Ohne Abb. wieder: Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1999/0005.html



Michael Neumann

Gemeinsame Wege - gemeinsame Räume

Architektonische Verpflichtungen im protestantischen Kirchenbau nach Schmalkalden und nach Eisenach

Gekürzte Fassung des Vortrags von der sechsten Tagung der Hessisch-Thüringischen Denkmalpflege in Gelnhausen 1996



Die Zeiträume, in denen sich Hessen und Thüringen immer wieder ein Stück des Weges begleitet haben, sind ohne jene gemeinsamen Wurzeln, die bis tief in die Zeiten der Christianisierung zurückreichen, kaum denkbar. Hatte doch Bonifatius schon seit 721 mit seinen christlichen Vorposten, wie zum Beispiel in Fritzlar hier und Erfurt dort, seine Mission weit in die noch heidnischen Gebiete des Nordostens unserer Regionen hineingetragen und später mit seinen Abteien in Fulda und Hersfeld ausgebaut.

Der verworrene Weg der hessisch-thüringischen Zeit in das hohe Mittelalter hinein wird um 1131 überschaubar, als die vom Erfolg gekrönten Ludowinger in den erblichen Stand der Landgrafen von Thüringen erhoben werden. Mit dem Tod ihres letzten männlichen Stammhalters im Jahr 1247 bricht der gemeinsame Weg ab. Ein politisches Ende, das zwar von der nach Marburg abgeschobenen und dort heilig gesprochenen Landgrafenwitwe Elisabeth überstrahlt wird und seit dem ein verbindendes Element mit hohem ideellen Rang für beide Länder darstellt. Wartburg und Elisabethkirche stehen als Symbole für diese vergangenen und gegenwärtigen Gemeinsamkeiten.

Eine andere herausragende Gestalt - die wie die Eruption eines Vulkanes ganz Europa erschüttert und durcheinander gebracht hat, soll von nun an in zentraler Position im Hintergrund der folgenden Ausführungen stehen. Ein Gottesmann, der über den Einzugsbereich unserer Länder hinaus, als Beweger, Befreier und Neuerer galt und für Hessen und Thüringen zu einer fast bilateralen Erscheinung geworden ist und entweder auf der Flucht oder von neuen Aufgaben getrieben, fortwährend über unsere Landesgrenzen geeilt ist. Die Rede ist von Martin Luther, dessen Spuren in den Kerngebieten der Reformation, sei es in Creuzburg, Netra, Homberg, sei es in Marburg oder Eisenach sehr eng beieinander liegen. Allein die unzähligen Nachtquartiere und liebevoll gepflegten Lutherstuben bezeugen, daß der Mann, der die Welt einer neuen Ordnung zuführen wollte, ständig auf Reisen sein mußte, um seine Ziele durchsetzen und um theologische Mißverständnisse geraderücken zu können.

Mit dem Bild in das Lutherstübchen, in dem der kränkelnde, von „Steinen“ geplagte Reformator 1537 durch das berühmt gewordene Guckloch die Predigten in der Schmalkaldener Stadtkirche verfolgen konnte, ist eine Stadt ins Blickfeld geraten, die wie keine andere das historische Bindeglied zwischen Thüringen und Hessen spürbar macht. Denkwürdige Gemeinsamkeiten sind mit diesem Ort und seinen Räumen verbunden; man denke an den herrlich gelegenen Sommersitz des Hessischen Landgrafen Wilhelm IV. am Saum des Thüringer Waldes hoch über der Stadt - der zu Zeiten der Reformation achtmal zum Schauplatz europäischer Geschichte geworden war. Man denke an die bedeutende Tagung des Schmalkaldischen Bundes im Jahr 1537, an der 28 deutsche Fürsten und 22 Repräsentanten der Reichs- und Hansestädte teilnahmen und zusammen mit 42 führenden evangelischen Theologen ihr Glaubens- und Trutzbündnis gegen Kaiser Karl V. mit den 23 Schmalkaldischen Artikeln von Martin Luther bekräftigten.

Auch der Mißerfolg - die Zerschlagung dieses Bündnisses - ist Geschichte.


