Zippert, Christian: Erinnerung um der Zukunft willen. Ansprache anläßlich der Übergabe der wiederhergestellten Synagoge in Roth an die Öffentlichkeit am 10. März 1998. Marburg 1998: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0007/welcome.html - auch als: Zippert, Christian: Erinnerung um der Zukunft willen. Ansprache anläßlich der Übergabe der wiederhergestellten Synagoge in Roth an die Öffentlichkeit am 10. März 1998, hrsg. vom Kreisausschuß Kulturamt des Landkreises Marburg-Biedenkopf, Marburg 1998; auch in: Eröffnung der ehemaligen Synagoge Roth am 10. März 1998. Pressespiegel - Reden - Ansprachen. Zusammengestellt vom Arbeitskreis Landsynagoge Roth e.V., Weimar 1998, o.S.


Erinnerung um der Zukunft willen

Ansprache anläßlich der Übergabe der wiederhergestellten Synagoge in Roth an die Öffentlichkeit am 10. März 1998

Von Bischof Dr. Christian Zippert


Zur englischen Fassung

I.

Wenn heute die Synagoge in Roth nach Jahren der äußeren und inneren Erneuerung der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht wird, dann geschieht dies zuerst um der Erinnerung willen. Die Synagoge läßt - stellvertretend für viele andere Synagogen in der näheren und ferneren Umgebung - Geschichte anschaulich und begreifbar werden, und zwar jüdische Geschichte, die zugleich Teil unserer deutschen Geschichte ist. Das Gebäude weist eine Vielzahl von Spuren auf, die die Generationen bis auf den heutigen Tag an ihm hinterlassen haben. Darunter sind helle und schöne, aber auch dunkle und häßliche Spuren. So oder so verraten sie etwas über die Menschen, von deren Geschichte sie zeugen. Daran soll mit dem Gebäude stellvertretend für vergleichbare Geschichten an vielen anderen Orten in Deutschland erinnert werden. Aber was tun wir eigentlich, wenn wir uns erinnern? Warum und wozu Erinnerung?

Die Synagoge selbst kann die Richtung weisen, in der eine Antwort zu suchen ist. In ihrem Innern blieben zwei Inschriften erhalten. Beide sind Bibelworte. Das eine will den Besucher an die Besonderheit des Ortes erinnern: "Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt" ist auf der nördlichen Wand in hebräischer Sprache zu lesen - ein Zitat aus dem 26. Psalm, hier in der Übersetzung Martin Luthers wiedergegeben. Das andere will daran erinnern, wie man sich zu verhalten hat, wenn man zu denen zählt, die den Ort aufsuchen, wo Gottes Ehre wohnt: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" steht ebenfalls in hebräischer Sprache auf der südlichen Wand – ein Zitat aus dem 3. Buch Mose (19,18).

Beides sind jahrtausendealte Schriftworte. Gemeinsam ist ihnen, was als typisch für biblisches Erinnern gelten kann: der Gegenwartsbezug. Wer das uralte Gebot "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" liest, der soll es heute und hier tun. Und wer die Inschrift aus den Psalmen liest, der soll jetzt gewahr werden: Dies ist ein heiliges Haus, der Wohnort Gottes - und sich dementsprechend ehrfürchtig verhalten.

Erinnern im biblischen Sinn ist nicht museal, sondern gegenwartsbezogen. Es ist an der Gegenwart interessiert, weil ihm alles an der Zukunft der in der Gegenwart lebenden Menschen liegt. "Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt" und "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst": Ohne die Liebe zur Gegenwart Gottes und ohne die Liebe zum Nächsten ist diese Zukunft gefährdet. An beides muß erinnert werden – um der Zukunft willen.

Solches zukunftsorientierte Erinnern und Gedenken gehört zum Wesen des biblischen Glaubens. Im Alten Testament wird immer wieder an zentraler Stelle dazu aufgefordert, der eigenen Geschichte zu gedenken. Der biblische Glaube kann das nicht losgelöst von Gott, sondern nur im Horizont Gottes tun. Für ihn ist, wie Altbundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag sagte, die Erinnerung eine "Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte."

