Wilhelm Blume

Grundzüge zum Plane der ersten städtischen Sonderschule für Schüler aus den Oberstufen der höheren Lehranstalten Berlins (17.12.1921)

Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg
Veröffentlichung: Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1999/0001/q11.html
Literatur: Haubfleisch, Dietmar: Schulfarm Insel Scharfenberg. Mikroanalyse der reformpädagogischen Unterrichts- und Erziehungsrealität einer demokratischen Versuchsschule im Berlin der Weimarer Republik (=Studien zur Bildungsreform, 39), Frankfurt [u.a.] 2001, bes. S. 182-185.



17.12.21

Grundzüge zum Plane der ersten städtischen Sonderschule für Schüler aus den Oberstufen der höheren Lehranstalten Berlins (W. Blume)

Es wird geplant, auf der 93 Morgen umfassenden städtischen Insel Scharfenberg im Tegeler See die dort im Mai d.J. von Studienräten des städtischen Humboldtgymnasiums mit Unterstützung des Jugendamts und der Schuldeputation begründete "Sommerschule" zu einer selbständigen Wahlschule für Schüler aus den Oberstufen der höheren Lehranstalten Berlins auszubauen.

Sie will die Schüler in engster Verbindung mit der Natur leben lassen, auch den Unterricht, soweit es die Witterungsverhältnisse irgend gestatten, im Freien abhalten, die geistige Schulung durch die in der Mußezeit betriebene Feld-, Garten- oder Werkarbeit ergänzen;
sie will in der geschlossenen sich selbst verwaltenden und kameradschaftlich lebenden Gemeinschaft zur Selbständigkeit und zu einem wachen Verantwortlichkeitsgefühl für ein grösseres Ganze erziehen;
sie will durch praktische Ausübung und theoretische Unterweisung zu einem wahren Kunstverständnis führen, Gefühl für Stil wecken und die Kunst als Ausgleich eines allzu einseitigen Intellektualismus zu einem lebendigen Bestandteil ihres Wesens machen;
sie will die Zahl der Pflichtfächer vermindern und die jetzt nach dem Schubkastensystem getrennten "allgemeinbildenden Unterrichtsgegenstände" in weitestgehender Konzentration zu einem Weltbild vermittelnden Kernunterricht zusammenfassen, daneben die Möglichkeit ernsterer Vertiefung in ein nach eigenem

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Interesse gewähltes Spezialstudium bieten;
sie will eine Unterrichtsmethode anstreben, die unter Eindämmung der üblichen Rezeptivität wirklich selbsttätige Mitarbeit der Schüler (nicht bloss in den experimentellen Fächern) hervorlockt.


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Wenn sie alles dies zu verwirklichen sucht,

hofft sie einmal, den sich freiwillig in ihr sammelnden Schülern, ohne etwa das Ziel qualitativ zu ermässigen, die Freude an der Schule wiederzugeben und sie gesunder, aufgeschlossener, mehr der Sache hingegeben, freier und persönlicher entwickelt zu entlassen, als es jetzt im Durchschnitt beim Abiturium der Schule möglich ist,
und zweitens durch ein Ausprobieren die alten unter ungünstigeren Bedingungen arbeitenden Schulen in ihrer Reformtätigkeit befruchten.


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Um bei aller Reformfreudigkeit an das bewährte Alte anzuknüpfen und verfrühte Überstürzung zu vermeiden, soll der eigentlichen Oberstufe, die auf die Dauer von 3 Jahren gerechnet ist, eine Vorbereitungsklasse vorangehen.

Diese Vorbereitungsklasse wird aufnehmen 30-35 Untersekundaner Berliner Gymnasien, die es treibt, ihre letzten Schuljahre bis zum Abiturium draussen in der Natur in enger Gemeinschaft mit ihren Kameraden und Lehrern zu verleben, die vielleicht unter den Verhältnissen der Schule oder des Hauses leiden, aber tiefere Interessen haben und an ihrer eigenen ethischen Entwicklung und der der anderen zu arbeiten gewillt sind. Die Stadt und Stiftungen müssen darauf bedacht sein, besonders geeigneten Schülern, die aus fi-

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nanziellen Gründen ihre Schulbildung in Untersekunda schweren Herzens abzubrechen vorhaben oder sich nur kümmerlich bis Prima durchhungern könnten, den Aufenthalt auf der Schulinsel zu ermöglichen.

Der Lehrplan dieser Vorbereitungsklasse wird sich stofflich in der Hauptsache mit dem gymnasialen der Untersekunda decken; damit ist Schülern, die sich nach dem Urteil der Lehrer für diese Lebensgemeinschaft nicht eignen oder selbst ihr nicht weiter anzugehören wünschen, die Möglichkeit gegeben, ohne Schaden in die Obersekunda ihrer alten Anstalt zurückzutreten. Vor allem auch soll das Gros der späteren Sonderschüler die Segnungen einer strammen fremdsprachlichen Schulung durchgemacht haben; sie sollen, ehe sie sich ihre Spezialfächer wählen, die Elemente möglichst vieler [Fächer] kennen und sich nicht schon im Tertianeralter entscheiden, in dem erfahrungsgemäss im Durchschnitt noch keine begründeten wissenschaftlichen Neigungen vorhanden oder noch in sprunghaftem, mehr durch Äußerlichkeiten bestimmten Wechsel begriffen sind. Eine Abweichung vom Normallehrplan tritt nur insofern ein, als der Gesangunterricht in zwei obligatorischen Stunden stofflich - besonders in seinem theoretischen Teil (Grundlagen der Harmonielehre, der Formenlehre, Überblick über die Musikgeschichte) - über das Übliche hinausgeht und der bisher nur fakultative 2stündige Zeichenunterricht unter Betonung des Theoretischen (Bildbetrachtung, Übersicht über künstlerische und kunstgewerbliche Strömungen) und mit Einführung in die Elemente von Buchbinder- und Bastelarbeiten zum Pflichtfach erhoben wird. Es soll damit der Kunstunterricht, der ein Grundprinzip der Oberstufe ist, vorbereitet und zugleich vielseitiges Interesse auf diesen Gebieten geweckt werden, damit nachher die im Kunstunterricht oder auch in der Musik- oder Werkbetätigung nötige eigene Entscheidung auf Grund einer gewissen Sachkenntnis erfolgt. Die Zeit für dieses Mehr an Stunden wird durch Wegfall von 2 der bisherigen Turnstunden gewonnen, da die körperliche

