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DIE LEHRKUNST IN GOETHES
‘ITALIENISCHER REISE’

Eine Unterrichtseinheit
an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart
als Probe aufs Exempel

INAUGURAL-DISSERTATION
zur Erlangung der Doktorwürde
des Fachbereichs Erziehungswissenschaften
der Philipps-Universität Marburg/Lahn

vorgelegt von
HEINRICH SCHIRMER
aus Stuttgart
Marburg/Lahn 1998


Vom Fachbereich Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen am: 8. 8. 1998

Abschluß der mündlichen Prüfung am: 8. 12. 1998

Betreuer: Prof. Dr. Hans-Christoph Berg

2. Gutachter: Prof. Dr. Wolfgang Klafki


EINLEITUNG
GOETHE UND DIE LEHRKUNST
Zur Sache:

 

(1)Martin Wagenschein: Verstehen lehren. Mit einer Einführung von Hartmut von Hentig und einer Studienhilfe von Hans Christoph Berg. 10. Auflage. Weinheim und Basel 1992, S. 25.

Die vorliegende didaktische Studie trägt den Titel "Die Lehrkunst in Goethes Italienischer Reise". Es handelt sich bei dieser Darstellung um den Versuch, an Hand eines konkreten Exempels zugleich in die allgemeinen Grundlagen und Grundfragen der Lehrkunst-Didaktik einzuführen, wie es bereits Martin Wagenschein im Hinblick auf das eigene Lehren und Lernen unentwegt formuliert hatte: "Ausgeführte Beispiele sind besser als allgemeine Definitionen, denn sie führen zu den Definitionen hin.(1)"

(2) Wolfgang Klafki: Exempel hochqualifizierter Unterrichtskultur. Einführung zur Lehrkunstwerkstatt-Reihe. In: Hans Christoph Berg, Theodor Schulze (Hrsg.): Lehrkunstwerkstatt I, Didaktik in Unterrichtsexempeln. Neuwied, Kriftel, Berlin 1997, S. 14.

(3) Hans Christoph Berg, Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik. Neuwied, Kriftel, Berlin 1995.

Da sich die Lehrkunst, dieser "originäre Ansatz der zeitgenössischen Didaktik" (2)(Klafki), an den Impulsen des Didaktikers, Physikers und Physiklehrers Wagenschein orientiert, mag es historisch und sachlich nahegelegen haben, daß bislang die verschiedenen Unterrichtsprojekte, die im folgenden als ‘Lehrstücke’ bezeichnet werden sollen, aus den naturwissenschaftlichen Bereichen die Mehrzahl der universitären, schulischen und publizierten Beiträge ausmachten. In den Reigen der elf konkret dargestellten Exempel innerhalb ihres grundlegenden Buches "Lehrkunst - Lehrbuch der Didaktik" (3) haben Berg/Schulze nur ein Beispiel zur Philosophie (Ursachen, nach Willmann), eines zum Deutschunterricht (Lessings Fabeln) und je eines zur Kunstgeschichte und Geschichte aufgenommen (Poseidon vom Kap Artemision und den Gotischen Dom). Nicht zufällig enthält auch der die "Lehrkunst-Werkstatthefte" eröffnende Band I drei Lehrstücke zu naturwissenschaftlichen Fragestellungen (Beate Nölles "Pythagoras", Ueli Aeschlimanns "Barometer", Peter Ungars "Geomorphologie").

Das hier vorliegenden Lehrstück soll statt dessen als ein weiteres Exempel des geisteswissenschaftlichen Umfelds die Grundfigur der Lehrkunst-Didaktik aufgreifen, variieren und fortschreiben. Der an Wagenschein didaktisch neu geübte Blick hat sich im naturwissenschaftlichen Unterricht langjährig und vielfach bewährt, aber er ist nicht auf diesen Gegenstandsbereich angewiesen, wie es die bisher vorliegenden Versuche zu anderen Themen nachprüfbar und ermutigend bestätigen.

Goethes Italienische Reise habe ich in Anlehnung an die Form einer dramaturgisch eingerichteten Trilogie gemeinsam mit einer 12. Klasse der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart im Schuljahr 1995/96 im Deutschunterricht gelesen und erarbeitet. Der 1. Teil fand also gewissermaßen noch auf der "Probebühne" im Klassenzimmer statt. "Vor Ort", auf der "großen Bühne" einer Klassenfahrt nach Italien, haben wir im 2. Teil das Stück erprobt. Heimgekehrt, durch Vorgaben belehrt und durch eigene Erfahrungen bereichert, haben die Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit dem Lehrer in einer Art Rezension schließlich "Unsere Italienische Reise" als umfangreiches Schülerbuch (160 Seiten) ausgewertet und dokumentiert (3. Teil).

 