"Gedenkt seiner Wunderwerke, die er getan hat, seiner Zeichen und der Urteile seines Mundes", fordert der Beter des 105. Psalms auf. Und dann wird ausführlich die Geschichte Israels erzählt, vom Bund mit den Vätern an über die Gefangenschaft in Ägypten, den Auszug und die Wanderung durch die Wüste bis hin zum Einzug in das gelobte Land. Warum? Weil daraus etwas für die Zukunft zu lernen ist.

Zum einen die wunderbare Bewahrung durch Gott. Ihrer zu gedenken mündet von selbst in den Dank und das Lob Gottes "Danket dem Herrn und rufet an seinen Namen; verkündigt sein Tun unter den Völkern" und lädt dazu ein, weiterhin nach Gott und seiner Macht zu fragen: "Fragt nach dem Herrn und seiner Macht, sucht sein Antlitz allezeit!" Denn es darf darauf vertraut werden, daß er auch künftig sein Volk bewahren wird.

Zum anderen wird dazu aufgefordert, sich auch der dunklen Seiten der eigenen Geschichte zu erinnern, der Gottvergessenheit und des Ungehorsams und der dadurch drohenden Folgen für das eigene Ergehen: "Sie vergaßen Gott, ihren Heiland, der so große Dinge in Ägypten getan hatte, Wunder im Lande Hams und schreckliche Taten am Schilfmeer. Und er gedachte sie zu vertilgen, wäre nicht Mose gewesen, sein Auserwählter; der trat vor ihm in die Bresche, seinen Grimm abzuwenden, daß er sie nicht verderbe", lesen wir im 106. Psalm. Eine Erinnerung an die Vergeßlichkeit! Auch dieses Erinnern geschieht nicht um der Vergangenheit, sondern um der Zukunft willen. Es will vor Gottvergessenheit und ihrer Folgen bewahren und zum Gehorsam gegen Gottes Gebot anhalten.

Warum? Damit das Leben Zukunft hat. Deshalb mündet die Erinnerung an die Geschichte des Vergessens und des Ungehorsams in den Wunsch: "Wohl denen, die das Gebot halten und tun immerdar recht."


II.

Wenn wir vom heutigen Anlaß her der biblischen Aufforderung nachkommen, der eigenen Geschichte zu gedenken, dann steht zunächst jene Epoche des Vergessens und des Ungehorsams im Vordergrund, in der - nicht nur in Roth – versucht wurde, die Erinnerung an jüdische Gemeinden und jüdische Gotteshäuser durch ihre Vernichtung gänzlich auszulöschen.

Wir dürfen vor dieser nationalsozialistischen Vergangenheit nicht die Augen verschließen, auch wenn sie uns bis heute furchtbar belastet. Wir dürfen es nicht um der ermordeten Opfer willen. Wir dürfen es nicht um der überlebenden Opfer und ihrer Nachkommen willen – sie sind heute unter uns. Wir dürfen es nicht um der hoffentlich versöhnten Zukunft willen. Nur wenn wir das Vergangene wahrnehmen, können wir auf eine versöhnte Zukunft mit den Überlebenden, ihren Nachkommen und dem ganzen jüdischen Volk hoffen.

Richard von Weizsäcker schrieb uns 1985 unwiderruflich ins Gewissen: "Wer ... vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren." Und an die junge Generation gerichtet: "Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird."

In diesem Sinn hat die Landessynode der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck im November des vergangenen Jahres erklärt: "Die Schrecken der Judenverfolgung dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Versöhnung braucht die Erinnerung." Ich füge hinzu: Versöhnung braucht die konkrete Erinnerung. Ohne die konkrete Erinnerung bliebe sie unverbindlich. Und eine unverbindliche Versöhnung wäre ein Widerspruch in sich.

