Protokoll der 29. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. II, S. 67-73

[Datum: , ......1923 - Protokollant: Erich Gawronski]




[...]. Ehe die Neuen einrückten, wollten wir [...] Fazit ziehen [...] über das Zusammenleben von Lehrern und Schülern, und so gaben wir der 29. (als 28. zählen die Aussprachen an den 3 Vormittagen, bei denen auch z.T. Beschlüsse gefaßt sind) Aussprache frank und frei, getreu unserem Grundsatz der Offenheit und im Vertrauen auf die Reife der Schüler, die nur dadurch wachsen kann, wenn man sie vor Verantwortungen stellt, das den Außenstehenden sicher zunächst überraschende Thema:

Was gefällt den Schülern nicht an den Lehrern, was den Lehrern nicht an den Schülern?
[Anm. 1]

Unser Orchester leitet die Aussprache mit dem Valse triste von Sibelius ein. Werneckes Antrag, eine besondere Kasse für die Apotheke einzurichten, muß aus Geldmangel abgelehnt werden. Man einigt sich dahin, 2.000 M. aus der Fährkasse zu nehmen für die notwendigsten Ergänzungen der Apotheke und betont: Binden müssen nach Gebrauch in reinem Zustand zurückgegeben werden. Auf Werneckes Forderung, ein staubfreies Medizinschränkchen anzuschaffen, erklärt sich Rosolleck bereit, einen aus Kisten selbst gezimmerten Schrank zu stiften. Einen aus Kisten selbst gebauten, hört, hört, sollten wir das nicht können! Dieser Antrag ist zudem schon einmal gestellt worden. Man hat

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geredet, aber nicht gehandelt. Der Medizinmann hätte sich darum kümmern müssen, hätte vielleicht selbst einen herstellen können! "Kann ick nich machen", erwidert der aber nur lakonisch. Als Blume fragt, wollen wir den Schrank von Rosolleck nehmen, sind 9 dafür 16 dagegen.

Darauf gibt Wernecke in einer Anfrage seiner Befürchtung Ausdruck, im antiken Kurs lerne er zwar viel von der Kultur, aber zu wenig Grammatik; es wäre auch nicht so schlimm, wenn nicht die 5 Sprachstunden hintereinander liegen würden. Blumes Anfrage, ob wir denn zu den 45' Stunden zurückwollen, wird allgemein abgelehnt. Darauf erklärt Wolff, in Zukunft immer nach zwei Stunden mit Prosa, Dichtung und Grammatik zu wechseln.

Der nächste Antrag von Frau Prengel auf Umlegung der Mahlzeiten ruft eine lebhafte Aussprache hervor, in der Glasenapp darlegt, daß die Hauptmahlzeit am Mittag sein müßte, wo Vieh und Landmann bei der Sonnenglut doch ruhen müßten. Die Abendmahlzeit kann ihm aber bei seinem Arbeitseifer nicht spät genug liegen. Wir einigen uns schließlich auf: 8.30 erstes Frühstück, 12.35 Hauptmahlzeit, 7.00 Abendbrot. Auf die Frage, wer abgesehen von Küchen- und Landrücksichten für eine Änderung sei, meldet sich niemand.

Blume weist jetzt auf den ersten Hauptpunkt unserer Abendaussprache hin. Wir wollten uns in