Zur Intention: Die nachfolgenden Kapitel erlauben einen Einblick in den gesamten didaktischen Prozeß. Sie geben vornehmlich Auskunft über Aufbau und Durchführung der schulisch ausgeführten Szenen, also den 1. und 3. Teil des Projektes, in dem vor- und nachbereitend im Unterricht am "Libretto", das heißt der Goethe-Vorlage, und an der Herstellung des eigenen Buches gearbeitet wurde. Im 2. Teil, dem Bericht des Italien-Aufenthalts, kommen überwiegend die Schüler selbst zu Wort. Ihre Zeichnungen, Fotos und Aufsätze, die durch eine repräsentative Auswahl den laufenden Text dieses Lehrkunst-Werkstattheftes illustrieren, sind dem gemeinsamen Reisetagebuch der Schüler entnommen worden.
Die erkenntnisleitende Fragestellung der gesamten Arbeit lautete, ob, wie und an welchem Beispiel es möglich sei, Goethe als Didaktiker im engeren Sinn ausweisen zu können. Ist dessen Italienische Reise Vorlage für ein Lehrstück, wie es die Lehrkunst-Didaktik versteht? Wirft diese im Grunde genommen traditionsreiche, seit einigen Jahren erst wieder neu entdeckte und letztlich "offene", unabgeschlossene Didaktik ein neues Licht auf Goethe? Und, vice versa, sollte sich diese Frage positiv beantworten lassen, wächst ihr selbst durch die Italienische Reise ein weiteres Exponat zu, an dem sich ihre eigene Gestalt und Qualität nachweisen läßt? Es geht also um "Die Lehrkunst in Goethes Italienischer Reise" und um die Reflexion über eine Unterrichtseinheit als Probe aufs Exempel.
Lehrkunst-Didaktik ist Lehrstück-Didaktik. Am einzelnen inhaltsbezogenen Beispiel soll sich exemplarisch offenbaren, was als Spiegel einen größeren theoretischen Zusammenhang reflektiert. Jedes besondere Lehrstück variiert auf seine spezifische Weise das allen zugrunde liegende Thema der allgemeinen Lehrkunst, die sich ihrerseits in dem Maße fort- und umbildet, wie ihre bewährten Exempel immer wieder neu rezensiert, dramaturgisiert und inszeniert werden.
Nun mag bereits das umfassendere Thema "Die Lehrkunst in Goethes Italienischer Reise" für den Laien einfach und bescheiden klingen, während sich der Fachmann über die vermeintliche Unbedarftheit wundert, mit der hier sehr lakonisch ein zentraler Diskurs zur Pädagogik (und Germanistik) angekündigt erscheint. Gibt es über Goethe vor dem Horizont seines 250. Geburtstages 1999 wirklich noch etwas Sagenswertes, das neu wäre? Und ist der Begriff Lehrkunst, wie ihn Comenius im Jahre 1638 prägte, noch - oder schon wieder - so bekannt, daß er nicht zunächst einmal dezidiert entwickelt werden müßte? Schließlich: Kann die Beschäftigung mit Goethe moderner Hochschul-Didaktik und gegenwärtiger Schul-Praxis ernstzunehmende Impulse vermitteln, die mehr sind als ein beredsamer Rückgriff auf eine zugestandenermaßen bedeutende Tradition?
Die Anzahl der angesprochenen Untersuchungsaspekte wird durch den Hinweis auf den besonderen Schulort, an dem das Goethesche Lehrstück der Italienischen Reise praktisch im Unterricht mit Schülern erprobt wurde, erweitert. Wie kann ihm Rahmen des Oberthemas sachgemäß auf die Waldorfschule, ihre Pädagogik und ihren Gründer Rudolf Steiner eingegangen werden, ohne daß hier durch eine verkürzte und einseitige Argumentation Verfälschungen auftreten, wie es vielleicht die Kenner dieser Materie fürchten, oder einer unangebrachten Apologetik das Wort geredet wird, wie es Kritiker unterstellen könnten?
Das Thema bündelt also wie in einem Fokus zunächst durchaus sehr unterschiedliche Wissenschafts- und Lebensbereiche. Seine Behandlung muß folglich die Möglichkeit in Rechnung stellen, daß ein einheitlicher Erkenntnisansatz der divergierenden Vertreter aus den Bereichen der wissenschaftstheoretischen Didaktik und Waldorfpädagogik, der germanistischen Goetheforschung und der Lehrkunst-Didaktik nicht vorausgesetzt werden kann. Sie muß aber gleichermaßen danach trachten, die verschiedenen Strahlen auf einen Punkt zu konzentrieren, von dem aus zumindest ihr selbstgesetztes Ziel befriedigend erhellt und vermittelt werden kann:
Dieses vorrangige Ziel ist die Exemplifikation der Italienischen Reise als Beispiel der Lehrkunst Goethes und damit als Exempel der Lehrkunst-Didaktik.
Andere, durchaus legitime und zusätzlich zu berücksichtigende Fragestellungen, die sich dem Vertreter einer jener genannten Teilbereiche bei der Lektüre des Vorliegenden darüber hinaus ergeben werden, seien zugestanden. Sie müssen aber notwendigerweise jenseits des hier Behandelten bleiben, wenn die angestrengte Untersuchung ein sinnvolles und überschaubares Ergebnis zeitigen soll. Die Komplexität des Themas hat sich zunächst einmal im Hinblick auf die Lehrkunst-Didaktik zu entfalten und zu verantworten. Vor diesem Horizont ist eine sachgemäße Beurteilung darüber, ob der Versuch gelungen ist oder nicht, mit nachvollziehbaren Argumenten zu gewinnen.
Zum Aufbau des Buches: Die Bearbeitung des Themas soll sich in vier Absätze gliedern, die sich wie konzentrische Kreise um einen stofflichen Mittelpunkt herum bilden.
Unter sachlichen wie auch kompositorischen Gesichtspunkten steht die ausführliche Dokumentation der Lehrstück-Trilogie (II. Kapitel) und ihre dreifache Entfaltung im Unterricht (II,1), auf der Klassenfahrt (II,2) und im Hinblick auf die Herstellung des Reisetagebuches mit dem Titel "Unsere Italienische Reise" (II,3) im Mittelpunkt der Untersuchung. Hier geht es um die Darstellung des schulischen Versuchs, die Italienische Reise zu "unterrichten". Am Beginn soll damit sehr bald der Blick auf den schulischen Prozeß gelenkt werden, der deutlich zu machen versucht, was wirklich stattgefunden hat und nicht nur, was theoretisch beabsichtigt worden ist. Die Lehrkunst-Didaktik möchte sich nicht durch das Proklamieren neuer Unterrichtsrezepte auszeichnen, sondern an durchgeführten Projekten messen, kritisieren und, vor allem, durch erneute Praxiserprobung verbessern lassen.
Die Kapitel I und III hüllen die Exemplifikation des konkreten Lehrstückes gewissermaßen in einen größeren Mantel ein, der die Möglichkeiten und Grenzen der Lehrkunst-Didaktik untersucht und beschreibt. Im I. Kapitel wird die vorliegende ästhetische und unterrichtliche Form der Italienischen Reise "gesichtet". Worin begründet sich ihre besondere Qualität? Läßt sie sich als ein Lehr- und Lernbuch entdecken, variieren und entwickeln? Der Blick des Literaten und Lehrers, des unbefangenen Lesers und mit der Materie noch unvertrauten Schülers steht im Vordergrund. Was läßt sich auf wenigen Seiten über die Italienische Reise im Umriß darstellen, so daß, für den Kenner erneut, für den Laien erstmalig, ein hinreichender Eindruck entsteht? Im III. Kapitel, das sich nunmehr auf den Nachweis der vermuteten und überprüften Möglichkeiten des Lehrstücks beziehen kann, dominiert der theoretische Aspekt. Jetzt wird die lehrkunstwissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Dimension unseres Themas akzentuiert und untersucht. Es gilt hierbei mit Argumenten, die über den Rahmen des konkreten Buches hinaus weisen, die Italienische Reise als ein "Meisterwerk der Lehrkunst" neu zu "gewichten" und gleichzeitig mit diesem Exempel der Lehrkunst-Didaktik insgesamt einen weiteren, geprüften Inhalt zuwachsen zu lassen, durch den sich ihre eigene Gestalt bildungstheoretisch neu beschreiben und modifiziert darstellen läßt. Vom originalen Goethe-Buch ausgehend, werden die eingeführten allgemeinen Grundbegriffe der Lehrkunst-Didaktik abgeleitet. Zug um Zug wird auf etwa siebzig Seiten konkretisiert und erläutert, was im I. Kapitel auf wenigen Seiten Hinweis bleiben mußte und im Originalwerk Goethes ca. 700 Seiten ausmacht.
Als letzte, äußere Hüllen, die sich um den didaktischen Kern (Kapitel II) und die erweiterte theoretische Schicht der Untersuchung (Kapitel I und III) herumlegen, fungieren das hinführende Einleitungs- und das abschließende Resümee-Kapitel. Aus dem anfänglich noch fragenden und allgemeinen Beschreiben des Verhältnisses von Goethe und der Lehrkunst ist ein Ergebnis erwachsen, das sich nunmehr konkret und berechtigt als "Goethes Lehrkunst" bestimmen läßt.
Zur Sprache: Wer Veröffentlichungen zur Lehrkunst-Didaktik liest, der wird neben manchen neu erscheinenden Inhalten sehr schnell einer Sprache und Darstellungsmethodik begegnen, die im Chor des gängigen wissenschaftlichen Diskurses durchaus eine eigene Stimme besitzt. Es ist deshalb bereits in der Vorbemerkung angebracht, ein paar einleitende Worte dazu zu sagen, denn in dieser Beziehung geht es insgesamt und sachlich um mehr, als nur um persönliche Auffassungen.
Hans Christoph Berg und Theodor Schulze zeichnen sich in ihren Publikationen durch einen unverkennbaren stilistischen Gestus ihrer Gedankenführung aus, der eher im Rahmen künstlerischer und kunsttheoretischer Disziplinen geläufig ist. In wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist er zwar ebenfalls bekannt und wird wohl auch bisweilen verwendet, figuriert aber insgesamt als Ausnahme. Auch Martin Wagenschein liebte es, wie Gottfried Hausmann, der zweite zu benennende Pate der Lehrkunst-Didaktik, bildhaft zu sprechen und zu schreiben. Das hat mitunter zu Kritik geführt. Was ist ihr zu entgegnen?
Keine besondere Erörterung muß meines Erachtens hierbei der eher subjektive Einwand erfahren, sofern er sich aus stilistischen Gründen gegen die Verwendung allgemein gebräuchlicher Bilder, metaphorischer Formulierungen und gängiger Redensarten wendet, die hauptsächlich illustrativen Zwecken dienen. De gustibus non est disputandum.
 

