Wilhelm Blume

Das Umordnen der Schülerselbstverwaltung in Scharfenberg im Juli-August 1933

Quelle: Privatsammlung Bernd Stückler: Blume, Wilhelm, Das Umordnen der Schülerselbstverwaltung in Scharfenberg im Juli-August 1933.
Veröffentlichung: Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1999/0001/q51.html - Zuvor in: Jahnke, Heinz K., Scharfenberg unter dem Hakenkreuz. Die Geschichte der Schulfarm Scharfenberg zwischen 1933 und 1945, Berlin 1997, S. 186-188.
Literatur: Haubfleisch, Dietmar: Schulfarm Insel Scharfenberg. Mikroanalyse der reformpädagogischen Unterrichts- und Erziehungsrealität einer demokratischen Versuchsschule im Berlin der Weimarer Republik (=Studien zur Bildungsreform, 39), Frankfurt [u.a.] 2001, bes. S. 783.


Das Umordnen der Schülerselbstverwaltung in Scharfenberg im Juli-August 1933.

Die Schülerselbstverwaltung in Scharfenberg ist seit den ersten Tagen des Bestehens der Schulfarm vorhanden gewesen; sie stellte sich als eine selbstverständliche Notwendigkeit ein, da beim Fehlen fast jeden Personals die Forderungen des Tages innerhalb des Gemeinschaftslebens von seinen Teilhabern selbst erledigt werden mußten.

Die Verteilung dieser Funktionen ergab sich aus der Neigung und Begabung für ihre Erfüllung; erst später bei wachsender Schülerzahl wurden daraus Wahlämter; die Inhaber dieser Ämter mußten das Vertrauen der Majorität haben, die Ausschußmitglieder, die vor allen anderen verpflichtet waren, an das Allgemeinwohl zu denken, und die übrigen in solchem Sinne durch Beispiel und Ratschlag zu beeinflussen, sogar das Vertrauen von zwei Drittel der Inselbewohnerschaft; ein Lehrer und drei Schüler, nicht im Kompetenzenstreit miteinander, sondern in gemeinsamen Dienst stellten in der Regel die Repräsentation der Gesamtheit vor, gleichzeitig berechtigt, die Ausübung jener Ämterpflichten zu überwachen.

Im ersten Jahr blieb man gern bei den Abendmahlzeiten noch länger zusammensitzen, ein Kreis von 25 Menschen, und besprach das Abendprogramm des nächsten Tages, suchte gemeinsam nach Auswegen aus inneren und äußeren Schwierigkeiten, traf auch Anordnungen auf längere Sicht, ohne in Gesetzgeberei zu geraten oder parlamentarische Formen nötig zu haben. Erst mit zunehmender Schülerzahl (40, 60, 80, 100) entwickelte sich aus diesen familiären Tischunterhaltungen die 'Abendaussprache' in feierlicheren Formen mit musikalischem Vor- und Nachspiel, unter einem Vorsitzenden, mit einem Protokollführer; sie war die letzte Instanz des Ge- und Verbietens auf der Insel.

Die wichtigste Elternversammlung in der Geschichte der Schulfarm forderte im November 1922 außer der Pflege der körperlichen Arbeit und dem Beibehalten der Einfachheit und der gesunden Abhärtung in Nahrung, Kleidung, Aufenthalt im Freien, Bestehen von Gefahren, der Erziehung eines harten Geschlechtes, 'offene Aussprache untereinander, in allgemeinwichtigen Angelegenheiten am besten in der Abendaussprache, nur kein Geflüster im kleineren Kreis, kein Absondern der Unzufriedenen, kein überkritisches Schwatzen, aber unbedingte Ehrlichkeit der freien Meinungsäußerung'.

Dieser Art Schülerselbstverwaltung, die als wirtschaftliche und pädagogische Notwendigkeit sich stabilisiert hatte und deren Ziel es stets gewesen ist, ein möglichst hohes Maß von Mit- und Selbstverantwortung und von Selbständigkeit zu erziehen, erlitt ihren ersten Stoß, als der Schulleiter am 11. August 1932 die Verleihung des Stimmrechtes an die neuen Schüler, die bisher durch Abendaussprache geschehen war, suspendierte und sich selbst vorbehielt. Ihn hatten dazu drei Überlegungen veranlaßt:

  1. Die Abendaussprachen waren schon längere Zeit in ein parlamentarisches Fahrwasser geraten; man stimmte zuviel ab, auch über Kleinigkeiten, zuweilen sogar darüber, ob abgestimmt werden sollte, die Vorzüge der Demokratie waren in Gefahr, zur Karikatur verzerrt zu werden;

  2. Der Ausschuß lehnte die Verpflichtung, die Ausführung der Beschlüsse und die Ausübung der Ämter zu kontrollieren, als Polizistentum ab; infolgedessen war hier und da der Schlendrian eingerissen; eine Warnung des Leiters in Form von Sonntagsgedanken eines alten Scharfenbergers, die schriftlich ausgelegt waren, hatte in einer Gegenschrift des Ausschusses ein Echo gefunden, das im Niveau den Tiefpunkt der Schülerselbstverwaltung bedeutete;

  3. In den politisch erregter werdenden Zeiten, in denen zum ersten Mal nach einem Jahrzehnt die Festlandswellen auch auf die Insel herüberschlugen, mußte der Gefahr unter allen Umständen vorgebeugt werden, daß bei Verleihung des Stimmrechtes, die Aufnahme oder Abgang der Neuen im Gefolge hatte, politische Voreingenommenheit ganz gleich welcher Art mitwirkte, diese Suspension sollte gleichzeitig ein aufrüttelndes Mahnzeichen sein, die Selbstverwaltung nicht durch theoretische Übertreibung oder Gehen-lassen in Praxi zu gefährden.