Woran ist konkret zu erinnern? Die restaurierte Synagoge bewahrt in ihrem Inneren die Spuren der Zerstörung. Die gesamte Inneneinrichtung fehlt. An der Ostwand verraten Farbunterschiede den ehemaligen Standort des Thoraschreins. Eine tragende Emporensäule ist aus ihrem Fundament verrückt. Ungefähr in der Säulenmitte finden sich tiefe, von Axtschlägen herrührende Kerben. Es ist unübersehbar und soll es auch sein: Der Innenraum wurde im November 1938 zerstört.

Es war die SA aus Niederweimar, getarnt in Zivilkleidung, die das Werk der Verwüstung gezielt ausführte, in ihrem Gefolge auch Männer aus Roth - vermutlich getaufte Christen -, die in der Aktion eine willkommene Gelegenheit sahen, ihrer Zerstörungswut freien Lauf zu lassen. Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß einige mit dem, was geschah, nicht einverstanden waren. Es war eine Frau, die gegenüber dem Bürgermeister und dem Ortsgruppenleiter protestierte: "Wie kann man denn ein Gotteshaus demolieren?" Ihr einsamer Protestruf verhallte wirkungslos. Der Bürgermeister soll ihr gedroht haben: "Wenn du nicht ruhig bist, kommst du weg!"

‚Wegkamen' nicht lange Zeit nach dem Pogrom die jüdischen Nachbarn. Soweit sie nicht vorher emigrieren konnten, wurden sie im Herbst 1941 und ein Jahr später im Herbst 1942 aus Roth deportiert. Dieses Schicksal erlitten fünfzehn der zuletzt in Roth lebenden dreiunddreißig jüdischen Bürger. Meist ist es uns nicht gegenwärtig: Diese Menschen waren Deutsche, Deutsche jüdischen Glaubens.

Es ist vor allem Herbert Roth zu danken, die Geschichte der Juden von Roth erforscht und in einer bislang unveröffentlichten Untersuchung dokumentiert zu haben. Er und seine Familie konnten rechtzeitig in die USA emigrieren. Er ist heute unter uns, und ich hoffe auf sein Einverständnis, wenn ich aus seiner Arbeit zitiere. Er schreibt: "Der letzte Akt zur Liquidierung der Rother Juden wurde in den frühen Morgenstunden des 6. Septembers 1942 ausgeführt. Nach den Aussagen von Dorfbewohnern nahm der Bürgermeister selbst die Juden fest, lud sie auf einem von einem Pferd gezogenen Wagen und brachte sie an die Bahnstation in Niederwalgern, wo sie um 8.56 Uhr auf einen Transport verladen wurden. Die Häuser wurden abgeschlossen, der Bürgermeister erstattete Bericht, daß er die Instruktionen ausgeführt habe. Der Landrat von Marburg berichtete an die Gestapo: ‚Alles ist ohne Schwierigkeiten vor sich gegangen.' So endete", schreibt Herbert Roth als letzten Satz, "nach 250 Jahren das Leben der Juden von Roth."

Dieses Ende kam nicht abrupt. Ihm gingen seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten die schrittweise Ausgrenzung und Entrechtung voraus. Wissen wir es noch? Lassen wir uns darauf hinweisen? In Zeitungen und Zeitschriften, im Rundfunk und im Film, auch in Schulbüchern wurde das Zerrbild des von Natur aus bösen Juden verbreitet. Die Propaganda zeigte Wirkung, auch hier in Roth. Nationalsozialistisch beeinflußte Christen schränkten den sozialen Kontakt zu ihren jüdischen Nachbarn ein, grüßten sie nicht mehr und kauften nicht mehr bei ihnen ein. 1935 wurden den Juden durch die Nürnberger Gesetze ihre bürgerlichen Rechte entzogen. 1937 durften jüdische Kinder keine öffentlichen Schulen mehr besuchen. Nach dem Pogrom im November 1938 wurde verboten, mit Juden Handel zu treiben, sie zu besuchen oder auch nur mit ihnen zu sprechen. Mit dem 15. September 1941 mußten alle Juden den gelben Stern auf ihrer Kleidung tragen. Seit Dezember 1941 durften sie ihre Häuser nicht mehr verlassen mit Ausnahme der einen Stunde, die ihnen zum Einkaufen gestattet wurde.