 

 

 

[4]J.W.Goethe: Einleitung zu einer allgemeinen Vergleichungslehre. In: derselbe: Naturwissenschaftliche Schriften, mit Einleitungen und Erläuterungen im Text herausgegeben von Rudolf Steiner, 5 Bände, Dornach 1975 (Fotomechanischer Nachdruck nach der Erstausgabe in "Deutsche National-Litteratur" von Joseph Kürschner, Berlin und Stuttgart o.J. (1883 - 1897), Band 5, S. 573.

 

(5) Gottfried Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts, Heidelberg 1959, S. 61.

 

 

 

 

(6)Erhard Eppler: Kavalleriepferde beim Hornsignal. Die Krise der Politik im Spiegel der Sprache, Frankfurt am Main 1992, S. 32 (edition suhrkamp).

 

 

 

(7)Vgl. Funktionen der Sprache. Arbeitstexte für den Unterricht. Hrsg. von Otto Schober, Stuttgart 1974 (reclam).

Anders liegen die Dinge, sofern sie sich objektiv aus methodologischen Voraussetzungen her verstehen. Bereits aus den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts resultiert Goethes Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre. In der Einleitung dazu lesen wir: "Wenn eine Wissenschaft zu stocken und, ohnerachtet der Bemühung vieler thätigen Menschen, nicht vom Flecke zu rücken scheint, so läßt sich bemerken, daß die Schuld oft an einer gewissen Vorstellungsart, nach welcher die Gegenstände herkömmlich betrachtet werden, an einer einmal angenommenen Terminologie liege, welchen der große Haufe sich ohne weitere Bedingung unterwirft und nachfolgt und welchen denkende Menschen selbst sich nur einzeln, und nur in einzelnen Fällen schüchtern entziehen." [4)Durch einen Blickwechsel auf einen anderen, aber vergleichbaren Gegenstandsbereich, der zunächst scheinbar nur wenig mit dem Untersuchungsobjekt selbst zu schaffen habe, lasse sich geradezu ein unvermuteter Erkenntnisgewinn erzielen. Die gewohnte Sprache und Vorstellungsart richteten dagegen, auch wenn sie unentbehrlich schienen, oft Hindernisse im Verstehensprozeß auf. Gottfried Hausmann hat diese skizzenhaft gebliebenen Anregungen für die Pädagogik konkret umgesetzt. Bereits 1959 sprach er die Prämissen der neuen strukturtheoretischen Didaktik an, die erstmals versucht habe, den Bildungsvorgang auch substantiell differenzierter auszudrücken, als das bisher der Fall gewesen sei: "Das kam aber weitgehend einem Verzicht auf die zwar streng definierten, aber inhaltsarmen Begriffe der konventionellen wissenschaftlichen Terminologie gleich. Denn es galt jetzt, die Phänomene schlicht zu beschreiben, sinnfällig zu benennen und mit gegenständlich erfüllten Begriffen zu erschließen. Zu den Kennzeichen dieses Übergangs zu konkreten phänomenologischen Analysen gehörte, daß in den weiterführenden didaktischen Untersuchungen die neuen Einsichten häufig zunächst nur in hinweisenden Vergleichen und deutenden Metaphern umschrieben wurden. Die wichtigsten neueren Untersuchungen zum Bildungsprozeß gingen von dem Fund treffender Vergleiche aus oder begannen mit einem glücklichen Griff nach aufschließenden Metaphern."[5) Hausmanns eigene metaphorische Rede, die sich der Analogien aus der Theatertheorie und Schauspielkunst bedient und damit zum Vorbild für die Lehrkunst-Didaktik geriet, wird an späterer Stelle darzustellen sein. (Vgl. Kapitel III, 2) Die bildhaft angereicherte und produktive Sprache, die auch Berg und Schulze immer wieder bemühen, um den beabsichtigten Gedanken nicht zu schnell und passiv in bestimmte, akademisch gewohnte Bahnen abgleiten zu lassen, auf denen man es mit vermeintlich klarer Wissenschaftlichkeit nicht selten eben doch nur zu Worthülsen bringt, ist ungewohnt. Aber sie gehört als Ausdrucksmittel wesentlich zur Darstellung der Lehrkunst-Didaktik hinzu. Eine "künstlerisch" verwendete Sprache trübt nicht den wissenschaftlichen Gehalt. George Orwell hat einmal die weitverbreitete Gefahr benannt, wenn fertige, vorgestanzte ‘phrases’ und die sie bedingenden Denkgewohnheiten ein Eigenleben gewinnen. Dabei sei es unerheblich, welcher wissenschaftlichen Ideologie oder anderweitigen "Weltanschauung" die jeweils verwendete Sprache diene. Dem Autor eines Pamphlets über die Situation im besetzten Deutschland attestierte er: "Seine Wörter gruppieren sich, wie Kavalleriepferde beim Hornsignal, automatisch in die gewohnte, immer gleiche Marschordnung...".[6) Und Erhard Eppler ergänzt in seiner Untersuchung über die Politikersprache, aus der das Orwell-Zitat entnommen ist: "Die Pferde wissen selber, wie sie sich aufstellen müssen, sie brauchen nur ein Signal. Sobald ein bestimmtes Thema genannt wird, stellen sich bestimmte ‘phrases’ ein, und zwar immer dieselben." Lebendigkeit und Bildhaftigkeit im Sprechen sind bei Bergs und Schulzes Didaktik, und deshalb auch in ihrer folgenden Darstellung durch mich, durchaus als ein künstlerisches Mittel verstanden, eine diskursive und fraglose Begrifflichkeit wieder "fragwürdig" werden zu lassen. Es ist wenig sinnvoll (und im übrigen auch wenig erfolgversprechend), peinlich darauf abzuheben, keine sprachlichen Tropen verwenden zu wollen. Die Frage lautet, ob die bildhaften Vergleiche stimmen? Ist das tertium comparationis zwischen Bild- und Sachhälfte verständlich, bedarf es keiner expliziten Nennung. Im übrigen ist gängige Wissenschaftssprache selbst ja auch nur eine, und nicht einmal innerhalb ihrer eigenen Grenzen allenthalben sanktionierte Metapher einer Struktur und Wirklichkeit, die sie zu bezeichnen vorgibt (W.v.Humboldt, B.L. Whorf, N. Chomsky).(7)
(8) Vgl. Karl-Heinz Braun: Was kann die pädagogische Handlungsforschung von den Diskussionen um die ‘objektive Hermeneutik’ lernen? In: Braun/Wunder: Neue Bildung. Neue Schule, a.a.O., S. 66 - 86.