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offener, wohlwollender Aussprache darüber klar werden, was den Schülern an den Lehrern und was den Lehrern an den Schülern nicht gefällt. Ob Herrn Prof. Cohns Bedenken, es könne das Gerücht entstehen, in Scharfenberg sitzt man über die Lehrer zu Gericht und es könne das für uns nachteilig sein, ob diese Bedenken berechtigt sind, liegt an jedem einzelnen Scharfenberger. Wer Scharfenberg lieb hat, hüte seine Zunge! Nach einer kleinen spannungsvollen Pause, Mut zu schöpfen, macht Röhrborn den ersten Vorstoß. Herr Wolff setze "seine Antike" gegenüber dem Deutschen nicht genügend durch. Es wird festgestellt, daß es an der Stundenzahl nicht liegt. Herr Wolff verteidigt sich, indem er darauf hinweist, daß es den Teilnehmern an dem genügenden Interesse fehlt. Jeder kommt hin, übersetzt seine Stellchen - und das nicht einmal immer - und meint, damit sei alles getan. Blume weist darauf hin, daß wir gerade deshalb den wöchentlich wechselnden Stundenplan eingeführt haben. um auch den Sprachen ihr volles Geltungsrecht zu geben. Die Zwischenfrage Herrn Bandmanns, wie sich die 14tägige Pause bei dem wechselnden Plan bewährt habe, wird mit "gut" beantwortet. Darauf läßt Schramm eine donnernde Philippika [Anm. 2] vom Stapel, wenn in den Sprachen geklagt wird, komme es daher, weil niemand konzentriert genug arbeiten könne. Im Anschluß daran wünscht Frey noch Hinweise für

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besondere Privatarbeit. Darauf beklagt sich Gawronski über ironische Seitenhiebe Blumes in Gesprächen. Blume erklärt, daß sie garnicht ironisch sein sollen, sondern ein unbewußt gefundener Weg sind, das, worüber er sich früher schweigend geärgert habe, abzuändern; da er das Schulmeistern und Gespräche unter vier Augen verschmähe, so habe er durch diese Seitenhiebe bessern wollen, die er nun in Zukunft noch mäßiger und weiser anwenden wird. Metz beklagt sich darauf, Rosolleck beschäftige sich mehr mit Einzelnen als mit allen Scharfenbergern. Rosolleck erwidert, das komme daher, weil er zu wenig draußen ist. Auf seine Frage, ob noch mehr das Gefühl gehabt hätten, sie stören, wenn er mit Einzelnen spricht, erwidert Wernecke: Ja, abe ick habe mir nischt draus jemacht. Blume sagt, das werden wir nur schwer bei Rosolleck ändern, da der Gespräche unter vier Augen für ein besonders wirkungsvolles, pädagogisches Mittel hält. Blume erwähnt, daß auch Herr Prof. Cohn seine Einwilligung gegeben habe, trotz seiner Abwesenheit über ihn zu sprechen. Reschke hält die Abweichungen im englischen Unterricht für zu hemmend. Dagegen wehren sich zwei aus dem englischen Kurs, die gerade das Kulturelle, das Herr Prof. Cohn an Text und Grammatik erläutert, für das Beste und Interessanteste seines Unterrichtes halten, der gerade dadurch über das bloße Vokabelwissen hinaus führt. Heinrichsdorffs Vorwurf, daß Blume hinter dem Rücken anderer - vielleicht unbewußt - kritisiere, erwidert Blume damit, daß er seine Kritik wenn nicht vorher, so doch sofort hinterher auch dem anderen persönlich gesagt hat.

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Wernecke klagt über Herrn Wolffs Ermahnungen, die ihm oft väterlich gemacht, künstlich hinterlistig erschienen. Herr Wolff erklärt, daß seine Ermahnungen nur guter Absicht entsprungen sind. Blume sagt, wenn sie falsch erschienen, so kommt es daher, weil Herr Wolff viel zu vorsichtig ist, ermahnen möchte, aber nicht schnauzen und schon wieder aus Güte halb zurücknimmt, was er eben noch sagte. Von den Schülern wird nichts weiter angeführt.

Blume leitet zum zweiten Hauptpunkt über, indem er zugleich anführt, daß diese offene Aussprache sicher zur Entgiftung beigetragen hat und damit dem Reden hinter dem Rücken ein Ende gemacht sei. Zuerst wendet sich Blume gegen das gewollte Absehen von der Konvention, eine, wie wir im Kulturunterricht bei Nietzsche lasen, übele Gewohnheit der Deutschen, die bei uns einzureißen droht, wenn aus den Fenstern gespuckt, von Tellern und Stullen anderer gegessen, die Stiefel im Zimmer geputzt werden. Sollte uns doch der Einfluß der Frau fehlen? Also mehr Takt! Auf Anfrage Grotjahn, ob es taktlos sei, Blume ohne Titel und Herr anzureden, erwidert Blume, daß dies nur eine Äußerlichkeit sei, daß es, wo es sich organisch von selbst ergibt, gut sei. Es sei jedoch taktlos, wenn man sich in Gegenwart Fremder besonders gehen ließe und etwas darin sucht, dann möglichst unhöflich mit seinen Lehrern umzugehen, um zu zeigen, so dürfen wir unsere Lehrer behandeln. Gegen solche Taktlosigkeiten wenden sich auch Wolff und Berisch. Netzband