Die Suspendierung des Stimmrechtes aus diesen Gründen fand in einer Elternversammlung im August 1932, der zweitwichtigsten in der Geschichte der Schulfarm, - man könnte sie als unsere Revolution bezeichnen - die Billigung der Mehrheit. Die Schülerschaft grollte zwar zu einem großen Teil dem Leiter; man sprach von Diktatur, gab jedoch allmählich zu, daß die Verleihung des Stimmrechts, wie sie nunmehr gehandhabt wurde, sich de facto als recht vernünftig und fruchtbar erwies: der Leiter versammelte jedes Mal vorher den Kreis der Arbeitsgruppenführer und der Budenältesten und entschied auf Grund dessen, was diese über die einzelnen Neuen aus Beobachtung und Gefühl zu sagen hatten.

Schon tauchten ab und zu Überlegungen auf, ob es sich nicht empfehle, auch andere Gebiete der Selbstverwaltung nach diesem Beispiel zu reformieren. Die Beseitigung aller demokratischen Einrichtungen im Staat, die Ausschaltung des MehrheitsprinziPrivatsammlung Bernd im Verfassungsleben beschleunigte diese Entwicklung, und jene Stimmrechts-Umorganisation blieb nicht ein isoliert dastehendes Sturmzeichen, sondern unsere gesamte Selbstverwaltung wurde hiernach umgestaltet. Das Ergebnis längerer Überlegungen des Schulleiters und einiger von ihm zu zweimaliger Beratung eingeladener Gruppenführer ist so, daß man mit gutem Recht von ihm sagen kann: es vereint das Gebot der Stunde mit dem, was wir schon länger organisch vorzubereiten begonnen hatten; die Neuordnung befreit uns von Auswüchsen und Übertreibungen unserer Selbstverwaltung ohne ihren Kern - die Erziehung durch Selbstverwaltung für das Ganze - zu beseitigen.

Sie schafft statt der 40 Einzelämter, die durch Wahl besetzt wurden, drei konzentrierte Arbeits- und Verwaltungskreise; deren Mitglieder werden vom Leiter berufen und sind ihm dafür, daß innerhalb des jeweiligen Bereiches alles in Ordnung ist, verantwortlich; diese Berufenen, zu denen vor allem die Führer der 6 Arbeitsgruppen (Landwirte, Gärtner, Tischler, Schlosser, Maler, Gruppe Allzeitbereit) gehören, suchen sich ihre Helfer selbst, übertragen diesen Teilämter, leiten sie an, setzen sie ab, wenn sie sich als untüchtig erweisen oder eine Abwechslung geboten erscheint; bei Neubesetzung besprechen sie sich vorher mit dem Leiter.

Danach ergibt sich folgende Gliederung:

Dem Kreis für Arbeit und Ordnung gehören an:

Die Führer der genannten Arbeitsgruppen, der Mahlzeitenchef, der Hauswart, die Hausdame und ein Lehrer, unter dessen Vorsitz die 9 vom Leiter ernannten sich treffen können zu Beratungen gemeinsamer Sorgen und Besprechungen von Anregungen. Ihnen unterstehen der Wart für den Wirtschaftshof, der Milchdienst, der Stalldienst; die Warte um die einzelnen Häuser, der Schulplatzwart; die Warte für die Werkstätten, den Physik- und Zeichensaal; der Kreide- und Tintenwart, der Läutenant; die Abortwärter und der Wart für die Badezimmer; der Enten- und Hühnerwart.

Dem wissenschaftlich-pädagogischen Kreise gehören an:

Die drei Oberhelfer in der Betreuung des jüngsten Jahrganges, der Bibliothekar und der Musikwart; diese, die vom Leiter berufen werden, haben als Hintermänner 6 Ersatzhelfer, den Bibliothekar der Zwischenstufenbibliothek und den Zeitungswart. Auch sie können sich unter Vorsitz eines Lehrers zu ähnlichen Besprechungen zusammenfinden wie Kreis 1.

Dem Kreis für körperliche Ertüchtigung gehören an:
Der Sportwart, der Kommandeur der Feuerwehr, der Scharführer der Hitler-Jugend und der Führer des Jungvolks; diese vier regeln die körperliche Ertüchtigung gemeinsam mit dem Wehrsportlehrer. Der Feuerwehrführer ist gleichzeitig verantwortlich für die Ämter des Kahnwarts, der Fährkasse und des Radfahrwarts.

Die Angehörigen der drei Kreise (17 Schüler, 4 Erwachsene) können vom Leiter vor wichtigen Entscheidungen wie der Verleihung des Vollbürgerrechts an die Neuen als großer Inselrat gehört werden.

Blume.


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