(9) Vgl. Ludwig Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (1935), Frankfurt am Main 1980 (suhrkamp taschenbuch). Auch Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1973 (suhrkamp taschenbuch).

(10) Der Bogen möglicher Autorenbeispiele läßt sich im ersteren Fall mühelos von Jean Paul und Pestalozzi bis zu Wagenschein und Ivan Illich, im zweiten von Diderot und Schopenhauer bis zu Wittgenstein,Hans Blumenberg und Odo Marquard spannen.

(11)Vgl. Hans Scheuerl: Über Analogien und Bilder im pädagogischen Denken. In: Andereas Flitner,Hans Scheuerl: Einführung in pädagogisches Sehen und Denken, München 1967, S. 322 - 333.

Hinter hermeneutischen, methodologischen und historischen Dimensionen von Sprachverwendung verbergen sich letztlich erkenntnistheoretische Fragestellungen. (8) Ihnen kritisch nachzugehen, würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Ihnen andererseits unkritisch nachzugeben, besteht kein Grund. (9) Die hier verwendete Sprache, die sich an eine wissenschaftliche und dennoch lesbare Rezeption wendet, bevorzugt deshalb bewußt einen gängigen Ausdruck vor einem theoretisch womöglich als exakter empfundenen. Das flüssige, wenn auch ungebräuchliche Wort wird der sperrigen, wenn auch erwarteten Vokabel vorgezogen. Die bildhafte, veranschaulichende Formulierung tritt immer dann auf, wenn die theoretische Diktion den Verstehensprozeß ermüdet. Sie will nicht Erkenntnis vorspiegeln oder verschleiern, sondern bei Bedarf im Sinn der hermeneutischen Mäeutik des Sokrates Hindernisse überhaupt erst bewußt machen und anschließend ausräumen. Den schmalen, authentischen und lesbaren Grat zwischen inhaltsarmen Begriffen konventioneller wissenschaftlicher Terminologie und einem bildhaften, aber hoffentlich im Gehalt unverfälschten Gedanken- und Schreibstil nicht zu verfehlen, kann nur der sicher sein, der ihn von vornherein zu beschreiten unterläßt. Die Darstellung der Lehrkunst-Didaktik geht nicht allein in inhaltlicher Beziehung einen mittleren Weg zwischen bildungstheoretischen und lerntheoretischen Ansätzen, sondern vermittelt auch in sprachlicher Weise zwischen verbaler Rationalisierbarkeit und erfüllter, bildhafter Begrifflichkeit. Die vielfache und schöpferische Verwendung von Analogien und Bildern im pädagogischen und philosophischen Denken, (10) sofern sie die Sache wirklich zu erhellen vermag, jedenfalls ist alt und beliebt. (11) Wer ohne Rücksicht auf den jeweils besonderen und stets unterschiedlichen Erkenntnisgegenstand immer wieder dasselbe formale Vokabular bemüht wissen will, ist ebenso wenig schon "wissenschaftlich" wie der, der nur Befriedigung erlangt, wenn eine bestimmte inhaltliche und sanktionierte Nomenklatur Verwendung findet. Wissenschaftliche Sprache und ihr Untersuchungsgegenstand stehen nicht in einem beliebigen Verhältnis zueinander, das ist richtig. Aber ihre historisch und systematisch bedingte Relation ist immer dann frei und eigenständig gestaltbar, wenn sie vom Schreibenden reflektiert und vom Lesenden durchleuchtet werden kann. Die Stringenz und Logik der Argumentation im wissenschaftlichen Diskurs darf nicht durch eine metaphorische Begrifflichkeit in Frage gestellt werden. Das ist unbestritten. Aber Schönheit und Wahrheit, Kunst und Wissenschaft sind miteinander in eine fruchtbare vergleichende Beziehung zu setzen.

Was ist Lehrkunst?

(12) Hans Christoph Berg, Theodor Schulze: Lehrkunst, a.a.O., S. 17.

 

 

 

 

 

 

 

(13) Wolfgang Klafki: Exempel hochqualifizierter Unterrichtskultur. a.a.O., S. 18.

Der Begriff "Lehrkunst" ist im Kontext der gegenwärtigen Didaktik-Diskussion nicht unbekannt, aber keineswegs geläufig. Vor allem zwei Gründe dürften dafür verantwortlich sein, daß er ein gewisses "Erstaunen oder Befremden hervorrufen, möglicherweise auch Irritierung oder Abwehr" (12) erzeugen könnte. Zum einen gilt er als alt - und damit auch vielfach als veraltet und unzeitgemäß. Schon Comenius eröffnete schließlich 1638 seine Große Didaktik mit den Worten: "Liebe Leser, seid gegrüßt! Didaktik heißt Lehrkunst." Was, so wird gefragt, könnte also eine traditionsreiche, aber letztlich wohl überholte Lehrkunst in einer komplexen Wirklichkeit des schulischen Lehrens und Lernens, wie sie heute vorhanden ist, an innovativer Potenz entbinden? Zum zweiten wird die enge Wortverbindung von Lehre und Kunst mißtrauisch betrachtet. Lehren gilt als ein empirisches, wissenschaftliches Verfahren, das rationalen Methoden, intersubjektiven Regeln und operationalisierbaren Ergebnissen verpflichtet ist. Der Kunst ist dagegen zugestanden, daß sie subjektiv, ja willkürlich sein darf, da ihr kein Erkenntniswert abverlangt wird. Das Lehren ist ein Kind der Logik, die Kunst eine Tochter der Ästhetik. Wolfgang Klafki hat deshalb recht, wenn er einschränkt, daß der Kunst-Begriff in diesem Rahmen nicht im engen Sinne gemeint sein könne, "nämlich im Bezug auf ‘künstlerische’, ‘ästhetische’ Tätigkeiten und Werke als einer eigenständigen Dimension kulturellen Schaffens sowie auf die wahrnehmende Auseinandersetzung mit Kunstwerken bildnerischer, filmischer, tänzerischer, musikalischer, sprachlicher Art oder der ‘produktiven Reproduktion’ solcher Werke in Form von ‘Vorführungen’, ‘Aufführungen’, ‘Konzerten’ o.ä. ‘Kunst’ im Sinne der ‘Lehrkunstdidaktik’ ist zunächst als Bezeichnung eines bestimmten Könnens gemeint, analog zur Rede von der ‘Kunstfertigkeit’ eines Tischlers oder eines Kochs oder einer Schneiderin." (13) Wie sich aber luftige Stratusstreifen zu Cumuluswolken zusammenballen, wie Cirrus- und Nimbusformen entstehen und nur erkennbar sind, indem sich Unbestimmtes zu Bestimmten schafft (Goethe: "Howards Ehrengedächtnis"), so bewirkt das Kompositum von Lehre und Kunst eine produktive Polarität, die gedanklich wieder in Bewegung überführt werden muß. Die vermeintliche Unschärferelation der Begriffsbestimmung fördert und erfordert gleichermaßen im Reflexions-, oder sagen wir treffender, im Produktionsprozeß der lehrkunstdidaktischen Zusammenhänge einen hohen Grad an Bewußtheit, wenn die Voraussetzungen und Ergebnisse des Handelns nachvollziehbar werden sollen.
 