Der Kanzelaltar als Zentrum einer neuen Liturgie

Dennoch ist die Hefe von Schmalkalden aufgegangen. Ich denke hier an einen Schöpfungsakt für den protestantischen Kirchenbau, der 44 Jahre nach Luthers Tod mit der Schloßkapelle der Wilhelmsburg geschaffen wurde. Eine sakrale Neuschöpfung, die der neuen kirchlichen Aufgabe, die bislang ohne festes Konzept vor sich hingeschlingert hatte, eine gewisse Orientierung verleihen konnte. Eine Orientierung über die Landesgrenzen hinaus - denn die Lehre Luthers war zwischenzeitlich überregional - quasi grenzenlos geworden.

Sowohl der Raum, seine Disposition, als auch die Herausstellung der wichtigsten und vornehmsten Stücke, bestehend aus Taufe, Altar, Kanzel und Orgel, stellen unübersehbare Meilensteine für den protestantischen Kirchenbau dar.

Die neue, uns heute längst vertraute Ordnung des protestantischen Predigtraumes war zu dieser Zeit noch nicht zur Blüte gekommen. Der protestantische Programmbau mit seiner klaren Ordnung, mit seiner auf Kanzel und Altar angelegten Symmetrie, blieb der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg vorbehalten.

Trotz der geänderten Liturgie stand der Geistliche zunächst noch - auch nach Luthers Ableben - auf der seitlich abgesetzten Kanzel am Chorbogen, sei dies in Marburg, sei dies in der Lutherstadt Eisleben, wo der Geistliche im Schatten jener unbeugsamen Palmen predigte, die dort den Schalldeckel in so exotischer und schwereloser Art zu tragen hatten. Wir kennen diesen Baum sowohl in Thüringen als auch im hessischen Waldeck. Später sei auf dessen Bedeutung noch ausführlicher eingegangen.

Luther selbst hatte bereits ein halbes Menschenleben vorher schon so manchen Kanzelkorb betreten können, der weit mehr seinen Vorstellungen entsprach und nicht nur den akustischen und visuellen Ansprüchen der Gemeinde Rechnung trug, sondern gleichermaßen den Repräsentationsanspr&uum l;chen des zu verehrenden Landesherren in seiner Loge förderlich war.

Die evangelischen Schloßkapellen von Torgau aus dem Jahr 1544, von Rotenburg a.d.F. aus dem Jahr 1581, von Schmalkalden von 1590, haben für die nachfolgende Entwicklung im protestantischen Kirchenbau Pate gestanden, wobei Torgau durch Luther selbst eingeweiht und mit seiner Predigt an den Fürsten und seine Untertanen zwar sanktioniert worden ist, sicherlich aber - trotz Luthers wohlwollender Worte und trotz seiner Lobesrede - nicht als Prototyp des evangelischen Kirchenbaus bezeichnet werden kann. Seine Bemerkung “Salomo hat nirgends so einen schönen Tempel gebauet als Itzunder Torga hat” ist eher als eine zeitgenössische Höflichkeitsfloskel zu werten.

Dennoch gilt diese Kapelle als der erste Sakralbau, der in keinerlei Beziehung mehr zum herkömmlichen, katholischen Kirchenbau stand, in dem „Doctor Martin, der Gottes-man, ohne Weihrauch und Fahnen”, wie in einer Widmung an die Herzöge von Sachsen zu lesen ist, „ohne Kertz noch Weihwasser ... das göttlich wordt“ und “die erste Predigt darinne thet”.

Sicher waren in Torgau im Jahr 1544 durch Johann Friedrich Herzog von Sachsen und seinem Architekten Nickel Gromann (1537-74) wesentliche Maßstäbe für den evangelischen Kirchenbau gesetzt worden, die den Ordnungsprinzipien der Zeit Rechnung trugen, jedoch noch so unklar definiert waren, daß sie in ihrer unterschiedlichen Bewertung von zwei Raumzonen um zwei Mittelpunkte - Altar hier und Kanzel dort - im Nachhinein eher Verwirrung als Klärung gestiftet haben. Allein der Platz des Fürsten über der Gemeinde und über der Kanzel in der Achse zum Altar scheint hier geklärt zu sein. „Denn, ob Stall oder Tempel” - um es sinngemäß mit Luther auszudrücken - das Verhältnis, die Ordnung zur weltlichen Obrigkeit mußte geklärt und zum Ausdruck gebracht sein. Mußte doch, trotz der von Luther gepredigten Freiheit, eine äußere Ordnung, eine Unterordnung, garantiert sein.