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Ertüchtigung durch den Aufenthalt im Freien durch außerunterrichtliches Spiel, durch Baden und Gartenarbeit sowieso zu ihrem vollen Rechte kommt. - In der Methode wird in allen Fächern eine allmähliche Annäherung an den sog. Arbeitsunterricht erstrebt. -

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Der Unterricht in der Oberstufe gliedert sich

  1. in einen 16stündigen Kernunterricht,
  2. in einen 8stündigen Kursunterricht.

ad I. Der Kernunterricht widmet 10 Wochenstunden der Vermittlung,
  1. eines geschichtlich bestimmten Weltbildes,
  2. 6 Stunden der Vermittlung eines naturwissenschaftlich gesehenen Weltbildes.

ad a: In 8 Stunden von den 10 sieht der Kernunterricht möglichst von Fächereinteilung ab, fasst Religionskunde, Literatur, Volkskunde, Politik, Wirtschaft zu möglichst einheitlichen Epochenbildern zusammen. Dabei verfährt er nach dem Prinzip des fluktuierenden Helfersystems. Beispielsweise, es wird die Renaissance durchgenommen: man lernt miteinander kennen die religiösen Strömungen, liest ein Humanistendrama (deutsch, den lateinischen Text daneben), ein Werk von Shakespeare, um die Renaissance in England kennen zu lernen, bespricht die Malerei und das neue naturwissenschaftliche Weltbild (Copernikus). Dabei wird sich der Zentrallehrer einige Stunden den Kunstlehrer heranholen, damit er auf Grund seiner tieferen Kenntnis das Bild von der Malerei der Renaissance weiter ausführe, wird dabei selbst zum Hörer; oder bei Besprechung der naturwissenschaftlichen Umwälzungen greift der Zentrallehrer ein. - Wenn man sich das Barockzeitalter in allen seinen Erscheinungen lebendig machen will, wird beispielsweise auch der Musiklehrer eingreifen zu gegebener Stunde (Bach) oder bei Durchnahme des Volkslie-

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des oder der Romantik (E. Th. A. Hoffmann) werden innerhalb des Zentralunterrichts der Zentrallehrer und der Musiklehrer gemeinsam arbeiten, abwechselnd lehrend oder hörend, als Hörer mit den Schülern weiter arbeitend. Das Zusammenleben im Internat ermöglicht solch fluktuierendes Helfersystem ohne jede Stundenplanschwierigkeit.

Zwei von diesen ad a angeführten 10 Stunden bleiben der Repetition und Vertiefung in den einzelnen Fächern den Lehrern abwechselnd vorbehalten.

ad b: in dem naturwissenschaftlichen 2. Teil des Kernunterrichts werden die in der Vorbereitungsklasse gewonnenen mathematischen Kenntnisse erweitert in einer von den Anforderungen der Astronomie bestimmten Stoffauswahl, ferner Geologie und Geodäsie getrieben; die am mathematischen Pensum durch dessen Herabschraubung gewonnene Zeit wird der Biologie gewidmet.

ad II. In den 8 Stunden nimmt der Schüler nach freier Wahl teil. Entweder

  1. am antiken Kurs (Griechisch im Mittelpunkt),
  2. am neusprachlichen Kurs (Englisch im Mittelpunkt),
  3. am Mathematik- und Chemiekurs,
  4. am Musikkurs,
  5. am Kursus für bildende Künste.

In der Abschlussprüfung muss jeder Schüler den Anforderungen des Kernunterrichts und eines Sonderkurses genügen.

Da die Schüler in der Schule wohnen, bleibt selbstverständlich Zeit und Lust zu ausserunterrichtlicher künstlerischer Betätigung; hierher gehören die Extramusikstunden, privatissime beim Musiklehrer oder Übungen des Schülerorchester oder zwanglose Besprechungen.

Nach den in der diesjährigen Scharfenberger Sommerschule gemachten Erfahrungen lassen sich die Abende durch Vorlesen, Deklamieren, Theaterspiel, musikalisches Vorspiel leicht und

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angenehm in fröhlichen Wetteifer der verschiedenen Gruppen für das künstlerische Erleben nutzbar machen.

Da die Schüler der Oberstufe nur 24 Wochenstunden haben, soll ein Wochentag ganz unterrichtsfrei sein, für Wanderungen, Museums- und Konzertbesuche und Beschäftigungen ganz nach Belieben. Es wird angeraten werden, an diesen Tagen gerade mit dem zu Beschäftigen, was man sonst nicht treibt; die Musikbeflissenen werden vielleicht mit einigen Sprachbeflissenen sich zu gemeinsamer fremdsprachlicher Lektüre im Garten zusammensetzen usw. -


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