Das alles darf und soll nicht vergessen werden. Die Ausstellung "Ausgegrenzt – vertrieben – ermordet", die heute hier im Bürgerhaus eröffnet wird, zeigt die menschenfeindliche Entwicklung am Beispiel von vier Einzelschicksalen – viel anschaulicher, als es mit Worten möglich ist. Das Leiden bekommt Gesichter.

In der Synagoge wird nachher eine Tontafel in der Form des Davidssterns niedergelegt. Sie wird die Namen der Opfer, die in die Tafel eingraviert sind, vor dem Vergessen bewahren.


III.

Die Erinnerung an den jüdischen Teil unserer Geschichte griffe zu kurz, wenn wir sie auf den Zeitraum von 1933-45 beschränkten. Die Geschichte der Juden von Roth reicht viel weiter zurück - etwa bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Die erste Volkszählung in Roth aus dem Jahr 1710 weist sechs jüdische Familien mit insgesamt 38 Personen aus. Es ist Herbert Kosog und Herbert Roth zu danken, daß sie auch die Zeit vor 1933 durch ihre umfangreichen Forschungen aus dem Dunkel der Archive hervorgeholt haben.

Woran ist in unserem Zusammenhang besonders zu erinnern? Auf weiten Strecken war es eine mühevolle Geschichte, in der es den jüdischen Familien nicht leicht gemacht wurde, ein einigermaßen normales Leben wie andere zu führen. Das läßt sich anhand der wichtigsten Stationen verdeutlichen.

Maßgeblich für die erste Periode wurde die Überarbeitung der vorhandenen Judenordnungen durch Landgraf Karl im Jahr 1679. Sie unterstellte die Juden dem Schutz des Landgrafen und räumte ihnen im Marburger Umland das Aufenthaltsrecht und die Erlaubnis ein, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber den erforderlichen Schutzbrief mußten sie teuer bezahlen und die festgelegten Rechte wurden nur unter der gleichzeitigen Auflage zahlreicher Beschränkungen gewährt. Man mag es kaum glauben, aber es galt offenbar als völlig normal, daß der Ortspfarrer Juden verpflichten konnte, an den christlichen Gottesdiensten teilzunehmen. Juden durften sich außerhalb der Jurisdiktion des Landgrafen nicht frei bewegen. Eine andere Bestimmung schränkte den Handel auf ganz bestimmte Waren ein, und diese wenigen Waren durften nur dann verkauft werden, wenn es vor Ort keine Christen gab, die die gleichen Güter anboten. In dieser Konkurrenzbestimmung sieht Herbert Roth übrigens einen entscheidenden Grund dafür, "daß Juden sich in dörflichen Siedlungen wie Roth niederließen": Es gab dort keine solche Konkurrenz.

Eine knappe Generation später, im Jahr 1736, wurden bereits 13 jüdische Familien in Roth gezählt. Die jüdische Gemeinde umfaßte jetzt 54 Mitglieder. Es muß sehr zu denken geben, wenn Herbert Roth für dieses Wachstum als einen Grund angibt, "daß der zuständige Pfarrer seinen Sitz in dem Nachbarort Fronhausen hatte." Dadurch war, wie Herbert Roth schreibt, "die Quelle antijüdischen Einflusses beschränkt."

Das Anwachsen der jüdischen Gemeinde in Roth in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts führte bald zu einer offiziellen Beschwerde gegenüber dem Landgrafen von Hessen-Kassel. Ich zitiere aus dieser Beschwerde: "Diese jüdischen Familien wachsen so schnell, daß es bald so viele Juden wie Christen in unserem Dorf geben wird. Wenn sich dieser Prozeß fortsetzt, werden wir ruiniert werden. Außerdem gibt es viele Kämpfe, an denen Juden beteiligt sind." Die Beschwerde gipfelt in der Bitte an den Landgrafen, "die Juden des Dorfes zu verweisen, die keine von dem Landgrafen ausgestellten Schutzbriefe besitzen."