Zurückkommend auf jenen soeben angedeuteten Bau, in dem etwas Besonderes für die Entwicklung der protestantischen Kirche vorbereitet worden ist: Schmalkalden. Was war an dieser Kirche so andersartig? Was war in Schmalkalden so exemplarisch für den evangelischen Sakralraum aufbereitet worden? Was war dort 1590 von dem hessischen Landgraf Wilhelm IV. so sehr viel eindeutiger definiert worden als 46 Jahre zuvor in Torgau? Was dort noch Anlaß zur Spekulation gegeben hatte - die unterschiedlichen Standorte von Kanzel und Altar betreffend - war nun hier auf dem Sommersitz des Landgrafen in ein klares Verhältnis gebracht worden. Auffallend ist die zentrale Plazierung der Kanzel hoch über dem längsgerichteten Saal gegenüber der Fürstenloge, hoch über der Schloßgemeinde.

Über dem steinernen Tischaltar schwebt die Kanzel, über ihr erhebt sich der Singchor mit Orgel. Der Gedanke der ideellen Einheit der gottesdienstlichen Stätte, die Einheit von Sakrament, Anbetung und Wort ist verfestigt worden. Architektonisch ist die Bedeutung des gepredigten Wortes, die freie Verkündung der evangelischen Wahrheit, in Szene gesetzt worden. Die Sammlung der Gemeinde findet ihr Zentrum im Kanzelaltar, der alle Kräfte in sich bindet.

Selbst die Taufe ist mit dem Altartisch zu einer Einheit verschmolzen worden.

Nach diesem Rückblick in die Zeiten des Umbruchs vor dem Dreißigjährigen Krieg, sei der Blick auf Weimar und Waldeck gelenkt, zu einer Zeit, in der sich der Kanzelaltar als neues liturgisches Ausstattungsstück unübersehbar bemerkbar gemacht hatte. Allen voran, über die hessischen Regionen hinaus bekannt geworden, präsentiert sich noch heute der Baldachin-Altar von Helsen, der eine besonders pittoreske Spielart des Kanzelaltars darstellt, der dem hoheitlichen Anspruch als Hof- und Schloßkirche der Waldecker Fürsten Rechnung zu tragen hatte.

Man weiß inzwischen, daß er seinen direkten Vorgänger in der Schloßkapelle von Weimar hatte, der dort 1658 mit einem ganz ähnlichen ikonographischen Programm aufgestellt worden war. Auch hier ist wieder der machtpolitische Anspruch des Landesherren in Szene gesetzt worden, besteht doch der monumentale hölzerne Aufbau des Kunstwerkes ausschließlich aus landesherrlichen Symbolen, Andeutungen und Botschaften. Hier sehen wir sie wieder, die Palme, die bereits als Wiederauferstehungsmotiv schon 90 Jahre vorher die sogenannte Lutherkanzel von Eisleben geschmückt hatte. Trägt sie dort den Schalldeckel, trägt sie hier die ganze Last des Landes, des Fürstenhauses, des neuen Verkündigungsauftrags. Der für Waldeck zum Symbol gewordene Baum mit seinem Sinnspruch „Die Palme wächst unter der Last“ soll die Unbeugsamkeit des Landes Waldeck symbolisieren, das trotz der ungeheuren Belastung - gleich dem Palmenbaum im Wüstensand - härteste Zeiten überstehen kann und durch Sturm und Wind nicht zu brechen ist und in Dürrezeiten seine Wurzeln weit in die Tiefen zu ungeahnten Wasseradern treibt. So wie man noch heute in den Oasen des Orients die Wurzeln der Palme aktiviert, indem man schwere Sandsäcke in die Palmenkronen legt, so hat man im Jahr 1688 hier auf die Palmen von Helsen ein schwergewichtiges Triumph- und Siegessymbol, in Form einer steilen Pyramide gesetzt. Der Triumph über die weltliche Last, im Schutze des Kreuzes und des fürstlichen Wappens, wird am Fuße der Pyramide am Ort der Wortauslegung - auf der Kanzel - über dem Altar verkündet.

Der Weg hinauf zur Kanzel, hoch über dem Altar unter dem Schutz des Fürstensymbols, der Auftritt oben auf der Kanzel und die direkte Kontaktaufnahme über die Gemeinde hinweg zum Fürsten in der Loge, dies alles entsprach einem Inszinierungsbedürfnis, wie es nur im Absolutismus ausgedacht werden konnte. Es sei an dieser Stelle angemerkt, daß die Palmen über ihre christliche Symbolik hinausgehend, vorzugsweise im Herrschaftsbereich von Weimar und Waldeck als tragende Elemente in die Kanzelaltäre hineinkomponiert wurden. Dies mag auf die Zugehörigkeit beider Landesherren zum „Palmorden der fruchtbringenden Gesellschaft“ zurückzuführen sein, dessen Vorsitz Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar führte. 1677 war in Weimar dieser Orden gegründet worden, dessen Mitglieder, bestehend aus Adligen, Gelehrten und Dichtern, sich zur Aufgabe gemacht hatte, die deutsche Sprache und Literatur zu kultivieren, um ihr gesellschaftliches Ansehen zu verleihen. Das Symbol dieser Gesellschaft war ein Palmenbaum.