 

(14) Hans Christoph Berg: Schöpferisch lehren lernen. In: Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft, 3O. Jahrgang, Heft 1, Januar,Februar,März 199O, S. 6

(15) ebenda

(16) Zitiert nach: Ludwig Reiners, Stilkunst, a.a. O., S. 274.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(17) Gottfried Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts, a.a.O., S. 103.

Mögen uns Begriff und Gestalt der Lehrkunst zunächst durchaus unvertraut erscheinen, finden sich in ihr doch vielfältige Elemente und Gedanken einer langen pädagogischen Tradition und künstlerischen Dimension. Die Klassiker der Pädagogik von Comenius bis Otto Willmann waren ausnahmslos Kenner dieses Zusammenhangs von Lehre, Bildung und Phantasie. Die Regeln ihrer Lehrkunst, die sie allgemeindidaktisch postulierten, leiteten sie stets von selbst verfaßten Lehrkunst-Stücken ab oder exemplifizierten sie in ihnen. Die Große Didaktik des Comenius und sein orbis pictus sind aus einem Holz geschnitzt. "Halten wir als erste Bemerkung fest: die Klassiker der Didaktik haben schöpferisch gelehrt," so die Grundthese Bergs. (14) Aber, so führt er den Gedankengang fort: "die Klassiker der Didaktik haben auch schöpferisch gelernt." (15) Augenmaß und Richtschnur ihrer eigenen didaktischen Forschung und Lehre waren bewährte Vorbilder aus der Kultur, Prüfsteine und Herausforderungen, an denen sie sich bildeten. Diesen Zusammenhang hatte wohl auch Schopenhauer im Sinn, wenn er schrieb: "Die Werke der Alten sind der Nordstern für jedes künstlerische oder literarische Streben: geht der euch unter, so seid ihr verloren!" (16) Die Methode des eigenen Lernens, des Weiterführens und Umdichtens in neue Lehrkunststücke hat Tradition. Die Lehrkunst , so Bergs dritte Bemerkung, ist deshalb keine exotische Frucht am Baum der Didaktik, sie "ist seit Jahrhunderten ein einheimischer Begriff der Pädagogik." (ebenda). Neu ist also weniger die Lehrkunst selbst, als ihre Wiederentdeckung und Evaluation für die gegenwärtige didaktische Lehre und Forschung. Nur anfänglich dürften dabei bestimmte Fachbegriffe fremd klingen, die ebenfalls ihre Anlehnung an bereits vorhandene Termini anderer Wissenschafts- und Kunstbereiche nicht verleugnen, wenngleich sie die im ursprünglichen Kontext stehenden Bedeutungen bewußt variieren. So wird zu klären sein, was ein "Lehrstück" ist, welche Rolle dem "Traditionsstrom" zukommt, oder was die Vokabeln "Lehridee" und "didaktische Fabel" bezeichnen? (Vgl. Kapitel III) Generell dürfte die bildhafte Sprache, die verwendet wird und sich stark an Kategorien der Dichtungswissenschaft orientiert, ungewohnt empfunden werden. Der Leser nimmt zur Kenntnis, daß im didaktischen Rahmen von Inszenierungen die Rede ist, daß Skizzen, Regeln, Zwischenspiele, Meisterstücke oder Requisiten als Analogien zur Theatersphäre benannt sind. Das alles ist keineswegs neu. Im Gegenteil. Schon Hausmanns Erörterungen liefen, durch eine Fülle empirischer Nachweise eindrucksvoll untermauert, auf gewisse Entsprechungen hinaus, "die zwischen den Grundformen der Bildung und Lehrhaltung einerseits und den Grundformen der Dichtung andererseits bestehen. Dabei erwiesen sich zunächst die Gattungsformeln der Poetik als Katalysatoren für die analogen Strukturprobleme in der Didaktik, deren Beziehbarkeit auf die Grundvermögen der Sprache und die fundamentalen Möglichkeiten des menschlichen Daseins überhaupt z. T. bestätigt, z. T. aber auch allererst ansichtig wurde. Die eigentümliche Sonderstellung des Dramatischen stützte dann des weiteren die Vermutung, daß das Moment des Dramatischen eine zumindest ausnahmsweise wichtige, wenn nicht gar die letztlich entscheidende Bedingung des Bildungsgeschens darstelle." (17)
 

 

(18) Vgl. Wolfgang Klafki: Exempel hochqualifizierter Unterrichtskultur. a.a.O.

Einleitend und vorläufig mag es genügen, wenn wir den Begriff der Lehrkunst-Didaktik mit wenigen kurzen Hinweisen umschreiben, die im weiteren Verlauf der Arbeit ausführlich und konkret entwickelt werden sollen. Klafki hat sein Verständnis der Lehrkunst-Didaktik in sieben Hauptcharakteristika zusammengefaßt. (18) Walter Dörfler macht in seiner Dissertation über "Die Nürnberger St. Lorenzkirche im genetisch-exemplarischen Unterricht" darauf aufmerksam, daß Berg und Schulze in ihrer grundlegenden Veröffentlichung zur Lehrkunst-Didaktik (1995) selbst durchaus unterschiedliche Konturen des Lehrkunstansatzes offenbarten. Idealtypisch ließen sich aber für ihn sechs Gemeinsamkeiten als grundlegende Bestimmungen nachweisen. Wenn wir kompilieren, was Berg und Schulze, Klafki und Dörfler thematisieren, so ergeben sich uns vier Aspekte:
 

(19) Walter Dörfler: Lehrkunstdidaktik in fünf plus eins Merkmalen. In: Marburger Lehrkunst-Werkstattbriefe, Herbst 1997, S. 18.