Die Bitte wirkte nicht sofort, sehr wohl aber mittelfristig. Sieben Jahre später erging im August 1744 tatsächlich die landgräfliche Anordnung, die die Juden aus Roth verwies - mit Ausnahme der beiden reichsten Familien. Die unmittelbare Folge war, daß sich die jüdischen Gemeinden von Roth, Fronhausen und Lohra zusammenschließen mußten, um die für den jüdischen Gottesdienst vorgeschriebene Mindestzahl von zehn erwachsenen Männern aufzubringen. Herbert Roth vermutet wiederum, "daß sich angesichts der zunehmenden Zahl von Juden in der Gegend die Kirche einmischte." Es gibt offenbar keine Anhaltspunkte für die Annahme, daß seine Vermutung nicht zutrifft. Die Geschichte des christlichen Antisemitismus und seiner Wirkung für die Ausbreitung judenfeindlicher Einstellungen in weiten Kreisen der Bevölkerung und der Obrigkeit ist immer noch zu wenig erforscht. Sein erschreckendes Ausmaß dringt erst allmählich in unser Bewußtsein.

Um so notwendiger ist es, daß die Landessynode der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck in ihrer Erklärung zum Verhältnis von Christen und Juden eingesteht: "Die Auseinandersetzung mit der Kirchengeschichte führt zu der Erkenntnis, daß die unheilvolle Entfremdung und Feindschaft der Christen gegen die Juden dazu beigetragen haben, den Verbrechen an den Juden den Boden zu bereiten."

Wie verlief die weitere Entwicklung für die jüdische Gemeinden in Roth und andernorts? Ein Lichtblick war die nach dem Sieg Napoleons im Zuge der Errichtung des Rheinbundes zustande gekommene Gründung des Königreichs Westphalen, dem Kurhessen einverleibt wurde. Ein Dekret aus dem Jahr 1808 gewährte den Juden erstmals die vollen Bürgerrechte. Auch wenn diese Rechte nach der Niederlage Napoleons wieder aufgehoben wurden, gab es auf die Dauer hinter den einmal erreichten Stand der Rechtsentwicklung keinen Schritt mehr zurück. 1818 entfiel das Ausstellen von Schutzbriefen an Juden. 1823 wurde mit einer durch Kurfürst Wilhelm II. veranlaßten Verordnung die Verleihung der vollen Bürgerrechte vorbereitet, die die Juden 1833 endgültig erhielten.

In demselben Jahr beschloß die jüdische Gemeinde in Roth den Neubau der Synagoge, nachdem ein Jahr zuvor die alte Synagoge zusammen mit der angrenzenden jüdischen Schule abgebrannt war. In Roth lebten zu dieser Zeit etwas mehr als dreißig Juden. Zusammen mit Fronhausen und Lohra umfaßte die jüdische Gemeinde in der Mitte des 19. Jahrhunderts ungefähr 100 Personen und war damit nach Marburg die zweitgrößte der insgesamt fünf Synagogengemeinden im Kreis. Obwohl es den jüdischen Familien wirtschaftlich langsam besser ging und sie zum Teil eigene Häuser mit kleinen Grundstücken besaßen, dürfen wir uns über die Lebensverhältnisse keine Illusionen machen. Die meisten Juden – Viehhändler, Kaufleute, Handwerker und kleine Landwirte - waren arm.

Ihre beste Zeit sollte mit der Reichsgründung durch Bismarck folgen und bis zum Vorabend der Machtergreifung Adolf Hitlers dauern. Nach der Besetzung Hessens durch Preußen wurden 1867 die Juden den Nichtjuden in jeder Hinsicht gleichgestellt. Die Zugehörigkeit zur Religion und Rasse wurde auf keiner Urkunde mehr gesondert festgehalten. Mit anderen Worten: Die Juden waren vollgültige Reichsbürger geworden. Ihre Kinder gingen - auch in Roth - auf die regulären Schulen und konnten sich mit ihren nichtjüdischen Schulkameraden anfreunden - ein Vorgang von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Herbert Roth notiert dazu: "Während dieser Periode identifizierten sich die Juden vollkommen mit ihrem deutschen Erbe und nahmen deutsche Kultur und nationale Bestrebungen an." Die deutsche Kultur wurde ein Teil der jüdischen und die jüdische ein Teil der deutschen Kultur.