Die nachfolgenden Kanzelaltäre fanden ihre rasche Verbreitung in den protestantischen Regionen, vor allem in Thüringen, Hessen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, und sind mitunter auch als Gegenstück zum katholischen Hochaltar zu verstehen. Nimmt doch der Kanzelkorb im protestantischen Altaraufbau sehr oft jene zentrale Stelle ein, an der sich im katholischen Hochaltar das barocke Tabernakel befindet. Einen diesbezüglichen Höhepunkt nimmt jener opulente Kanzelaltar ein, der für den wohl bedeutendsten protestantischen Sakralbau Hessens - die Schloß- und Stadtkirche von Weilburg - geschaffen worden war. Die Kirche war im Jahr 1703 bis 1713 von Julius Ludwig Rothweil als quergerichteter Saalbau errichtet worden.

Der Blick auf den Entwurf eines anderen Kanzelaltars für die ebenfalls von Rothweil entworfene Arolser Schloßkapelle aus der Zeit um 1720 lenkt den Blick auf jene grundlegenden Werke, welche die Architekten Furttenbach und Leonhard Christoph Sturm - erstgenannte für das 17. Jh., letztgenannter für das 18. Jh. - wegweisend für die Entwicklung des protestantischen Kirchenraumes geschaffen hatten.

Joseph Furttenbach, Vater und Sohn - beide aus Ulm -, haben in ihren Entwürfen nicht nur eine kirchenräumliche Neuordnung vorgeschlagen, sondern haben sich auch mit dem Thema Kanzel und Altar eingehend beschäftigt und diesbezügliche Vorschläge in Form von Zeichnungen und Planerklärungen zur Vorstellung gebracht. Es seien aus dieser Programmschrift folgende, ins neue Deutsch übertragenen Empfehlungen zitiert: „Die Zuhörer müssen den Prediger hören, und sie sollten ihn auch sehen können. Das vornehmste Prinzipalstück muß auf Gesicht und Gehör ausgerichtet sein; und auf das allernäheste zusammengebaut werden, damit die Herren Seelsorger die heiligen Sakramente bequem administrieren können. Alsdann und gegen Orient gerichtet, der vordere Altar auf welchem das heilige Abendmahl gereicht wird. Daneben und vor ihm kann die Ehe eingesegnet werden. Darüber mag die Kanzel oder der Predigtstuhl seinen Ort finden. Dahinter ist die Bibliothek zu finden. Darüber alsdann die Orgel, allda Gott zu loben ist. Zur Kanzel führt ein unsichtbarer Aufgang; die Treppe führt unsichtbar von der Sakristei hinauf zur Kanzel.“

Furttenbachs Entwurf gilt als die älteste graphische Darstellung eines Kanzelaltares und hat zu seiner Verbreitung und Weiterentwicklung in allen protestantischen Gebieten beigetragen.

Eine Typologie dieser Prinzipalstücke ist grundlegend und in aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit zum ersten Mal im Jahr 1968 von Hartmut Mai in seinem Standardwerk „Der Evangelische Kanzelaltar“ veröffentlicht worden.

Beim Durchblättern der Bildseiten wird ersichtlich, daß der Kanzelaltar nachweislich der gewichtigste und eigenständigste Beitrag zum protestantischen Kirchenbau ist und seine künstlerisch bedeutsamste Entwicklung und Dichte in Thüringen gefunden hat.