1. Die Lehrkunst-Didaktik ist der Bildungsdidaktik verpflichtet. Über die inhärente Bildungsvorstellung wird aber nicht abstrakt reflektiert, sie wird in den Lehrstücken implizit verdeutlicht. "Besonders sichtbar wird das in der Anlehnung an den Wagenscheinschen Begriff der Funktionsziele eines Faches." (19) Lernen ist hierbei ein umfassenderer Vorgang als nur die Aufnahme von Informationen. Für Klafki ist der in Rede stehende Bildungsbegriff prinzipiell bisher noch zu unsystematisch definiert worden, einzelne Bestimmungsmomente kämen aber "mit hoher Gewichtung zur Sprache." (Klafki: Exempel. a.a.O, S.17)
2. Die Lehrkunst-Didaktik ist inhaltszentriert. Sie geht von der Praxis lernenswerter Inhalte aus, die sich innerhalb einer thematischen Unterrichtseinheit von mittlerer Reichweite (etwa 10 - 20 Stunden) an "Lehrstücken" erschließen lassen. Diese "besonderen" Stücke sollten "Knotenpunkte" verschiedener thematischer Stränge aufweisen, in denen eine Verdichtung stattfindet und ablesbar wird. Diese "Verdichtung" bestimmter Themen darf aber nicht zufällig auftreten, sie muß durch eine Vorlage, eben das Lehrstück, vorbereitet sein. Lehrstücke finden sich oft nicht in Schulbüchern oder Lehrplänen, sondern bei Künstlern oder Wissenschaftlern. Die Lehrkunst-Didaktik "weist die Deduktionen der traditionellen Bildungsdidaktik, die stets im Abstrakten steckenblieben, zurück. Sie stellt fest, daß Didaktik weitgehend Formaldidaktik geblieben ist." (Dörfler, a.a.O) Lehrstücke sollten deshalb, so Schulze, eigentlich "Lernstücke" heißen.
3. Lehrkunst-Didaktik ist auch Wagenschein-Didaktik und will generell einen "anderen Blick" einüben, nicht vornehmlich Methoden erstellen oder Interaktionen anregen. In Anlehnung an Wagenscheins Methoden-Trias des genetisch-exemplarisch-sokratischen Lernens praktiziert sie konkret die "Entdeckung der Langsamkeit". Genetisch ist sie insofern, daß sie ein solides und vertieftes Verstehen entwickeln will und Schritt um Schritt der Weg gegangen werden kann, der schließlich zum Ziel führt. Exemplarisch hat sie zu sein, weil sich nur in der Konzentration auf ein ausgewähltes Thema das Umfassende und Ganze eines größeren Zusammenhangs dokumentieren kann. "Exemplarisch ist ein Lehrgang, wenn ein erstaunliches und möglichst alltägliches Phänomen die Fragequelle ist und bleibt, und wenn die Antworten in die Weite der Welt und in die Tiefe der Philosophie führen." (Berg, Schulze: Lehrkunst, S. 356) Sokratisch ist Wagenscheins Methodik schließlich, weil sie wie eine lästige Stechmücke Schein-Wissen entlarvt und Halb-Verstandenes kritisch in Frage stellt. Sie führt den Lernenden in Aporien, nicht, um sich an seiner Ohnmacht zu weiden, sondern um in ihm ein Bewußtsein für den tatsächlichen Zusammenhang zu erzeugen. Wie eine Hebamme will sie dazu verhelfen, daß im Schüler selbst etwas Neues zur Welt kommen kann. Da der historische Sokrates durch seine Art des "Herausfragens" allerdings meist die erwarteten Antworten bereits vorprogrammierte, trifft es zu, wenn Klafki in diesem Punkt konkretisiert: "Die in der Lehrkunstdidaktik gemeinte Bedeutung des ‘sokratischen Fragens’ folgt der Intention, nicht jener Realisierungsform der Gesprächsführung des platonischen Sokrates." (Klafki: Exempel, a.a.O., S. 29.) Dörfler ist zuzustimmen, daß die hier geschilderte Wagenscheindidaktik nicht identisch mit der Lehrkunst-Didaktik ist. "Sie baut darauf auf, will und muß sich dazu auch gelegentlich von einer zu dogmatischen Anwendung dieser Grundlagen lösen." (Dörfler: Marburger Lehrkunst-Werkstattbriefe, S. 20)
4. Lehrkunst-Didaktik ist eine dramaturgische Didaktik, d.h. daß das zu bearbeitende Thema ähnlich wie ein Schauspiel gestaltet und inszeniert werden sollte. Sie untersucht die Möglichkeiten, wie ein lernenswerter Inhalt in eine Folge von Handlungen umgesetzt wird und wie diese dann gewissermaßen als Akte und Szenen von den Schülerinnen und Schülern im Unterricht realisiert werden. Es geht wie im Theater um eine Exposition des Themas, um das erregende Moment, um Krisis und Katharsis.

Einspruch und Zuspruch:

(20) Vgl. zum Prozeß der Diskussion z.B.: Gerd Heursen (Hrsg.) Didaktik im Umbruch, Forum Academicum 1984; Wolfgang Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim 2/1991, S. 70/71; Gundel Mattenklott, in: Die Grundschulzeitschrift 67/1993, S. 17 - 19.; Michael Fuchs, in: Beiträge zur Lehrerbildung 3/94; Wörterbuch Schulpädagogik (Hrsg. Keck, Sandfuchs), Bad Heilbrunn 1994 (Stichwort: Lehrkunst); Heinrich Schirmer, in: Erziehungskunst 5/Mai 1994; Ewald Terhart, in: Die Deutsche Schule. 1995, H.4; Herbert Gudjons, in: Pädagogisches Grundwissen, 4. Aufl., 1995; Ulrike Lorenz, in: Schulmagazin 5 bis 10, 12/1995; Hibernia-Jahrbuch 1995; Gerd Heursen, in PÄDAGOGIK 1/96; derselbe, in: PÄDAGOGIK 3/96;

 

 

(21) Neue Sammlung, ebenda, S. 154/5.

 

 

(22) Wolfgang Klafki: Eine Anmerkung zur Lehrkunstdidaktik, in: Marburger Lehrkunstbriefe, hrsg. von Hans Christoph Berg und Theodor Schulze; Marburg im Herbst 1994, S. 61.

 

 

 

 

(23) Neue Sammlung, ebenda, S. 150.