Dieses mehr oder weniger gut gelingende Zusammenwachsen hatte sich im Ersten Weltkrieg zu bewähren. Es wurde schon oft und zu Recht darauf hingewiesen, daß viele jüdische Männer als Soldaten der deutschen Armee für Kaiser und Vaterland in den Krieg zogen. Weil Namen meist erst im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Völkermord genannt werden, möchte ich sie auch hier erwähnen. In Roth waren es - nach den Recherchen von Herbert Roth - Herman Höchster, Berthold Stern, Joseph Bergenstein, Herman Stern und Herman Nathan. Berthold Stern wurde verwundet. Herman Stern fiel 1917 im Alter von 19 Jahren. Die Weltkriegssoldaten Herman Höchster und Joseph Bergenstein hingegen wurden erst von den Nationalsozialisten umgebracht.

Die deutsche Niederlage am Ende des Ersten Weltkriegs verschlechterte die Situation für die Juden erheblich – vor allem durch die sogenannte "Dolchstoßlegende". Wider besseres Wissen hatten u.a. die Generalfeldmarschälle von Hindenburg und Ludendorff verbreitet, die gegen Ende des Krieges entstandenen revolutionären Bewegungen seien der unbesiegten Frontarmee in den Rücken gefallen. Diese unwahre, aber bequeme Antwort auf die Frage, warum der Krieg verloren wurde, fand weithin Glauben, auch darin, daß man vor allem die Juden für diesen Dolchstoß verantwortlich machte. Trotz der vorangegangenen Normalisierungsphase hatte sich der Antisemitismus in den Köpfen und Herzen selbst der höchsten Repräsentanten von Staat und Gesellschaft erhalten. Ich zitiere aus einem Brief des Kaisers Wilhelm II., den er 1919 aus dem Exil an Generalfeldmarschall von Mackensen schrieb: "Die tiefste und gemeinste Schande, die je ein Volk in der Geschichte fertiggebracht, die Deutschen haben sie verübt an sich selbst. Angehetzt und verführt durch den ihnen verhaßten Stamm Juda, der Gastrecht bei ihnen genoß. Das war sein Dank!" Dann folgen Sätze, die so abscheulich sind, daß ich sie nicht vorlesen kann. Es ist nicht zu bestreiten, daß die Wurzeln für das, was nach 1933 mit den Juden geschah, bis in die Kaiserzeit zurückreichen.



IV.

Erinnern – wir merken es längst – ist anstrengend und mühevoll, vor allem dann, wenn die Erinnerung Begebenheiten schmerzlich bewußt werden läßt, von denen wir wünschen, sie wären niemals geschehen, und für die wir uns schämen. Solches Erinnern braucht Zeit, sehr viel Zeit. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft dauerte es dreißig, wenn nicht vierzig Jahre, bis bei uns die Erinnerung an das jüdische Erbe nicht nur vereinzelt hier und da, sondern weithin möglich wurde. Ich denke an das Mitte der achtziger Jahre erschienene Buch von Lea Rosh und Eberhard Jäckel mit dem (aus Paul Celans Todesfuge stammenden) Titel ‚Der Tod ist ein Meister aus Deutschland'. Ich denke an die drei großen Filme ‚Holocaust', ‚Shoa' und ‚Schindlers Liste'.

Ich denke auch an das in den Kirchen gewachsene Bemühen, sich mit den christlichen Wurzeln des Antisemitismus ernsthaft auseinanderzusetzen und zu einem neuen Verhältnis zwischen Christen und Juden zu finden. Es ist eine auch in unserer Kirche langsam wiedergewonnene Einsicht, daß die besondere Verbundenheit mit Israel zum Wesen unseres christlichen Glaubens gehört.