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ist das vertraulich tuende Klopfen auf seine Schultern in der allzu häufigen Wiederholung aufgefallen. Zu einem lustigen Schinkenklopfen sei er immer bereit, nicht zu jovial tuenden Vertraulichkeiten. Darauf wettert Wolff gegen eine Menge von Übelständen: Das Bummeln und Verspäten vor dem Stundenanfang, der Lärm im Hause am Dienstagnachmittag vor dem Studientag, das Musizieren am Vormittag, das Umblättern fremder Bücher mit feuchtem Finger; unser Landwirt fügt hinzu die schlecht Behandlung der Geräte. Es wird beschlossen, die Werkzeuge in Zukunft zu verschließen. Blume sagt anschließend zu dem Lärm im Hause, daß er für die Zukunft denen, die der Bildungswille treibt, unbedingt Ruhe verspricht. Er freue sich sehr, wenn man munter spielt, das soll aber im Garten geschehen und sich vom Toben mehr zum Spiel entwickeln. Es ist aber bezeichnend, daß sich auch bei unseren Spielen keine feste Riege entwickelt hat. Was uns fehlt ist zweierlei: Konzentrierte Arbeit und das, was man in dem Wort Führernaturen zusammenfaßt: Wem soll man als Führer aller die neu eintretenden jungen Kameraden anvertrauen? Die Abiturienten scheiden aus, sie haben vor allem Latein zu treiben. Und geht man die Reihe durch, so ist keiner da, der so darüber steht, daß man ihm von ganzem Herzen die Führung überlassen möchte. Den einen fällt oft wie Saul

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der böse Geist eines unjugendlichen Pessimismus an, den anderen fehlt es an jedem Ordnungssinn, einer ist allzu einseitig, wissenschaftlich-speziell interessiert, ein anderer ist zu sehr von übler Atmosphäre in Gespräch und Büchern über den §175 umgeben und gibt sogar Anlaß zu Auseinandersetzungen wegen unflätiger Bemerkungen, die er Frau Fuhrmann gegenüber geäußert haben soll. Noch ein anderer ist zu sehr Einsiedler und versteht es nur schlecht sich einem Gemeinschaftsleben einzufügen. Einer ist frisch, fröhlich und derb und besser dazu geeignet, wenn nicht die Derbheit zum Radaubruderton ausarten wird. Noch ein anderer hat die Führernaturhoffnungen nicht erfüllt und läßt nur die Hoffnung für später noch offen. Das ist das schwerste Ergebnis: Vorleben können wir noch nicht.

Auf Ulms Frage, weshalb gegen seine Stube eine Mißstimmung bestehe, wird ihm erwidert, daß sich diese Mißstimmung nur gegen die schlechten Angewohnheiten, nicht aber gegen die Kameraden richtet.

Die Abendaussprache klingt aus in einem Beethovenandante, das Herr Bandmann spielt [Anm. 3]. Herr Blume richtet an ihn, der dazwischengeschneit war als Neuling, die Bitte, sich durch so viel gegenseitige Kritik nicht abschrecken zu lassen; das Positive konnte dem Thema der Tagesordnung entsprechend nicht erwähnt werden und brauchte es auch nicht; dem Fernstehenden müßten die Teilnehmer schwärzer erscheinen als sie sind. ---

Protokoll: E. Gawronski.


Anmerkungen::

Anm. 1:
Bis hierher - als 'Einleitung' - von Blumes Hand.

Anm. 2:
Straf- bzw. Kampfrede; nach dem Kampfreden des Demosthenes gegen König Philipp von Mazedonien.

Anm. 3:
Ab hier wieder von Blumes Hand.



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