Ein derartiges Ansinnen, Sprache, Geist und Gehalt der Pädagogik künstlerisch-dramaturgisch zu reformieren, wurde und wird in einer Situation der Bildungsdidaktik und Lerndidaktik, die laut Berg "unkritisch der herrschenden Schulwirklichkeit zu nah und folglich den Klassikern der Pädagogik zu fern" (Berg: Suchlinien, S. 143) stehe, nicht gern gehört. Wer es wagt, die modern und lückenlos ausgebaut erscheinende Feste der didaktischen Burg mit alten Liedern zu umstreichen, um die pädagogische Muse mit dem Geist der Lehrkunst zu neuem Leben zu erwecken, hatte in den letzten Jahren noch viel Feind und wenig Ehr. Und doch hat sich die kritische Diskussion über die Lehrkunst-Didaktik, vor allem nach Erscheinen des zentralen Berg/Schulze-Bandes "Lehrkunst - Lehrbuch der Didaktik" differenziert. Was anfänglich noch heftig hinterfragt worden ist, wird allmählich und sinnvollerweise immer mehr als Bereicherung, Ergänzung oder gar als Anregung für das eigene didaktische Forschen aufgegriffen.(20). Bergs Versuch, gültige Lehrkunst-Stücke neu zu beleben, wird von Theodor Schulze begrüßt und ausdrücklich mitgetragen, aber selbst er schränkte anfänglich noch ein, daß einige Beispiele tatsächlich eher nostalgisch zu nennen seien. Sie hätten eine gewisse Patina (Schulze, S.152) angesetzt. Rudolf Messner sieht die Aufgabe darin, daß Schule in Zukunft ganz andere Formen zu entwickeln hätte, um zeitbedingte Schlüsselprobleme zu lösen, die mit alten Mitteln nicht mehr zu bearbeiten seien. Er hält das für vorrangig, "da die ältere Generation u.U. nicht mehr in der Lage sei, der jüngeren die Welt zu ‘vermitteln’, was immer eine patriarchale Komponente enthalte. Möglicherweise kehre sich das Verhältnis statt dessen teilweise um, indem das Aufgreifen der Sensibilität der jüngeren Generation für bestimmte Probleme Ausgangspunkt für Lernen werde. Lehrkunstdidaktik sei für ihn nur in Spannung zum Normalunterricht zu denken, den Schule auch benötige." (21) Wolfgang Klafki schließlich verteidigte bestehendes Terrain mit schärferen Waffen. Lehrkunstdidaktik stände in Gefahr, zu einer Feiertagsdidaktik (ebenda, S. 149) auszuarten. Sie sei, in Opposition zu seinen eigenen Ansätzen und denen von Heimann/Otto/Schulz, für die schlichte Schule unbrauchbar, attraktiv vielleicht, aber elitär. "Den Kritiken und Abgrenzungen Bergs gegenüber etlichen Beiträgen zur Didaktik der letzten zwei bis drei Jahrzehnte vermag ich allerdings nur begrenzt, z.T. gar nicht zu folgen." (22) Klafki wendet sich darüber hinaus gegen den Primat der Praxis gegenüber der Theorie. Und schließlich vermißt er bei Berg eine klare, begriffliche Rationalität und Sprache, um die Relation vom Allgemeinen (Didaktik) zum Besonderen (dem Exempel) deutlich zu machen. Im publizierten und zusammenfassenden Protokoll des Gespräches vom Mai 1989, dem die hier entnommenen unterschiedlichen Positionen entstammen, das als ein relativ frühes Dokument für die Diskussion um den Lehrkunst-Begriff zu behandeln ist und dessen gegenwärtige Relevanz von allen Beteiligten einer sorgfältigen und kritischen Prüfung oder Revision unterzogen wird, führte Klafki immerhin noch aus: "Klafki (direkt zu Berg): Die entscheidende Schwäche bei Wagenschein und bisweilen auch bei Ihren Auslegungen und ein Hindernis für deren Akzeptanz scheint mir das Reden in Bildern und Vergleichen als ein sehr starker Strang der Argumentationsebene zu sein. Diese Analogien sind alle irgendwo erhellend und sie setzen einem auch neue Lichter auf, aber sie sind ebenso oft gefährlich." (23) Klafkis Kritik der bildhaften "Lehrkunst-Sprache" schien grundlegend. Sie war aus den damaligen Voraussetzungen der durchaus divergierenden didaktischen Wissenschaftsansätze als epistemologischer Einwand naheliegend und verständlich. Der Weiterentwicklung der Lehrkunst-Didaktik hat sein Einspruch und Zuspruch geholfen. Spätestens aber seit Erscheinen des "Lehrkunst"-Buches hat sich die Situation beiderseitig gewandelt. Klafkis Akzent der Beurteilung hat sich den freieren Blick eröffnet, die Abweichungen zum eigenen Ansatz zwar weiterhin festzuhalten, aber das Innovative der Lehrkunst-Didaktik deutlicher herauszustreichen und kritisch zu befördern. Seine Einführung zur Lehrkunstwerkstatt-Reihe, wie sie in Band 1 nachzulesen ist, verrät eine gediegene und kompetente Evaluation der in Rede stehenden Zusammenhänge, die nun ihrerseits auf die Lehrkunst-Vertreter in Schule und Hochschule einwirken dürfte. Die Lehrkunst-Didaktik ruft heute im Hinblick darauf, daß sie weiterhin vermeintlich ungewöhnliche, beliebige, extravagante und letztlich auch obsolete Exempel bereitstellte, kaum noch einen grundsätzlichen "wissenschaftlichen" Einwand hervor. Irritierender wirkt nach wie vor ihr eigener ausgesprochener oder jedenfalls impliziter Anspruch darauf, auch wissenschaftsmethodisch in starker Anlehnung an künstlerisch-ästhetische Kategorien einen genuinen Erkenntnisprozeß zu eröffnen, der sich im Hinblick auf seine didaktische und sprachliche Genese der Ausschließlichkeit des gängigen rationalen Diskurses nicht widerspruchslos angleicht. So begrüßt Klafki Schulzes Ausführungen ausdrücklich als ein "‘Kleines Handbuch der Lehrstück-Dramaturgie’ von hoher theoretischer und praktischer Qualität" (Klafki, Lehrkunstwerkstatt-Heft 1) vor allem deshalb, weil, im Gegensatz zu Hausmann, nirgends "Isomorphien" (Gleichförmigkeiten) von Dramaturgie und Didaktik behauptet würden, sondern daß vielmehr "der Dramaturgie entlehnte Kategorien auf die besonderen Aufgaben und Bedingungen eines Unterrichts, in dem bildendes, Selbsttätigkeit anregendes und förderndes Lernen ermöglicht werden soll, übersetzt, mehr noch, transformiert werden müssen, wenn sie nicht in die Irre führen sollen, theoretisch wie praktisch" (Klafki, ebenda). Den Hinweisen Klafkis, die naturgemäß komplexer und differenzierter sind, als daß sie hier referiert werden könnten, soll dabei aber in einer Weise Rechnung getragen werden, daß durch die am konkreten Beispiel der Italienischen Reise ausführlich begründete und entwickelte Lehrkunst-Präsentation selbst und die Art, wie über sie reflektiert wird, eine berechtigte Urteilsgrundlage zur Weiterführung des entstandenen Dialogs geschaffen wird. Unsere Darstellung sei damit eher einer narrativen, denn einer diskursiven Vorgehensweise verglichen. Ein kritischer Diskurs grundsätzlicher und theoretischer Art ist in unserem thematisch und publizistisch gesteckten Rahmen nicht beabsichtigt.
Es ist in jedem Fall nicht mehr zu bestreiten, daß eine neue Lehrkunst-Didaktik erste Früchte in Unterricht, Schule und Lehrerausbildung vorweisen kann. Die Herausforderung, die sie an bestehende pädagogogisch-didaktische Modelle, Theoreme und Einrichtungen stellt, könnte immerhin auch von diesen als Ergänzung ihres eigenen Denken und Tuns gesehen werden oder als Widerpart dienen, das geistige Fundament der selbständigen Position neu zu überprüfen und, wo nötig, zu verändern. Kein Architekt, Kunstwissenschaftler und Theologe wird die mächtige und in sich stimmige geistige und bauliche Konzeption bzw. Funktion mittelalterlicher Kathedralen dadurch in Frage gestellt sehen, daß er unter Umständen im Detail Fresken verändern oder erneuern läßt, hier eine Säule vervollkommnet wissen will und dort eine Plastik im Chorraum aufzustellen wünscht. Daß die hinzu gebrachten Artefakte freilich in sich künstlerisch geschlossen und meisterhaft ausgeführt sein sollten, das wäre die Voraussetzung dafür, um sie in einen vorgegebenen Gesamtrahmen einzubilden. Hier scheinen, um die Bildebenen zu wechseln, Möglichkeiten und Begrenzungen der Lehrkunst-Didaktik zu liegen. Mit dem einzelnen Werk- sprich Lehrstück hat sie sich zu legitimieren. Den pädagogischen Gesamtrahmen unterschiedlicher Schul- und Hochschulansätze nimmt sie auf und paßt sich ihm an. Lehrkunst-Didaktik ist auch Schuldidaktik. Sie muß sich, ihren Befürwortern und Kritikern zum Trotz, in der Hochschul- und Schulpraxis bewähren. Ihre Aufgabe ist es, die empirische Erhellung des dialektischen Zusammenhangs von pädagogischer Praxis und didaktischer Theorie voranzutreiben sowie die Erprobung alter und die Erfindung neuer Lehrkunst-Stücke anzuregen.