Ich denke schließlich an die inzwischen zahlreichen regionalen ‚Spurensucher' vor Ort. Das Ergebnis solcher Spurensuche im Landkreis Marburg liegt inzwischen in zwei Dokumentationen von Barbara Händler-Lachmann und Ulrich Schütt vor. 1992 erschien im Hitzeroth Verlag ‚Unbekannt verzogen oder weggemacht. Schicksale der Juden im alten Landkreis Marburg 1933-1945'. Und drei Jahre später in demselben Verlag die Dokumentation ‚Purim, Purim, ihr liebe Leut, wißt ihr was Purim bedeut? Jüdisches Leben im Landkreis Marburg im 20. Jahrhundert.'

Jede Erinnerung an das Erbe jüdischen Lebens konfrontiert uns mit der Schwierigkeit, daß wir vor einem weitgehend ausgelöschten Erbe stehen. Allmählich wird uns bewußt, welches ungeheure Ausmaß an äußerer und innerer Leere der Holocaust bei uns hinterlassen hat. Der Holocaust hat mit den jüdischen Nachbarn auch einen Teil unserer Identität als Christen in Deutschland vernichtet. Um so wichtiger ist es, die noch vorhandenen Spuren vom Erbe jüdischen Lebens zu bewahren, zu pflegen und soweit möglich mit neuem Leben zu füllen. Wir brauchen Denk - Räume, in denen an das Erbe jüdischen Lebens gedacht werden kann – um der Zukunft willen.

Es ist ein seltener Glücksfall, besser gesagt: ein Zeichen der Bewahrung Gottes, daß hier in Roth die schöne Synagoge ihre Zerstörung überstand. Sie ist das einzig erhaltene Beispiel einer kleinen Dorfsynagoge im Landkreis Marburg-Biedenkopf. Nach sechzig Jahren kann sie als ein wichtiges Zeugnis des untergegangenen Landjudentums im restaurierten Zustand wieder übergeben werden. Es ist allen zu danken, die das ermöglicht, sich dafür eingesetzt und daran mitgewirkt haben.

Es wird nun darauf ankommen, die Chance des Gebäudes für die Zukunftsgestaltung zu nutzen. Gedacht ist an eine Kultur- und Gedenkstätte, in deren Konzept die Gesamtschule Niederwalgern einbezogen werden soll. Das wäre ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine zukunftsorientierte Erinnerungsarbeit.

Ich hoffe, daß dieses ehrwürdige Denkmal viele Menschen zur Erinnerung anregt und ermutigt. Zu einer Erinnerung, die dazu beiträgt, daß es jüdische Menschen wieder wagen können, bei uns zu leben – gerne und ohne Angst. Dafür gibt es hoffnungsvolle Zeichen. Es sind noch nicht wieder viele jüdische Gemeinden in Deutschland. Aber es werden mehr und sie wachsen. Wir haben allen Anlaß, dafür dankbar zu sein und uns darüber zu freuen.

Ganz besonders freue ich mich aber darüber, daß zu dieser Feierstunde so viele Überlebende mit ihren Familien gekommen sind und daß Herr Landesrabbiner Lipschitz und der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Marburg, Herr Orbach, an ihr mit weiteren Gemeindegliedern teilnehmen. Das ist ein besonders gutes und ermutigendes Zeichen.

Ich wage es, diese Zeichen als Hinweis darauf zu deuten, was der jüdische Schriftsteller und Theologe Schalom Ben-Chorin in einem Lied in das biblische Bild kleidete: "Freunde, daß der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, daß die Liebe bleibt?" In diesem Sinn fordert er uns zur Erinnerungsarbeit auf: "Daß das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit, achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit."

Dabei kann uns diese Synagoge helfen. Wir achten das Leben am besten, wenn wir uns für die Erinnerungsarbeit ihre Inschriften zu Herzen nehmen: "Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt." Und "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Ohne die Liebe zur Gegenwart Gottes und die Liebe zum Nächsten kann es keine gute Zukunft geben.