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Titel:Die Impfgegnerschaft in Hessen – Motivationen und Netzwerk (1874-1914)
Autor:Mayr, Patrick
Weitere Beteiligte: Sahmland, Irmtraut (Prof. Dr.)
Veröffentlicht:2018
URI:https://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2018/0314
DOI: https://doi.org/10.17192/z2018.0314
URN: urn:nbn:de:hebis:04-z2018-03146
DDC:610 Medizin
Titel (trans.):The anti-vaccination movement in Hesse - motivation and network (1874-1914)
Publikationsdatum:2018-08-01
Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0

Dokument

Schlagwörter:
Impfgegner, Hessen, Wegener,, Netzwerktheorem, Spohr, Netzwerk, Impfkritik, Impfen

Zusammenfassung:
Die Ausgangsfrage der vorliegenden Arbeit beschäftigte sich mit der Erforschung von Legitimation, Motivation und Organisation der Impfgegnerschaft im Raum des heutigen Hessens, ausgehend von der Erfassung und Darstellung der Protagonisten auf individueller Ebene und eines sich daran anschließenden Versuchs der Rekonstruktion von Netzwerkstrukturen. Im Rahmen der Forschungslage zur Geschichte der Impfgegnerschaft leistet diese Studie einen Beitrag zur regionalgeschichtlichen Aufarbeitung impfkritischer Strömungen im Raum Hessen und erlaubt eine Verwendung des Netzwerk-Theorems, welches bereits für mehrere historische Studien erkenntnisfördernd angewandt wurde. Die Fragestellung zielte insbesondere auf die Analyse von Motivation und Legitimation einzelner Protagonisten ab und verfolgte diese hin zu einer Einordnung in ein dem Widerstand in der Impffrage verschriebenen Netzwerk. Ausgehend von einer individuellen Aufarbeitung sollte geklärt werden, wie sich einzelne Impfgegner mit teilweise unterschiedlicher Motivation zusammenfanden, um für ein gemeinsames Ziel einzutreten. Ferner galt es herauszuarbeiten, ob sich Parallelen zwischen der Impfgegnerschaft nach Erlass des Reichsimpfgesetzes 1874 und der impfkritischen Bewegung des 21. Jahrhunderts finden lassen. Auch für diesen Ansatz sollte ausgehend von der Netzwerkidee ein Vergleich von „damaligen“ und „heutigen“ Netzwerkstrukturen dienen, welcher unter Einbeziehung technischer Neuerungen wie dem Internet und anderer „neuer“ Publikationsmedien erfolgte. Da eine Analyse auf personenbezogener Ebene für die Impfgegnerschaft in Hessen bisher noch nicht erfolgt war, versprach dieser Zugang insbesondere einen Erkenntnisgewinn über die individuelle Motivation und Legitimation einzelner Protagonisten, welche sich dann mit Hilfe des Periodikums „Der Impfgegner“ zu einem Netzwerk zusammenfanden. Gegenüber einer Betrachtung der Impfgegnerschaft als gesamtheitliche Bewegung, in der individuelle Motivationen tendenziell unterschlagen werden würden, konnte durch den in dieser Arbeit gewählten Zugang ausgehend von einer persönlichen Betrachtungsebene eine detaillierte Analyse ihrer Zusammensetzung erreicht werden. So ließ sich erarbeiten, dass der Widerstand gegen die Impfung zwar bereits vor Erlass des Reichsimpfgesetzes 1874 bestand, jedoch erst durch dieses einen organisierten Charakter erfuhr. Vor allem das 1881 gegründete monatliche Periodikum „Der Impfgegner“ diente fortan als öffentliches Forum und Organisationsplattform der Impfgegner. Sie erfuhr maßgeblich durch die Gießener Familie Spohr, bestehend aus dem Naturheilkundler und Militäroberst Peter Spohr, sowie seine beiden Söhne, Curt Spohr (Jurist in Gießen) und Roderich Spohr (Arzt in Frankfurt), ihre ideologische Prägung. Peter Spohr war im Untersuchungszeitraum des „Impfgegners“ zwischen 1908 und 1914 bereits über 80 Jahre alt, und hatte sich durch seine naturheilkundlichen Lehren in entsprechenden Kreisen bereits einen Namen gemacht. Seine Werke propagierten ein Leben im Einklang mit der Natur, dessen Grundlage die Anwendung von Luft- und später auch Wassertherapien bildete. Eine gute Durchlüftung der Räume schien ihm ebenso wichtig wie die Applikation von Wasser unterschiedlicher Temperatur zur Heilung diverser Leiden, dessen Grundlage nach eigenen Angaben das Werk „Wasser tuts freilich“ von J.H. Rausse bildete. Spohr hielt sich im „Impfgegner“ im Hintergrund, was grundsätzlich seiner Persönlichkeit zu entsprechen schien. Die Zeitschrift verwendete ihn indes als Art Gallionsfigur und prominenten Vorreiter der Impfgegnerschaft, wenngleich Spohr diese Position nie