Im niederhessischen Gebiet jedoch, links und rechts der Werra, ist er trotz der unmittelbaren Nähe zu Thüringen und Schmalkalden im 17. Jh. kaum vertreten. Hier in der Landgrafschaft Hessen-Kassel ist trotz der sonst festzustellenden architektonischen Nähe zu Thüringen der Kanzelaltar im 17. Jh. nicht zu finden. Dies läßt sich auf die mauritianische Reform von 1606 unter dem hessischen Landgrafen Moritz, den Gelehrten, zurückführen, der im niederhessischen Gebiet den architektonisch formulierten Verkündigungscharakter des Luthertums in seinen Kirchen nicht Fuß fassen lassen wollte. In seinem calvinistisch orientierten Herrschaftsbereich galt die aufwendige Überbauung des Altars - sei es in Form eines Altarretabels, eines Flügelaltars bzw. eines Kanzelaufbaues über dem Altar - als liturgisch unvertretbar. Lediglich ein einfacher Tischaltar war erlaubt.

Folglich fand der Kanzelaltar erst zu Beginn des 18. Jh. vereinzelt - in den anderen lutherisch-orientierten Gebieten jedoch unaufhaltsam - seine Verbreitung im Zuge der aufkommenden Reformorthodoxie des Luthertums. Andererseits läßt sich die Vorliebe für den Kanzelaltar auch auf die architektonischen Vorschläge und Empfehlungen von Leonhard Sturm zurückführen, der mit seinen 1717 veröffentlichten „Vollständigen Anweisungen aller Arten von Kirchen ...“ abermals eine Orientierungshilfe für den protestantischen Kirchenbau gegeben hatte. Eine Orientierungshilfe, die der sonst so autoritäre und wortgewaltige und um konkrete Aussagen nicht verlegene Martin Luther nicht gegeben hatte, zumal er die Frage des Kirchenbaus immer wie eine gefährliche Klippe elegant zu umsegeln verstand. Mit seiner polemischen Äußerung zur Gestalt der Kirche, die sich auch durch einen Stall - „wo sich zwei oder drei im Namen des Herren versammeln“ - rechtfertigen könnte, hat er eine babylonische Verwirrung in die nachfolgenden Kirchenbauergenerationen gebracht.

Leonhard Sturm hat indessen versucht, Planvorschläge zu erarbeiten, die ein optimales akustisches und visuelles Verhältnis zwischen Fürstenloge, Kanzel und Gemeinde unter Beachtung der standesgemäßen Ordnung der Gemeinde, sowie der Trennung der Geschlechter suchte. Alle bereits im 16. Jh. entwickelten Grundformen, wie Querhauskirche, Quadratkirche, Rund- und Polygonalkirche, ja auch Winkelhaken- und Dreieckskirchen behandelte er in einer etwas akademisch ausschließlich auf Symmetrie bedachten Weise, wobei er den Kanzelaltar immer zum zentralen architektonischen und liturgischen Brennpunkt machte.

Sturm hat die Frage zum evangelischen Kirchenbau in seine zahlreichen Typenentwürfe sehr eindeutig auch über den hoheitlichen Dialog zwischen Fürst und Gott zu bewältigen versucht. Der geistige Austausch zwischen dem Allmächtigen und seinem Statthalter auf Erden, sei es in Schmalkalden oder in Weilburg, sei es in Arnstadt oder in Arolsen, er allein hat, so lange diese Ansprüche bestanden, eine gewisse Grundordnung in den nachreformatorischen Kirchenbau bis in das 19. Jh. hinein gebracht. Er vermittelte in seiner architektonischen Verbindung zur Empore und zum Altar die Gleichwertigkeit von Predigt und Abendmahl gemäß der reformatorischen Lehre. Der Altar der Arolser Stadtkirche zeigt insofern eine besondere Nähe zu den Entwürfen Leonhard Sturms, als dieser vorgeschlagen hatte, den Altarraum durch eine Kolonade völlig vom übrigen Kirchenraum abzutrennen und auf diese Kolonade die Kanzel zu stellen, die sich dem Haupteingang oder dem Fürstenstuhl gegenüber befinden sollte.


Die Empore als neuer Ordnungsfaktor für Raum und Hierarchie

Im Grenzgebiet zu Thüringen und Schmalkalden bleibt die Kanzel zunächst am traditionellen Ort, seitlich abgerückt an der Nahtstelle vom Kirchenschiff zum Altarraum, wie z.B. in Richelsdorf direkt an der thüringischen Landesgrenze.

Mit dem Blick in die Richelsdorfer Kirche geraten wir abermals in den architektonischen Einzugsbereich von Schmalkalden, das mit seiner Schloßkapelle eine späte Nachwirkung von über hundert Jahren auf die thüringisch-hessischen Raumformen der dort im 18. Jh. nun zahlreich entstehenden Kirchen hatte.

