Ullrich Amlung, Dietmar Haubfleisch, Jörg-W. Link und Hanno Schmitt: Vorwort.
In: "Die alte Schule überwinden". Reformpädagogische Versuchsschulen
zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Hrsg. von Ullrich Amlung,
Dietmar Haubfleisch, Jörg-W. Link und Hanno Schmitt. Frankfurt 1993
(Sozialhistorische Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung, 15).
S. 7f. - Wieder als: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1997/0002.html
Ullrich Amlung, Dietmar Haubfleisch, Jörg-W. Link und Hanno Schmitt
Vorwort
Die gegenwärtige Phase eines wiedererwachten schulpädagogischen Interesses an der Reformpädagogik hat ihre Ursachen u.a. in der Reformbedürftigkeit der staatlichen Regelschule.
Reformforderungen und Kritik am bestehenden
öffentlichen Erziehungssystem lassen sich an der
steigenden Zahl einschlägiger Fachtagungen in den
letzten Jahren ablesen. Eine dieser Tagungen, die unter
dem Motto 'Bilanz der Reformpädagogik' stehende
Jahrestagung der Historischen Kommission der Deutschen
Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, die vom 29.
September bis 3. Oktober 1991 im Bayerischen Schulmuseum
Ichenhausen stattfand, bildete den Ausgangspunkt für
den vorliegenden Band.
Die hier versammelten Beiträge bieten einen
Überblick über einige der wichtigsten
Versuchsschulen der 20er und 30er Jahre dieses Jahrhunderts, die durch praktische Reformarbeit erfolgreich
versuchten, das in ihrer Zeit ebenfalls als
reformbedürftig angesehene staatliche Schulwesen von
innen her zu reformieren.
Auf der Basis bislang nicht oder nur unzureichend
ausgewerteter Quellen untersuchen die Autorin und die
Autoren - nach einem einleitenden Beitrag zur 'Topographie
der Reformschulen in der Weimarer Republik' (Schmitt) - in
ausgewählten Detailstudien regionale Reformzentren:
Hamburg (Lehberger), Berlin (Radde), Leipzig (Pehnke),
Bremen (Nitsch/Stöcker), Magdeburg (Bergner)
Ruhrgebiet (Breyvogel/Kamp), Freistaat Braunschweig
(Sandfuchs) bzw. einzelne städtische und ländliche Versuchsschulen: Schulfarm Insel Scharfenberg in
Berlin (Haubfleisch), das Haus in der Sonne im Westerwald
(Link) und das Alternativschulmodell Tiefensee in der Mark
Brandenburg (Amlung).
Der inhaltliche Schwerpunkt der einzelnen Studien liegt
auf der reformpädagogischen Praxis der
Versuchsschulen in der Weimarer Republik, gleichwohl
werden auch die Entstehungsbedingungen vor 1918 sowie die
Zeit nach 1933 bzw. 1945 angemessen mitreflektiert, um
Wurzeln und Ausstrahlungen, Kontinuitäten und
Brüche transparent zu machen. Ebenso sind die
gesellschaftlichen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen, unter denen die Reformversuche
stattgefunden haben, hinreichend berücksichtigt,
damit beispielsweise auch die z.T. heftigen standes- und
parteipolitischen Kontroversen um die Projekte deutlich
werden.
Mit diesem Ansatz leisten die Autorin und die Autoren
zugleich auch einen wichtigen Beitrag zur Überwindung
eklatanter Defizite in der bisherigen Erforschung der
Reformpädagogik, die u.a. gekennzeichnet ist durch
eine ideen- und motivgeschichtliche sowie ideologiekritische Einengung, durch eine starre
Kanonisierung auf einzelne Reformpädagogen und ihre
Projekte, eine kaum hinterfragte Festschreibung zeitlicher
Grenzen und die Ausblendung vor allem 'linker' Pädagogen und Versuche.
Der Band will darüber hinaus im Hinblick auf die
aktuellen Schulreformbestrebungen dazu anregen, sich mit
der historischen Tradition der Reformpädagogik aktiv
auseinanderzusetzen. Zugleich soll damit der Vorstellung
begegnet werden, man könne ohne Berücksichtigung
des Wandels gesellschaftlicher Rahmenverhältnisse,
veränderter Lebenswelten und Denkweisen usw.
reformpädagogische Versatzstücke unkritisch, aus
ihrem historischen Zusammenhang gerissen und gewissermaßen als Allheilmittel gegen heutige Schulprobleme fruchtbar machen: Für eine kreative
Weiterentwicklung von Ideen und praktischen Erfahrungen
der Reformpädagogik ist eine genaue historisch-kritische Analyse der Reformpädagogik
unverzichtbar.
Von seiner Konzeption her ist der vorliegende Sammelband
sowohl als Einführung als auch als Forschungsbericht
zur weiteren Beschäftigung mit der
Reformpädagogik geeignet. Dem dient nicht zuletzt
auch die pragmatische Bibliographie am Ende des Buches.
Die Herausgeber - Marburg, im April 1993