aktiv eingefordert hatte. Seine Söhne Curt und Roderich Spohr übernahmen die naturheilkundliche Einstellung ihres Vaters und widersetzten sich dem Impfzwang im Rahmen ihres jeweiligen Berufes – Roderich Spohr praktizierte in Frankfurt als Allgemeinarzt und verhinderte beispielsweise die Impfung seiner Söhne mittels ärztlichem Attest. Im Jahr 1912 sollte seine Impfskepsis zu einem Gerichtsprozess führen, als er bei einer Patientin eine Pockenerkrankung übersah und sich in der Folge eine Pockenendemie entwickelte, die mehrere Todesopfer forderte. Mit seiner Verurteilung zu einer hohen Geldstrafe trat nun auch dessen Bruder Curt Spohr vermehrt in Erscheinung. Hatte dieser bisher nur wenige Artikel im „Impfgegner“, hauptsächlich zu rechtlichen Fragen verfasst, folgten nun mehrseitige Abhandlungen über die Impffrage und eine Aufnahme in den Vorstand des „Reichsverbandes der Impfgegner“. Neben der Familie Spohr sind diverse weitere Autoren zu nennen, deren Artikel im „Impfgegner“ insbesondere im Zeitraum zwischen 1908 und 1914 zu dessen Charakter beitrugen. Der Frankfurter Diplomingenieur Hugo Wegener prägte sowohl den „Impfgegner“, als auch die impfgegnerische Strömung mit beispiellosem Aktionismus und Schärfe. Zwischen 1910 und 1914 publizierte er mehrere impfkritische Bücher, eines davon laut eigenen Angaben mit mehr als 36.000 Fällen angeblichen Impfversagens, welche zum Teil auch mit Abbildungen versehen waren. Wegeners Agenda ließ sich gerade auf Grund der Fülle des publizierten Materials nur schwer bewerten. Da die Werke im Verlag seiner Frau erschienen und er im „Impfgegner“ Werbung für diesen abdrucken ließ, könnte man ihm monetäre Interessen unterstellen. Es konnte jedoch auch eine querulatorische Komponente herausgearbeitet werden, die möglicherweise den wahrscheinlicheren Beweggrund bildete. Wegener kann auch über Hessen hinaus als einer der aktivsten aber auch schillerndsten Persönlichkeiten der Impfgegnerschaft gelten. Ein weiterer bedeutender Impfgegner war der zeitweise in Kassel lebende Dr. Bilfinger, der 1908 den „Verein impfgegnerischer Ärzte“ ebendort gründete. Dies wurde in einschlägigen Kreisen mit Begeisterung aufgenommen und stellte einen weiteren Schritt im organisierten Widerstand gegen die Impfung dar. Wenngleich Bilfinger dadurch als wichtige Persönlichkeit im Impfgegnernetzwerk gelten konnte, hielt er sich aus publizistischer Sicht eher im Hintergrund. Seine Funktion als kurzzeitiger Leiter des Sanatoriums Gossmann zu Kassel eröffnete den Zugang zur Untersuchung des Kurortes Kassel-Wilhelmshöhe. Die dortige naturheilkundliche Ausrichtung ließ auch impfkritische Strömungen vermuten, welche nach eingehender Betrachtung jedoch nicht verifiziert werden konnten. Bilfinger schien auf Grund persönlicher Überzeugung gegen die Impfung einzustehen und bemühte sich durch Vereinsgründung und Organisation impfgegnerischer Ärzte um eine Bündelung einzelner Kräfte. Sein Bestreben war offenbar nur von mäßigem Erfolg gekrönt, da der „Verein impfgegnerischer Ärzte“ zumindest bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes (1914) augenscheinlich keine allzu große Rolle spielte. Weitere im Netzwerk aktive Impfgegner waren der Wiesbadener Arzt von Niessen, sowie die Frankfurter Impfärzte von Hohenhausen und Voigt. Sie trugen zwar ebenfalls durch kritische Bei- und Vorträge zum Impfthema bei, hatten aber keine richtungsweisende Bedeutung. Ihre Motivation lag mehrheitlich in ihren persönlichen Motiven in der Impffrage begründet. Die Untersuchung der Verbindungen der Protagonisten untereinander ermöglichte in der Folge eine Eingliederung der Impfgegnerschaft in Hessen in ein Netzwerk aus regionalen und überregionalen Beziehungen. Im Fokus stand dabei zunächst die Aufarbeitung entsprechend eines qualitativen Zugangs, welcher dann mittels einer geographischen Betrachtung weitere Rückschlüsse zuließ. Eine Analyse nach Zahl der Beiträge in der Zeitschrift „der Impfgegner“ erlaubte einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn durch eine Gewichtung und graphische Hervorhebung einzelner Autoren entsprechend ihrer Aktivität. So imponierte in der „Geographiekarte“ beispielsweise die Region Frankfurt als Epizentrum des impfgegnerischen Widerstandes, während nach Einbeziehung der schriftstellerischen Tätigkeit auch die Stadt