Ihr Besuch nach der Grenzöffnung hat bewiesen, daß die fließenden Übergänge dieser Bauphase über die Grenzen hinweg auch heute noch erlebt werden können.

Der kulturelle Austausch über die vielfach verzahnten Landesgrenzen - um das Zentrum der hessischen Exklave von Schmalkalden herum - macht sich gerade an ihren längsorientierten Saalkirchen bemerkbar. Der von Kreuzgratgewölben überspannte Mittelraum in der Wilhelmsburg - von allen vier Seiten von Doppelemporen umgeben - muß in seiner herrschaftlichen Raumwirkung einen großen Eindruck auf die bürgerlichen Kirchbauherren westlich und östlich der Werra gemacht haben.

Zunächst jedoch war es noch einmal ein Feudalherr, der sich nach dem Schmalkaldener Vorbild einen Ableger in Marksuhl bei Eisenach im Jahr 1667 bauen ließ und anstelle eines mittelalterlichen Vorgängerbaues, unter Berücksichtigung des alten Gemäuers, einen Längsraum errichtete, der von einer zweigeschossigen Empore und einer halbkreisförmigen Holztonne über dem Mittelschiff bestimmt wird.

Nach der Übersiedlung der Fürsten nach Eisenach fiel Marksuhl in den Status eines einfachen Landstädtchens zurück. Die einstige Residenzkirche war eine kleinstädtische Patronatskirche geworden.

Durch diesen Bedeutungsverlust konnte die Marksuhler Kirche von 1660 quasi zum Vorbild für viele Patronatskirchen auf dem Lande werden, sowohl im hessischen als auch im thüringischen Raum. Als herausragender Vertreter dieser Doppelemporenkirchen sei an dieser Stelle der Innenraum von Herrenbreitungen (1731) im Schmalkaldischen Herrschaftsbereich von dem hessischen Landbaumeister Adam Johann Erdinger (1685-1738) gezeigt. Nunmehr - von Anbeginn als Dorfkirche geplant - zeigt sie sowohl in ihrer Raumform als auch der Anordnung der Prinzipalstücke viel verwandtes mit der zuvor beschriebenen Schloßkapelle von Schmalkalden. Zweifelsohne ist die holztonnengewölbte Doppelemporenanlage, sei es in Ronshausen, Nentershausen, Odensachsen, Schenklengsfeld, Mihla, Seligenthal oder Ausbach, ohne den Seitenblick auf die bekannte Schloßkapelle kaum denkbar.

Was dort in Stein und Stuck in den Kreuzgratgewölben, den Bogenarkaden, den Emporenstützen und dem Kanzelaltar in ein ausgewogenes, ganzheitlich schlüssiges System von Konstruktion, Architektur und Ornament von Baumeister Christoph Müller und dem holländischen Stukkateur W. Vernucken gebracht worden war, ist nun in den Landkirchen, wie z.B. in Hohenroda-Mansbach, in das Konstruktionsgefüge des Zimmermeisters übertragen worden. Kräftige Eichenstämme gliedern und durchziehen als ornamentierte, marmorierte Rundpfeiler den Kirchenraum, bieten Halt und Auflager für die dreiseitig umlaufenden Doppelemporen, durchstoßen mitunter, wie in Ronshausen und Weiterode, das Holztonnengewölbe, um jenseits der aufgemalten Wolkenhimmel zum Bestandteil der Dachkonstruktion zu werden.

Ein andermal folgen sie dem direkten Vorbild von Marksuhl, wie in Trusethal bei Schmalkalden, wo der Kirchenraum lediglich zwischen den Emporen überwölbt wird. Die Seitenräume über den Emporen werden, der Raumhierarchie entsprechend, flachgedeckt. Kräftige Holzsäulen vermitteln den Kirchenräumen das Erscheinungsbild einer Dreischiffigkeit und halten nicht nur die Holzeinbauten, sondern stützen jene kräftigen Längsunterzüge, auf denen die Holztonne aufgelegt wird. Die mehr oder weniger glatt behauenen Holzbohlen der Deckenverkleidung werden von heimischen Künstlern mit barocken Bauernhimmeln ausgemalt.