Vom Flammensprung: In Berg/Schulzes Lehrkunst-Buch (1995) stellt Eberhard Theophel sein Lehrstück vor, das auch bei einer wiederholten Lektüre den mit dem Inhalt allmählich schon vertraut gewordenen Leser immer wieder neu beglücken kann. Es handelt sich um die exemplarische Einführung in die Chemie (in diesem Fall in einer 9. Klasse der Kestner-Gesamtschule in Wetzlar) und in die Lehrkunst-Didaktik, ausgehend von Faradays 1860/1861 gehaltenen Vorlesungen über die "Naturgeschichte einer Kerze". Schon Wagenschein war bei Faraday fündig geworden, denn in dessen Vorlesungen "strahlen die physikalischen (und auch chemischen) Erfahrungen aus von einem einzigen Ding...Noch dazu ist dieses Ding eine Kerze: Sie zieht die Blicke an, sie macht die Augen rund und sammelt die Köpfe um sich, sie erregt das Nachdenken in ihnen auf eine eigentümliche sanfte Weise und beschenkt uns mit Verbindungen zur ganzen Physik (des Vordergrunds). Faradays ‘Kerze’ sollte jeder Lehrer kennen! Was alles in ihr steckt!" (Berg, Schulze: Lehrkunst, S. 286) Aus der ruhigen Betrachtung des Kerzenlichts führen Faraday 1860, Wagenschein 1962 und Theophel 1995 den staunenden Leser, und vorab gewiß die nicht minder erstaunten Gesamtschüler, wie selbstverständlich und mit sicherem Geleit durch die Gebiete der Chemie: Verbrennung, Flammensprung, Physik: Aggregatszustände, ihre Umwandlung durch die Wärme, Kapillarkräfte im Docht, Kerzenqualm und Flammengase, Auftrieb, Luftdruck, Optik. Die Kerze führt aber nicht nur in die Physik hinein, sie führt auch wieder heraus, denn sie ist kein Ding, sondern wie der Fluß, der Wind oder die Wolke ein Prozeß. "Aber auch der Organismus, ‘wir selbst’, unsere Körper sind nicht ‘Körper’, sondern Prozesse. - Dabei aber ist die Kerze kein biologischer Prozeß. Denn sie kann vieles nicht, was die Organismen können. Das Entscheidende kann sie nicht. - So ist die Kerze auch insofern eine Leuchte, als sie uns hineinführt in die Physik und wieder hinaus." (Wagenschein, in: Berg, Schulze: Lehrkunst, S. 287)
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(24) Vgl. Adolf Diesterweg: Goethe als Vorbild für Lehrer. (Ein Vortrag). In: derselbe: Schriften und Reden in zwei Bänden, Berlin, Leipzig 1950. Band 2, S. 186 - 200.

Angesteckt durch das erhellende und erwärmende Licht dieses naturwissenschaftlich ausgerichteten Lehrstücks mit dessen klar umrissenen Gegenstand sprang die Flamme des didaktischen Fragens über: Läßt sich im Literaturunterricht an einem einzelnen, ausgewählten Beispiel ein ähnlich umfassender Inhalt erschließen? Gibt es ein Buch, von dem aus mannigfache Stränge in die verschiedensten Lebens-, Wissens- und Forschungsbereiche führen, das "interdisziplinär" ist und das schließlich sogar über sich selbst zurück zum Leser weist, der sich ursprünglich recht arglos in das fremde Thema verloren hatte? In Bergs "Suchlinien" (1993) fand sich der Hinweis auf Goethes Italienische Reise (a.a.O., S. 25) und dessen Gedichtszyklus des "West-östlichen Divans" (a.a.O., S. 58). Unterrichtlich erprobt und didaktisch eingerichtet waren beide Werke bisher aber nicht. Nun galt es, die Probe zu machen. Und tatsächlich, das Staunen begann. Was "steckte" nicht alles in der Italienischen Reise : Ein neuer Blick auf Goethes Biographie, auf seine verschiedenen Reisen, auf die Literaturgeschichte und die Entstehung der deutschen Klassik, auf das Reisen der Menschen allgemein, auf Reisebeschreibungen der verschiedenen Zeiten, auf das Sehnsuchtsland Italien, auf Kunst, Wissenschaft, Sprache, Kultur, Geschichte, auf die Entstehung des Entwicklungsgedankens in der Biologie und des Bildungsgedankens in der abendländischen Kultur. Auch dieses eine Buch macht die Augen rund und sammelt die Köpfe um sich. "Siebenmal haben wir das Venedig-Kapitel der ‘Italienischen Reise’ gelesen. An jedem Morgen sah ich es aber mit anderen Augen an und entdeckte durch die veränderte Fragestellung immer etwas Neues. Irre!", meinte eine Schülerin, als wir auf die Arbeit mit dem Buch zurückblickten. "Irre" war diese Erfahrung gewiß nicht, viel eher typisch und aufschlußreich, denn, was das Wichtigste ist: Das Werk gibt selbst die Methoden an, nach denen es erschlossen werden will. So wie die Kerze selbst den Betrachter lehrt, wie er vorzugehen habe, um sie in umfassender Weise verstehen zu können, so gibt auch Goethes Buch konkrete Anregungen und eine Fülle vorbildhafter Übungen zum Verständnis der Welt und zur anfänglichen Erkenntnis der eigenen Person. Adolf Diesterweg hatte, bewußt von der Italienischen Reise ausgehend, gewiß nicht zufällig, "Goethe als Vorbild für Lehrer" entdecken wollen. (24) Es scheint uns indes im Hinblick auf den schulischen Unterricht und auf die Lehrkunst-Didaktik heute noch zu früh dafür zu sein, um aussprechen zu können, was wir aber gern in zehn Jahren einmal sagen würden, wenn sich das vorliegende Lehrstück durch mehrere "Aufführungen" und durch andere Kollegenversuche verbessert haben wird: Goethes Italienische Reise sollte jeder Lehrer kennen! Sie ist die Kerze des Literaturunterrichts.

Die fröhliche Wissenschaft:

 

(25) Zitiert nach Ludwig Reiners: Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa, München 1971, S. 500.

 

(26) Vgl. das Literaturverzeichnis im Anhang..

Nach allem, was wir einleitend dargestellt haben, hätte der Autor der vorliegenden didaktisch orientierten Arbeit, dem Thema entsprechend, auch lehrend zu zeigen, was er selbst an der Lehrkunst gelernt hat. Der Didacticus Doctus Goethe hatte dieses Unterfangen bereits vorbildhaft beschrieben:"Lehrbücher sollen anlockend sein. Das werden sie nur, wenn sie die heiterste und zugänglichste Seite der Wissenschaften darbieten." (25) Dessen pädagogische Dimension soll also nicht ein weiteres Mal abstrakt, formal und allgemein proklamiert werden, so, als könne man über sie nur angemessen sprechen, wenn ihr geistiger Gehalt möglichst im Unbestimmten verbleibe. Sie soll als Sache konkret anschaubar sein, als stofflicher Reiz übersichtlich und in sich abgerundet. An ihren Früchten sei Goethes Lehrkunst zu erkennen. Nicht Goethe, der Pädagoge, ist Thema dieser Untersuchung, nicht Goethe, der Erzieher, oder Goethe, der Mentor. Das alles ist vielfach untersucht worden (26). Wenn diese Dimensionen auch hier im folgenden zur Sprache kommen müssen, so doch nur, um sie abzugrenzen gegenüber dem eigentlichen Erkenntnisinteresse. Das aber orientiert sich eindeutig an Goethe, dem Lehrkunst-Didaktiker.


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