Gießen an Bedeutung gewann. Informationen, welche also in der topographischen Ansicht nicht darstellbar waren, konnten durch eine unterschiedlich verortete Betrachtungsweise herausgearbeitet werden. In einem weiteren Schritt wurden zudem auch überregionale Beziehungen besonders relevanter Vertreter im Netzwerk untersucht. So gaben Briefwechsel zwischen Peter Spohr und dem Schweizer Adolf Vogt ebenso Einblick in die Persönlichkeit des Oberst, wie auch dessen Korrespondenz mit dem Rassentheoretiker Ludwig Schemann. Hier zeigte sich zudem der Nutzen einer Aufarbeitung auf persönlicher Ebene, welche nicht nur einen Einblick in die öffentliche, sondern auch in die persönliche Meinung einer Schlüsselfigur zuließ. Selbiges galt für den Briefwechsel zwischen Wilhelm Schwaner und Hugo Wegener, in welchem Letzterer unter anderem die verspätete Anfertigung eines impfkritischen Flugblattes mit Geldmangel erklärte. Sein Handeln auf monetäre Beweggründe zurückzuführen schien daher unwahrscheinlich. So konnten Rückschlüsse auf seine mutmaßliche Motivation gezogen werden, die bis dahin nur schwer greifbar war. Der Netzwerkzugang ermöglichte daher nicht nur einen Informationsgewinn bei der Untersuchung der Protagonisten, sondern auch einen Erkenntnisgewinn durch graphische Darstellung und qualitative Analyse der Beziehungen untereinander. Gegenüber den bisher vorliegenden Studien zur Geschichte der Impfgegnerschaft stellt der regionale Zugang ein Novum dar, da eine regionale Betrachtung die oben genannte detaillierte Analyse wichtiger Persönlichkeiten im Netzwerk mit entsprechendem Erkenntnisgewinn ermöglicht. So konnte über die Region des heutigen Hessens für den in dieser Arbeit behandelten Zeitraum eine sehr detaillierte Aussage getroffen werden. Diese Herangehensweise versprach einen Informationsgewinn über die damalige impfgegnerische Strömung in Hessen, weitere Studien müssten zeigen, inwieweit die Ergebnisse repräsentativ für andere Regionen Deutschlands oder auch darüber hinaus sind. Die Ergebnisse sind daher für einen begrenzten (Zeit-)Raum repräsentativ, da methodisch ähnlich angelegte Untersuchungen zu anderen Regionen bislang nicht vorliegen. Allerdings zeigten sich durch einen Vergleich mit der Impfgegnerschaft des 21. Jahrhunderts angesichts der völlig veränderten technischen Möglichkeiten der Kommunikation durch Internet und social media interessante Gemeinsamkeiten. Einerseits unterlag Letztere durch technische Neuerungen wie dem Internet einem klaren Wandel. Andererseits fanden sich gerade an dieser Stelle Gemeinsamkeiten, wie beispielsweise der Meinungsaustausch über soziale Plattformen wie Facebook, oder Internetforen. Durch die Verbreitung einer Meinung oder Frage in Echtzeit an tausende Gruppenmitglieder gleichzeitig übertreffen diese die Wirkkraft eines monatlichen Periodikums wie den „Impfgegner“ bei weitem. Trotzdem ist das Grundprinzip der Organisation in einem öffentlich zugänglichen Medium gleich geblieben, weswegen diesbezüglich eine gewisse Kontinuität festgestellt werden konnte. Weitere Parallelen ließen sich zwischen dem eingangs erwähnten Hugo Wegener und dem 1958 geborenen Hans Tolzin erstellen. Ein inhaltlicher Vergleich diverser Internetseiten des Letzteren ergab darüber hinaus starke Überschneidungen in Rhetorik, Öffentlichkeitsarbeit und schlussendlich auch der laienmedizinischen Perspektive. Während Wegener für seine impfkritischen Aktivitäten das Medium Buch und Periodikum nutzt, konnte für Tolzin eine hohe publizistische Aktivität im Internet festgestellt werden. Eine der größten Parallelen fand sich in Form des „Impf-reportes“, ein alle zwei Monate erscheinendes Periodikum, welches seit 2004 im Hans-Tolzin-Verlag unter seiner Leitung erscheint. Dass das Impfthema auch über 140 Jahre nach Erlass des Reichsimpfgesetzes nicht an Aktualität eingebüßt hat, konnte durch einen abschließenden Diskurs über die derzeitige Diskussion zur Verschärfung des Impfrechtes gezeigt werden. Hierzu wurde die Gesetzeslage in Deutschland mit der des europäischen Auslandes verglichen und vor dem Hintergrund aktueller Infektionsraten durch Seuchenkrankheiten behandelt; hierbei standen allerdings die Masern im Fokus - da die Pocken laut WHO seit 40 Jahren weltweit als ausgerottet gelten.


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