Auch eigenständige Holzeinbauten, die ohne Verklammerung mit der Hauptkonstruktion in ältere Architekturhüllen hineingestellt wurden, vermitteln uns mitunter ein Erscheinungsbild, wie es uns mit der Dorfkirche von Seligenthal in der alten Herrschaft von Schmalkalden (1698) präsentiert wird. Zur Aussteifung und Sicherung der Emporeneinbauten, die auf Holzstützen im Mittelschiff und Steinkonsolen an den Außenwänden ruhen, wurden quer durch den Raum kräftige Ankerbalken oder Zuganker eingezogen. All diesen Kirchen in Osthessen und Thüringen ist der „Raumim-Raum-Gedanke“ und jene Zweischichtigkeit gemeinsam, die eine Betonung der Raumtiefe und Hierarchie zwischen Haupt- und Nebenräumen zum Ausdruck bringt. Und immer wird nach dem Schmalkaldener Vorbild der festliche Charakter eines barocken Logentheaters assoziiert, der dann jedoch wieder durch das erhabene Tonnengewölbe ins Sakrale übertragen - ja gesteigert wird. Galt doch der Gewölbebau auch im 18. Jh. noch immer als besonders sakral.

Wie sehr man diesem akatholischen Raumgefüge nach dem Vorbild der protestantischen Schloßkapellen Rechnung tragen wollte, zeigt sehr einprägsam der in mehrfachen Bauphasen vorgenommene Umbau der gotischen Hallenkirche St. Georg in Eisenach - eine der ältesten protestantischen Predigträume, in denen Luther, schon unter Reichsacht stehend, auf der Rückkehr von Worms gepredigt hatte. Die gotischen Rundpfeiler wurden zum integralen Bestandteil der Arkaden und Emporeneinbauten, die hier in dreifacher Etagenabfolge hineingebaut worden sind.

Einmal in Eisenach, sei kurz auf die dort 1697 eingeweihte Kreuzkirche verwiesen. Befindet sich dort nicht nur das Beispiel eines Baldachin-Kanzel-Altars, der sicherlich im Kielwasser der bereits vorgestellten Weimarer Schloßkapelle entstanden ist, sondern auch eine Doppelemporenanlage, die in den Zentralbau hineingebaut worden ist, der in seiner Grundrißdisposition von Leonhard Sturm hätte konzipiert sein können.

Ein Idealfall: Doppelemporenanlage - Kanzelaltar - Zentralraum. Einen protestantischeren Prototyp des 18. Jhs. wird man in den Gebieten links und rechts der Werra suchen müssen. Diese von Johann Münzel errichtete Kirche ist noch zur DDR-Zeit mit dem Ziel der Erhaltung und denkmalverträglichen Umnutzung in ein kirchliches Archivgebäude umgebaut worden.


Eisenach 1861: Die Wiederentdeckung des Mittelalters

Mit der Präsentation dieses protestantischen Programmbaues, sei jenes Kapitel der evangelischen Kirchenbaugeschichte aufgeschlagen, das in Eisenach geschrieben worden ist und schon vor der Gründung des Deutschen Kaiserreiches allen protestantischen Ländern Deutschlands eine vorreformatorische Bauideologie - vor allem in der Bekämpfung des evangelischen Zentralraums und des Kanzelaltars - beschieden hatte. Man kann dies fast als die Tragik des Ortes bezeichnen - jenes Ortes, an dem Entscheidendes im Sinne der neuen Lehre 340 Jahre vorher von Martin Luther oben auf der Wartburg vorbereitet worden war.

Tiefgreifende theologische Überlegungen, auf der Suche nach neuen, der protestantischen Liturgie gerechter werdenden Raumorganisationen waren dieser Gegenbewegung vorangegangen. Diese Neuorientierung vollzog sich vor dem Hintergrund der Befreiungskriege und zeigte sich den großen vaterländischen Emotionen entsprechend als eine rückwärtsgewandte Entwicklung. Der hessen-darmstädtische Hofbaumeister Georg Moller, der in der Tradition von Furttenbach und Sturm stand, weiß über die neue Situation des Kirchenbaues in der ersten Hälfte des 19. Jhs. in einem Brief an Johann Wolfgang von Goethe 1818 wie folgt zu klagen: „In Deutschland wird jetzt jährlich, da viele der alten Kirchen namentlich in Dörfern und kleineren Städten zu klein und baufällig sind, eine große Anzahl neuer Kirchen erbaut, aber da es ganz an einer festen Norm für diese Gattung fehlt, so wird wenig Gutes zu Tage gefördert.” Die Geisteshaltung der Romantik hatte alle Lebensbereiche erfaßt und mit ihnen sowohl die Baukunst als auch das Gebiet der Theologie. Man distanzierte sich sowohl von lutherischer Orthodoxie als auch vom geistigen Rationalismus, um seine Gefühle der „Romantik des Mittelalters” öffnen zu können. Der Wiederentdeckung des mittelalterlichen Domes vermochte plötzlich der schlichte Versammlungsraum der protestantischen Wortkirche nichts mehr entgegenzusetzen.

Diese emotionsgeladene Hinwendung zum Mittelalter - kurz gesagt: ein wichtiger Meilenstein zum Historismus des 19. Jhs. - ist wohl ohne Goethes Aufsatz ‘Von deutscher Baukunst’ anläßlich seiner Besichtigung des Straßburger Münsters im Jahr 1773 schlecht vorstellbar. Zumindest hatte dieser Aufsatz einen Begeisterungssturm bei jenen Architekten und Bauherren hervorgerufen, die auf der Suche nach nationaler Identität die Gotik als ihren, dem deutschen Wesen entsprechenden Kunststil entdeckten und propagierten.

Einen weiteren kräftigen Schub erhielt diese Tendenz unter anderem durch das 1842 veröffentlichte Werk des bekannten, aus Korbach stammenden Gelehrten, Theologen und preußischen Staatsmannes Carl Josias von Bunsen mit dem Titel ‘Die Basilika des christlichen Roms’. Durch dieses Werk erheblich beeinflußt, wurde im Jahr 1861 das Eisenacher Regulativ verabschiedet, das mit all seinen Richtlinien für den protestantischen Kirchenbau - auf der Konferenz in Eisenach vorgelegt und beschlossen - fast alle von Bunsen erarbeiteten Hinweise berücksichtigt hatte.

Bunsen hatte mit seinen Empfehlungen zum protestantischen Kirchenbau scharfe Kritik an den herrschenden Zuständen des Kirchenbauwesens, insbesondere an der Überbetonung des Zweckmäßigen, geübt. Das 18. Jh. mit seinen von der Akustik und vom Sehen her so praktischen Kanzelaltären benannte er „für alles Höhere dunkel und blind”, auch „unkirchlich”. Die mittlere Aufstellung der Kanzel hinter dem Altar, wie sie noch bei vielen Schinkelentwürfen anzutreffen ist, verwarf er ebenfalls. Der Kirchenraum müsse aus zwei Teilen bestehen, der eine für die Predigt, der andere für den Altar. Die Kanzel habe den geeignetsten Platz an der Wand neben der Öffnung des Chorraumes zu finden. Bei der Behandlung der Stilfrage propagierte er „den germanischen Gewölbebau, ... sogenannt Gotik” als die einzige richtige Bauweise zur “Herstellung evangelischer Basiliken”. Der allgemeinen Tendenz entsprechend, verbunden mit einer gewollten Anhebung der sakralen Würde des Altares, errang er durch seinen Einfluß den Sieg über die zweckmäßige Kirchenbautradition der Protestanten. Hatte sich doch das Eisenacher Regulativ, das für die Entwicklung des Kirchenbaues von 1861 bis 1914 so maßgeblich geworden war, von einer Empfehlungsschrift im Laufe der Jahre zur verbindlichen Programmschrift entwickelt.

Sie war zum Dogma geworden, die zwar den Bau von großartigen pseudomittelalsterlichen Kirchen förderte, deren architektur-theoretischer Inhalt jedoch in eine Sackgasse führte und 1894 eine Gegenschrift zur Folge hatte, die als Wiesbadener Programm abermals in die Geschichte des evangelischen Kirchenbaues einging und dort anknüpfte, wo Leonhard Sturm mit seinem Zentralbaugedanken schon einmal im 18. Jh. angelangt war.

Für die Entwicklung des evangelischen Kirchenbaues und die architektonischen Wechselbeziehungen zwischen Hessen und Thüringen sind diese Regulative jedoch weder prägend noch regionaltypisch gewesen.


Literaturhinweise:

Grossmann, Dieter: Künstlerische Beziehungen zwischen Hessen und Thüringen. In: “Hessische Heimat“, Marburg 1992, 4.1994, Heft 1 und 4

Mai, Hartmut: Der Evangelische Kanzelaltar, Halle 1969

Neumann, Michael: Der protestantische Kanzelaltar in Waldeck. Seine Bedeutung - seine Gefährdung. In: Geschichtsblätter für Waldeck, Korbach 1996

Wex, Reinhold: Ordnung und Unfriede, Raumprobleme des protestantischen Kirchenbaus im 17. und 18. Jhd. in Deutschland, Marburg, 1984